Im Frühjahr 1921 ging bei Sigmund Freud überraschende Post ein. Aus Kalkutta sendete ihm ein Psychologe namens Girindrasekhar Bose seine Dissertationsschrift Concept of Repression. Im beiliegenden Brief hieß es: »Zusammen mit meinen Freunden und Verwandten bin ich ein leidenschaftlicher Bewunderer Ihrer Theorien und Wissenschaft. Es wird Sie interessieren zu erfahren, dass Ihr Name in unserer Familie im letzten Jahrzehnt geläufiger Begriff gewesen ist.«
Freud selbst zeigte sich in seinem Antwortschreiben überrascht, dass die Psychoanalyse »in Ihrem fernen Land« auf »so viel Interesse und Anerkennung« stieß. In der Folge entspann sich ein reger Briefverkehr. Freud bestärkte Bose in seinem Plan, in Kalkutta eine psychoanalytische Vereinigung zu gründen, und den Gründer der Psychoanalyse erreichte sogar eine Portraitzeichnung eines im Dunstkreis von Bose verkehrenden bengalischen Künstlers: ein imaginiertes Konterfei Freuds, das ohne einen Hinweis auf dessen Aussehen angefertigt worden war.
Freud selbst monierte, seine Züge seien zu Unrecht »urenglisch« dargestellt worden. Wie nahe die zu Papier gebrachte Phantasie dem realen Freud tatsächlich kam, lässt sich allerdings nicht nachprüfen; die Zeichnung gilt heute als verschollen. Dem Historiker Uffa Jensen jedenfalls dient die Anekdote um das imaginierte Portrait als Aufriss für seine Studie »Wie die Couch nach Kalkutta kam«. Sein Buch nimmt die Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse in den Blick, wie sie sich bis zum Tod Freuds 1939 in Berlin, London und Kalkutta entfaltete.
Psychoanalyse als traveling culture
Die Psychoanalyse begreift Jensen dabei als grenzüberschreitendes Phänomen; als eine »traveling culture«, die sich in verschiedenen Kontinenten und Regionen verbreitete. Darüber hinaus beanspruchte sie, Wissen über und für alle Menschen bereitzuhalten und ihre therapeutischen Mittel global einsetzen zu können. In seiner Studie verweist er auch auf Studien zur Verbreitung der Psychoanalyse in anderen nichtwestlichen Ländern wie Ägypten, China oder Mexiko. Bereits 1910 war die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV) gegründet worden. Lokale oder nationale Organisationen entstanden peu à peu, die indische im Jahr 1922 als erste nicht-westliche Vereinigung.
Jensen kritisiert die herkömmliche Geschichtsschreibung als von einem starren »Zentrumsnarrativ« geprägt, das sich allzu sehr an Kategorien wie Rezeption, Diffusion und Popularisierung orientiere. Sein Ansatz hingegen zielt darauf ab, Psychoanalyse stärker als ein »System von multiplen, wechselseitigen und translokalen Verflechtungen« zu beschreiben. Damit entfernt Jensen den Fokus ein Stück weit von der Person Freuds. Stattdessen lenkt er den Blick auf andere, in bestimmten Kontexten einflussreiche Personen wie etwa ebenjenen Girindrasekhar Bose (1887-1953).
Die Orte Berlin, London und Kalkutta wählte Jensen auch, weil dort »die Psychoanalyse unter bestimmten Bedingungen erst heimisch werden musste«. Zudem deckten diese Kontexte ein breites kulturelles, sprachliches und regionales Spektrum ab, das es ermögliche, die »besondere Vielfalt der globalen Psychoanalyse« zu untersuchen. Berlin war spätestens mit dem endgültigen Bruch zwischen Freud und Jung – und bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung – die wichtigste Stadt der psychoanalytischen Bewegung geworden. In London wiederum fanden wichtige Übersetzungs- und Popularisierungsleistungen statt. Große Bedeutung hatte das auch für die USA und die Kolonien des britischen Empire.
Kalkutta war gewiss kein Zentrum der psychoanalytischen Bewegung, und manchen Leser:innen dürfte die Konzentration auf die indische Metropole vor allem als exotisches Kuriosum gelten. Jensen jedoch dient sein Sampling dazu, »einige Besonderheiten der globalen Psychoanalyse zu studieren, die an anderen, prominenteren Orten oft verborgen bleiben«. Insgesamt ist Jensens Studie ein dicht geschriebenes, thematisch aber nicht überfrachtetes Buch. Berlin und London werden als Orte der globalen Psychoanalyse zum Teil detailliert beschrieben. Der eigentliche Schwerpunkt liegt jedoch auf Kalkutta.
Für seine Studie wertete Jensen Fachtexte, Ego-Dokumente (Tagebücher, etc.), institutionelle Quellen, Bilder sowie Zeitschriften und Zeitungen aus. Das Buch gliedert sich entlang der Themenkomplexe Institutionen, Behandlungen, Emotionen und Politik. Darin geht es um das Entstehen der globalen Verflechtung der Psychoanalyse, um weltweit verschiedene Funktionsweisen von psychoanalytischer Therapie, um die Produktion von therapeutischen Emotionen sowie um die Psychoanalyse als globale Selbsttechnologie.
Erkenntnisse durch das Schlüsselloch
Zwischen den entsprechenden Kapiteln hat Jensen Vignetten eingefügt, sogenannte »Schlüssellochtexte«, die kurze, lesenswerte Einblicke in Themenkomplexe oder bemerkenswerte Ereignisse und Quellen geben. So ist da zunächst Anna G., die in Freuds Praxis in Wien über die psychoanalytische Methode der Übertragung ihre Liebe zu ihrem Analytiker entwickelte. Im väterlichen Freud konnte sie ein neues Objekt finden – was ihr jedoch durch die therapeutische Wiederaufführung ihres Bindungsmusters zugänglich wurde. Wenn man so will: Ein Aufriss eines landläufig bekannten, aber nicht immer in seiner methodischen Zentralität verstandenen Themas der Psychoanalyse.
Dazu kommt ein junger Mann aus Kalkutta, der – im Zuge der wachsenden Feindschaft zwischen Hindus und Muslimen – auf seine Angst, von Rowdies erstochen zu werden, in seiner Phantasie mit eigenen Attacken reagiert. Diesen Aggressionen versuchte Girindrasekhar Bose mit eigensinnigen und vom ungarischen Psychoanalytiker Sándor Ferenczi inspirierten Theorieansätzen auf den Grund zu gehen und therapeutisch zu behandeln. Zumindest im Falle des jungen Muslimen anscheinend mit Erfolg. Boses Therapie beruhte auf der Grundidee, ein Wechselspiel der von ihm vermuteten, gegensätzlichen Wünsche in Gang zu setzen, um die Symptome mit der Zeit abzuschwächen.
Ein anderer Schlüssellochtext behandelt das komplexe und keineswegs neutrale Verhältnis zwischen Analytiker und Analysand. Anhand von Ferenczis Verhältnis zu einigen seiner Patient:innen wird das Phänomen der Gegenübertragung geschildert, also jener Gefühle, mit denen Analytiker:innen selbst auf die Emotionen eines Patienten reagieren; ein Thema, das Jensen immer wieder auch unter Bezugnahmen auf feministische Kritik an der frühen Psychoanalyse diskutiert und problematisiert.
Kritische Auseinandersetzungen mit Freuds Theorie des Ödipus-Komplex sind ebenfalls Gegenstand eines Schlüssellochtextes. Im indischen Kontext, so war man sich scheinbar einig, sei die Bedeutung der Mutter im Familiensystem viel zentraler als in den bürgerlichen Mittelschichten Westeuropas, die damals von allgegenwärtigen Vaterfiguren geprägt waren. Als überzeugtem Psychoanalytiker ging es Bose allerdings nicht darum, Freuds Grundannahmen in Bausch und Bogen zu verwerfen. Vielmehr wollte er diese vor dem Hintergrund der lokal vorherrschenden Familienkonstellation weiterentwickeln und korrigieren.
Bose befand sich dabei in der privilegierten Position, Erfahrungen sowohl mit europäischen wie mit außereuropäischen Patient:innen gemacht zu haben. Ihn beschreibt Jensen als jemand, der den Anspruch psychoanalytischer Grundannahmen und Zugänge auf globale Reichweite zwar deutlich kritisierte. Gleichzeitig war Bose als »universalistischer Denker« überzeugt, dass es Tiefenschichten der menschlichen Psyche gebe, die vom kulturellen Kontext unberührt bleiben würden.
So etwa hinsichtlich des Ödipus-Komplexes, dessen Konzeption durch Freud Bose als letztlich oberflächlich kritisiert. Denn »selbst bei den Europäern«, so Bose, liege der Ursprung der Kastrationsangst, die Freud der Angst vor dem Vater zuschrieb, doch eigentlich im Wunsch, auch eine Frau zu sein. Mit seiner Theorie der gegensätzlichen Wünsche »schrieb sich Bose (…) in die psychoanalytische Theoriegeschichte hinein«, resümiert Jensen.
Der ebenfalls in Indien wirkende Psychoanalytiker C. D. Daly hingegen legitimierte Jensen zufolge letztlich vor allem den britischen Imperialismus. Als Autodidakt ging er von einem der hinduistischen Kultur angeblich inhärenten Ekel und Hass auf die Mutter als Ausdruck von Kastrationsangst aus. Seine spekulativen Ausführungen basierten aber kaum auf therapeutischen Erfahrungen mit Patient:innen, sondern vor allem auf der Interpretation von mythologischen, literarischen oder ethnologischen Quellen. Jensen zufolge beschrieb Daly die Hindus als per se so infantil, neurotisch und zurückgeblieben, dass sie letztlich »von einem zivilisierten, erwachsenen Staat beherrscht werden mussten.«
Ideengeschichtliche Grundlagen und Anknüpfungspunkte
Thema in Jensen Studie sind aber nicht nur politische Instrumentalisierungen, Weiterentwicklungen und lokal spezifische Ausprägungen der Psychoanalyse, sondern auch ihre ideengeschichtlichen Grundlagen im Westen. Als Vorbilder für die eigenen Behandlungen dienten dortigen Analytiker:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Mesmerismus (demzufolge dem Menschen innewohnende magnetische Kräfte eine heilende Wirkung auf Kranke haben können), Hypnotismus sowie die Suggestionen einsetzende, kathartische Therapie.
Letztlich greifen psychoanalytische Grundannahmen sogar bis ins antike Griechenland zurück: auf das Energiemodell der Humoralpathologie mit den Konzepten von Drang und Abfuhr, Spannung und Entladung sowie dem damit verbundenen Harmonieprinzip. »Die Psychoanalyse baute auf einer Säftelehre ohne Säfte auf«, schreibt Jensen.
An diese ideengeschichtlichen Grundlagen konnten nicht-westliche Psychoanalytiker:innen auch mit ihren Bezügen zu lokalen Wissensbeständen immer wieder anknüpfen. Sie gingen dabei zum Teil ähnlich stark eklektizistisch vor wie ihre Kolleg:innen im Westen. Jensen arbeitet das vor allem anhand von Boses therapeutischer Praxis in Kalkutta heraus. Insgesamt war die Psychoanalyse als »globaler Denkstil« bereits in ihrer frühen Phase in weltweite Aneignungsprozesse und grenzüberschreitende Strukturen eingebunden.
»Wie die Couch nach Kalkutta kam« ist eine reichhaltige, zum Weiterdenken und -forschen anregende Studie.
Das Buch
Uffa Jensen: Wie die Couch nach Kalkutta kam - Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse, Berlin 2019, Gebunden, 538 Seiten, 28 Euro