Am Abend des 2. September 2004 richtete in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar ein Kabelbrand verheerende Zerstörungen an. Mehr als 50.000 Bücher, die meisten davon Unikate, verbrannten, über 118.000 Bestandsexemplare wurden teils schwer beschädigt. Es war der größte Bibliotheksbrand in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Germanist Michael Knoche, damals Direktor der Bibliothek, hat ihn nicht nur als Augenzeuge miterlebt, sondern sich wie zahlreiche andere Bibliotheksmitarbeiter an spontanen Rettungsaktionen beteiligt. In seinem 2006 erschienenen Buch »Die Bibliothek brennt. Ein Bericht aus Weimar« erinnert er sich: »Plötzlich fiel mir ein, dass die Luther-Bibel, unser berühmtes Exemplar der ersten Ausgabe des Alten und Neuen Testaments von 1534 mit den kolorierten Holzstichen aus der Cranach-Werkstatt, immer noch im zweiten Stockwerk stehen musste und vom Feuer bis jetzt verschont geblieben sein dürfte. Ich lief wieder ins Haus, traf auf den stellvertretenden Einsatzleiter (…) und sagte ihm, ich müsse noch einmal nach oben, um die Bibel zu holen. Er blickte mich unter seinem riesigen Helm erstaunt an und sagte dann überraschend, ohne zu diskutieren: ‚Okay.‘« Knoche hat die Bibel retten können und erhielt dafür 2017 die Goldene Medaille der Luther-Stiftung. Dass er kein Protestant, sondern Katholischer Theologe ist, war für die Entscheidung bedeutungslos. Die Luther-Bibel wurde nicht allein als Teil christlichen Kulturerbes, sondern als Träger menschheitsgeschichtlichen Gedächtnisses angesehen.
Nimmt man Knoches Darstellung ernst, hat er die Bibel jedoch weniger aus idealistischen Erwägungen heraus gerettet als deshalb, weil es sich um »unser Exemplar«, um eine nicht nur wertvolle, sondern eben diese eine, der Bibliothek und allen ihren Mitarbeitern und Besuchern zugehörende Ausgabe handelte. Nicht allein das Wissen um den historischen Wert des Objekts, auch die sich daran heftenden Affektationen, Erinnerungen und Phantasien haben zu dessen Rettung ermutigt. Weil er das ohne wissenschaftliche Fachkenntnis sofort einsah, hat der Einsatzleiter der Feuerwehr der Rettungsaktion umstandslos zugestimmt. Die Episode sagt somit etwas über eine Frage aus, die Knoches Buch leitmotivisch durchzieht: Wie verschränken sich im historischen Zeugnischarakter von Büchern Materielles und Ideelles, Objektivität und Subjektivität? Haftet das, was ein bestimmtes Buch für einen oder für viele Menschen unersetzlich macht, an dessen Gegenständlichkeit, oder scheint es allererst in der Objektbeziehung auf, die zu ihm aufgebaut worden ist? Wie die Luther-Bibel von 1534 aussieht, davon können sich Interessierte dank analoger und digitaler Speichermedien ohne Ansicht des Originals einen Eindruck verschaffen; welche historische Bedeutung sie hat, lässt sich ohne Objektgegenwärtigkeit editionsgeschichtlichen Untersuchungen entnehmen. Für Leute, die über die gesamte Erscheinungswelt auf ihrem Smartphone zu verfügen glauben, dürfte Knoches Beschreibung der Bücherrettung deshalb ein obskurer Impuls innewohnen, der sich mit instrumenteller Vernunft nicht hinreichend erklären lässt.
Dieses überschießende Moment erlebt in den Geschichts- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren unter den Labels »Materialität der Geschichte«, »materielle Kultur« und verwandten Formeln eine merkwürdige Aufwertung. Dass Kultur, Geschichte, Gedächtnis und Denken sich auf irgendeine Weise materialisieren, in Objekten manifestieren müssen, damit man sich von ihnen einen Begriff machen kann, ist im Grunde keine Erkenntnis, sondern eine Trivialität. Wo aber Triviales unbotmäßig betont und zum Gegenstand von Sonderforschungsbereichen nobilitiert wird, liegt der Verdacht nahe, dass das damit Bezeichnete als beschädigt, fragwürdig und daher besonders legitimierungsbedürftig erscheint. Symptom solcher Erosion – der Ahnung, dass das als selbstverständlich Verstandene im Schwinden begriffen und bedroht sein könnte – ist die Tatsache, dass mit der kurrenten historiographischen Erschließung »materieller Kulturen« eine Renaissance der Volkskunde und Museologie einhergeht, deren Begriffe unter dem Vorzeichen von »Materialität« im Sinne einer Ethnologie der eigenen Kultur, wie sie der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz 1973 in seinem Buch »Interpretation of Culture« (dt.: »Dichte Beschreibung«, 2002) entwickelte, auf heutige nachbürgerliche Verhältnisse angewendet werden.
Prinzipiell könnten die differenzierten, hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaften des fortgeschrittenen Kapitalismus mit dem gleichen Instrumentarium analysiert werden wie vergangene oder gegenwärtige Stammeskulturen; die Anfänge des Kapitalismus reichten im Grunde bis in die Vor- und Frühgeschichte zurück, Formen der Nachbarschaftshilfe in westlichen Metropolen würden sich nicht substanziell, sondern nur graduell von dem in magischen Alltagspraktiken sedimentierten »Wissen« archaischer Gemeinschaften unterscheiden: Solche pseudouniversalistische Anthropologie ist Konsens unter akademischen Zulieferern einer »Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Materialitäten« (so der Titel eines 2016 von Simone Derix am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung publizierten Grundlagentextes), die nicht in ihrem Objektstatus aufgehende Gegenstände des Alltags ebenso begeistert anstaunen wie die in »Praxen« und »implizitem Wissen« sedimentierten Formen »immaterieller Kultur«. Letztere, die in den Geschichtswissenschaften als Intangible Heritage thematisiert wird, ist nicht das Gegenteil, sondern die ebenso wundersam daherkommende Ergänzung der »materiellen Kultur«. Das »immaterielle Kulturerbe«, das laut der 2003 von der UNESCO beschlossenen Übereinkommenserklärung zum Schutz immaterieller Kulturgüter »Bräuche, Wissen, Handwerkstechniken, (…) mündlich überlieferte Traditionen, darstellende Künste, gesellschaftliche Rituale und Feste« sowie »Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum« umfasst, steht seit 2006 unter ähnlich kulturpflegerischer Beobachtung wie als Teil des Weltkulturerbes anerkannte Gebäude, Landschaften, Kunst- und Gebrauchsgegenstände verschiedenster Provenienz.
Dass »materielle Kultur« und »immaterielle Kultur« keine Oppositions-, sondern Komplementärbegriffe sind, verweist auf beider Verwandtschaft, die in einer antiwestlich grundierten Abstraktionsfeindlichkeit besteht. Werden die »Sichtbarmachung von bislang oft im Verborgenen existierenden Bräuchen und Praktiken« und deren Schutz vor »Kommerzialisierung« und »Folklorisierung« von der UNESCO ausdrücklich als Ziel der Bewahrung »immateriellen Kulturerbes« bestimmt und wird so das in der »Immaterialität« überlieferte Regionale, Lokale, Partikulare gegenüber der Abstraktion, Reproduktion und Vermittlung privilegiert, interessieren sich auch die Apologeten »materieller Kultur« für diese weniger aufgrund ihres universalen als ihres partikularen Aspekts. Das 2014 erschienene, von dem Ethnologen Hans Peter Hahn herausgegebene »Handbuch Materielle Kultur« dokumentiert am bislang umfassendsten, was »materielle Kultur« nach Ansicht der Verwender des Begriffs von »immaterieller Kultur« unterscheide. Während diese sich in Gestus, Habitus und Ritus sowie in einem von jeglicher materiellen Kodifizierung losgelösten »impliziten Wissen« niederschlage, erforschen die sich als Alltagsethnologen der eigenen Gesellschaft verstehenden Historiker »materieller Kultur« die Bedeutung, die Geräten, Werkzeugen, Kleidung, Möbeln, Schmuck und sonstigen Gebrauchsgegenständen in Alltagspraktiken zukommt. Der Ethnologe scheint gegenüber dem Historiker den Vorteil zu haben, dass er durch die Beschäftigung mit fremden, archaischen Gemeinschaften einen Blick für das Gewöhnliche und Banale gewonnen hat, der dem Gesellschaftshistoriographen verloren gegangen ist; darum räumt er dem Partikularen höheren Rang ein als der in seinen Abstraktionen befangene, eigene Vorannahmen unzulässig verallgemeinernde Historiker.
Übersehen wird dabei sowohl von Materialitäts- wie Immaterialitäts-Fans, dass Objekte kulturellen Gebrauchs sich von den Gesten, Ritualen, Erinnerungen und Tradierungen, die sich an sie heften, ohne in ihnen aufzugehen, ebenso wenig ablösen lassen wie umgekehrt die »immaterielle Kultur« von der Objektwelt, in der allein sie existiert. Deshalb ist das von der UNESCO formulierte Desiderat einer »Sichtbarmachung« immateriellen Kulturerbes nicht nur selbstwidersprüchlich, sondern unsinnig: Was sich auf welche Weise auch immer »sichtbar« machen, d.h. objektivieren lässt, gehört damit bereits zur Welt der Gegenstände, nicht zu einer Welt der reinen Ideen. Ebenso wenig ist eine »materielle Kultur« denkbar, die nicht Objektivation von etwas anderem als bloß der kruden Materialität wäre: Der Begriff der Kultur an sich meint immer schon etwas in der Objektwelt über diese Hinausweisendes. Andernfalls ließe sich Kultur nicht von (ebenfalls materieller) Barbarei unterscheiden und nicht bestimmen, in welchem Sinne, um Walter Benjamin zu paraphrasieren, ein Dokument der Kultur seinem Kulturcharakter zum Trotz ein Dokument der Barbarei sein kann. Dass solche Unterscheidungen innerhalb der jeweiligen Gegenstände historischer Erkenntnis zu treffen sind und nicht zu ihrer äußerlichen Klassifikation als »materiell« oder »immateriell« taugen, wussten in den siebziger und achtziger Jahren noch Historiker, die sich nicht im Namen einer partikularistischen Vielvölkerkunde, sondern mit Recht als historische Anthropologen verstanden.
So hat die Soziologin Claudia Honegger in dem 1973 von ihr herausgegebenen Band »Schrift und Materie der Geschichte« die damals im deutschsprachigen Raum wenig bekannten und kaum übersetzten Historiker der Annales-Schule (Marc Bloch, Lucien Febvre, Fernand Braudel) als universalhistorische Materialisten zu analysieren versucht, die im Unterschied zu marxistischen Ableitungshistorikern, aber auch zu Diskursanalytikern, die Dichotomie von Nominalismus und Realismus, Materialismus und Idealismus, Substanz und Erscheinung missachteten, um Oberflächenphänomene des Alltags als Schrift, als Erscheinungsformen des jeweils historisch spezifizierten menschheitsgeschichtlichen Wesens zu entziffern, weil alles vermeintlich Immaterielle, Geistige nur erkennbar und beurteilbar ist in den Formen der Erscheinungswelt, in denen es sich materialisiert. Deshalb wären die Alltagshistoriker, die eine Geschichte des Glockenschlags und der Turmuhren (Georges Duby), des Mittelmeers (Braudel), der Bettwäsche und des Schlafs (Alain Corbin) vorgelegt haben, weit eher als Vordenker »materieller Kulturen« geeignet, anhand des Weimarer Bibliotheksbrands eine Mentalitätsgeschichte der spontanen Kulturgüterrettung zu schreiben.
Die Theoretiker materieller wie immaterieller Kulturen indessen, die statt von »Materie« von »Materialität« sprechen, das gegenständlich Individuierte also als Abstraktum fassen, ersetzen die Alltags-geschichte durch eine modernisierte Form spiritueller Völkerkunde. Ohne Reflexion auf diese Ersetzung lässt sich der seltsame Authentizitätskult nicht verstehen, den heutige Kulturwissenschaftler bei ihrem Bohei um materielle und immaterielle Kulturen betreiben. Ein Kult, der auch deshalb desaströs ist, weil er überdeckt, was unter dem Schlagwort »materielle Kultur« auch an durchaus Sinnvollem stattfindet. Hierzu rechnet die weitverzweigte Provenienzforschung, die rekonstruiert, wie Eigentumsverhältnisse und Geschichten von Enteignung, Flucht und Exil sich in Alltagsgegenstände, Bibliotheken und Kunstsammlungen einschreiben und wie sie lesbar gemacht werden können. Solche Objektgeschichtsschreibung, bedeutsam nicht zuletzt für die Geschichte jüdischer Lebenswelten, setzt jenes historische Unterscheidungsvermögen voraus, von der der idealistische Kult um »materielle Kulturen« nichts wissen will.