»Letztes Residuum der freiheitlichen Anstrengung scheint heute, wie schon oft in der Vergangenheit, die Kunst und das mit ihr verbündete Denken zu sein. Doch sollte sich keiner der Illusion überantworten, die Kunst sei frei. Der Kulturbetrieb, dem sie ausgeliefert ist, regrediert sie, wo immer möglich. Die Aporien der Gesellschaft sind jeweils auch die ihrigen.« Der zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser »Reflexionen« über seine Arbeit 30-jährige Autor war Teil des überaus lebendigen, transdisziplinären Avantgarde-Laboratoriums, als das sich das Rheinland um 1960 darstellte. Zu den Treffpunkten junger Künstler und Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Nam June Paik und Gottfried Michael Koenig zählte die Düsseldorfer Galerie 22 von Jean-Pierre Wilhelm, der dort informelle Malerei ausstellte, später das Atelier der Künstlerin Mary Bauermeister in Köln, wo legendäre Konzerte und Performances wie ein Gegen-Festival zu den Kölner Weltmusiktagen 1960 stattfanden. Das elektronische Studio des Westdeutschen Rundfunks übte eine große Anziehung auf Komponisten aus, und in der Kölner Wohnung von Hans G Helms traf sich regelmäßig ein illustrer Kreis, dem u. a. Franco Evangelisti, György Ligeti, Heinz-Klaus Metzger und Wolf Rosenberg angehörten, um gemeinsam »Finnegans Wake« von James Joyce zu entziffern. In diesem Klima eines regen Austausches zwischen den Künsten, in dem etwa auch Nam June Paik, der als Komponist nach Deutschland gekommen war, binnen weniger Jahre zum Medienkünstler avancierte, trat Helms 1959 mit seinem im »Zwischenreich von Sprache und Musik«, wie er es ausdrückte, angesiedelten Sprachkunstwerk »Fa:m‘ Ahniesgwow« hervor.
Das Köln der Nachkriegsjahre beschrieb Helms einmal als »eine große alte Stadt ohne Herrschaftsfassaden, deren vom Faschismus geschlagene Wunden noch nicht geheilt, kaum verschorft waren«. Nachdem er die NS-Zeit als Jude mit gefälschten Papieren überlebt hatte und nach Jahren unsteten Lebens in u. a. Skandinavien, Nordafrika und den USA wurde Helms, der sich eine Rückkehr in die postfaschistische BRD zunächst nicht vorstellen konnte, hier – angezogen vom elektronischen Studio und der internationalen Avantgarde-Szene – sesshaft. Am 16. Januar 1959 las er in der Galerie 22, eingeleitet von Gottfried Michael Koenig, erstmals aus einem Manuskript mit dem Titel »Imre Ahniesgwow«. Unter dem Titel »Fa:m‘ Ahniesgwow« erschien der Text ein Jahr später im Kölner DuMont Verlag, der damals der Avantgarde noch aufgeschlossen war. Das Buch mit einer beigegebenen, von Helms besprochenen Schallplatte ist lange vergriffen, und so beruht der legendäre Ruf auch fast 60 Jahre später mehr auf Hörensagen, denn auf tatsächlicher Werkkenntnis. Die noch von Helms begleitete Gesamteinspielung durch das Kölner SprachKunstTrio sprechbohrer erlaubt es immerhin, sich mit dem Werk hörend auseinanderzusetzen. Während »Fa:m‘ Ahniesgwow« den Historikern der Neuen Musik eine Randnotiz wert ist, existiert es in der Literaturgeschichte bis heute nicht.
Bevor er nach Köln kam, hatte Hans G Helms an einem Roman mit dem Titel »Ein kleines bißchen Liebe nur, ein Stückchen warmer Haut« gearbeitet, hatte aber die Überzeugung gewonnen, sich radikal anderer ästhetischer Mittel bedienen zu müssen. Die dem Roman zugrundeliegende Handlung, das Zusammentreffen eines deutschen Juden mit der Tochter eines finnischen Nazis, Zerrbild der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, wird von Helms zwar nicht aufgegeben, aber radikal anders umgesetzt. Harald Muenz, Komponist und Ensemble-Mitglied der sprechbohrer, sieht in »Fa:m‘ Ahniesgwow« eines der raren Stücke, in dem ein »integrales Komponieren von Sprache« stattfindet, eine genuine Sprachkomposition. Helms hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Vielsprachigkeit seiner Arbeit (sie schöpft aus mehr als 30 Sprachen) weniger von Joyce angeregt sei, sondern vielmehr das Sprachengewirr nachbildet, dem er in den Lagern für »displaced persons« nach dem Krieg begegnet sei. Das führt zu einer Vielzahl von Perspektiven, die ständig Entscheidungen erfordert, aus der Perspektive welcher Sprache eine Buchstabenfolge interpretiert werden soll. In der Lesepraxis resultieren daraus ständig Sprünge, die von den Sinnangeboten motiviert sind, die sich einem vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sprachen darbieten. So stecken im Titel »Fa:m‘ Ahniesgwow« die deutschen Ahnen, aber auch die Amis, der deutsche Gau ebenso wie der amerikanische Ausruf »Wow!« sowie polnisch anioł. Lesend arbeitet man sich durch Passagen, in denen eine bestimmte Sprache dominant im Vordergrund zu stehen scheint wie »doch gesetz den Fall, er wüßte – quite willkürliche praesumption, nix, aber auch garnisch nich das geringste mag auf diese möglichkeit, wäre ansonstig sie wohl unterstehbar, hinundherdeuteln«, aber auch durch solche, in denen eine größere Sprachverwirrung zu herrschen scheint: »Hein! to morasthenikós hrausflôdo hydriver«.
Indem Hans G Helms im »Zwischenreich von Sprache und Musik« arbeitet, wird der Gegensatz zwischen alltagssprachlicher Eindeutigkeit und musiksprachlicher Vermitteltheit im Werk selbst in Szene gesetzt und problematisiert. Eine bis 1968 entstehende Reihe von Vokalwerken bzw. Sprachkompositionen – darunter »Daidalos« (gemeinsam mit Hans Otte), »Golem«, eine Polemik »gegen Martin Heidegger«, und »Konstruktionen über das Kommunistische Manifest« – hat allerdings nicht zur Folge, dass Helms im Nachfeld des Laboratoriums Rheinland seine Position als Autor oder Komponist, irgendwo zwischen Fluxus und Neuer Musik, gefunden und ausgebaut hätte, im Gegenteil: Die bereits in den eingangs zitierten »Reflexionen« anklingende grundsätzliche Skepsis gegenüber künstlerischer Arbeit führt zu einer zunehmenden Politisierung. Helms, der seit den fünfziger Jahren als Autor für den Rundfunk und diverse Printmedien tätig war und private Studien der Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaft betrieben hatte, publizierte 1966 »Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«, eine große Auseinandersetzung mit Max Stirner. 1969 folgte die kontrovers diskutierte Schrift »Fetisch Revolution«, über die sich ein rechter Intellektueller wie Karl Heinz Bohrer auch heute noch mit Schaum vor dem Mund äußert: »Alles, was ich selbst attraktiv fand, wurde darin angeklagt: das Elitäre des romantischen Individuums, der Angriff auf den Staat statt auf die bürgerliche Gesellschaft und vor allem der Verzicht auf die Konzeption eines objektiven Geschichtsprozesses.« Der Weg führte weiter von der Ideologiekritik zur Ökonomie. Als Helms »Fetisch Revolution« im Winter 1968/69 schrieb, waren die Wirtschaftsseiten voll von Berichten über die Zusammenlegung der Röhrenproduktion der August-Thyssen-Hütte und Mannesmann. In der Einleitung zur Neuausgabe 1973 bemerkte Helms: »Mich bestürzte das Desinteresse der Linksradikalen (wie der Bevölkerung insgesamt) an diesem Akt des westdeutschen Wirtschaftsimperialismus.« Helms hatte den Rat des Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski sehr ernst genommen, der ihn einmal fragte, warum er sich immer mit dem Überbau beschäftige: »Es ist doch viel wichtiger, sich mit der Basis zu beschäftigen.«
Mit dem Wissenschaftsbetrieb hatte Helms, der in den achtziger Jahren in New York lebte und sich als »field rechercher« begriff, gleichwohl wenig im Sinn. Er bewegte sich auf einem staunenswert weiten Feld, das neben Wirtschaftsgeschichte und Städtebau auch Computertechnik, Musik, Literatur und den Nationalsozialismus umfasste. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ermöglichte damals noch umfangreiche Recherchen, und so konnte Helms für das WDR-Fernsehen Filme wie »Städtebau im Ruhrgebiet«, »Boulez in Bayreuth« oder »Houston – auf Öl gebaut« drehen. Immer wieder kam er in polemischen Essays auch auf die »sozialökonomischen Bedingungen, Funktionen und Perspektiven« etwa der Festivals für zeitgenössische Musik zurück. Die Konsequenz konnte für ihn nur lauten: »Wer (…) die Hermetik der musikalischen Produktionssphäre in Richtung auf das Zentrum der arbeitenden Klassen durchbrechen will, der muß vom Karussell der Festivals und der Ur- und Erstaufführungen abspringen und solidarischer Teil der arbeitenden Klassen werden. Er muß lernen, daß musikalischer Sinn an sozialer Utilität zu messen ist, nicht an ästhetischen Sentiments oder musikologischen Verdikten und schon gar nicht an der ideologischen Effizienz im Interesse der Bourgeoisie und des ideellen Gesamtkapitalisten.«
Als er das schrieb, war Hans G Helms selbst schon längst abgesprungen vom Karussell. Er hat ein Werk hinterlassen, das zwischen den radikalen frühen Sprachkompositionen, Ideologiekritik, Urbanistik, Wirtschaftsgeschichte und seiner journalistischen Tätigkeit für die Berliner Tageszeitung »Junge Welt« in den späten Jahren so weit verzweigt ist, dass selbst die, die seine Verdienste auf dem einen oder anderen Gebiet zu würdigen wissen, die Tragweite insgesamt nur ungenügend einschätzen können. Das letzte Jahrzehnt vor seinem Tod 2012 verbrachte Helms in Berlin und sprach häufig davon, wieder vermehrt künstlerisch arbeiten zu wollen. Die Zweifel, mit künstlerischen Mitteln politische Wirkungen erzielen zu können, wurden zwar eher noch größer, aber die Reichweite polit-ökonomischer Schriften schätzte der späte Helms auch als zu begrenzt ein. Die Radiokomposition »Rapprochements à John Cage oder Hieronymus-John von Muenchhausen: Fabulierer, Adventurer, Erfinder Neuer Klangwelten«, die 1996 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, hat er als Teil eines größeren Projekts betrachtet, das nun Fragment bleiben wird. Anlässlich einer Aufführung von »Fa:m‘ Ahniesgwow« durch die sprechbohrer in Köln 2010 konnte Helms befriedigt die Reaktionen von Hörern registrieren, die das Werk als »politische Polemik gegen die sozialen und polit-ökonomischen Verhältnisse unserer Gegenwart« auffassten. Und letztlich liegen die Arbeitsgebiete des Musikologen, Wirtschaftshistorikers und Schriftstellers nur von außen betrachtet weit auseinander. In einer Sendung über »Autorenmusik« sagte Helms 1973: »Mehr denn alles andere sind es die historischen Dimensionen in der Musik von Gustav Mahler und Charles Ives, aber auch in Werken von Berlioz oder Wagner, Satie oder Debussy, die mir bei meiner sozialhistorischen Arbeit an Sujets wie der Wirkungsgeschichte Max Stirners und der kleinbürgerlichen Ideologie geholfen haben, weit auseinanderliegende und scheinbar unzusammenhängende Daten im richtigen historischen Kontext zu begreifen.«