Saving Private Manning

Barbara Eder widmet sich dem Thema Whistleblowing anhand der Biografie Chelsea Mannings.

Im April 2010 begann WikiLeaks mit der Veröffentlichung erster Dokumente amerikanischer Kriegsverbrechen im Irak. Die Quelle war dazumal noch unbekannt. Sieben Wochen später wurde Chelsea Manning, vormalige Nachrichtenanalytikerin der US-Armee, festgenommen, inhaftiert und gefoltert – auch infolge unzureichenden staatlichen Schutzes für Whistleblower:innen.

 

Bis heute lösen die Bilder Debatten aus, sie haben sich tief ins öffentliche Bewusstsein gegraben: Das von der Investigativ-Plattform WikiLeaks am 5. April 2010 publizierte Video »Collateral Murder« zeigt die Tötung von zwölf Menschen in einem Vorort von Bagdad durch Angehörige der US-Armee. Dabei handelt es sich um eine thermooptische Aufzeichnung aus dem Cockpit eines Apache-Kampfhubschraubers, der bodentief fliegt und aus dem Hinterhalt feuert. Durch ein Fadenkreuz geframed, entdecken Pilot und Bordschütze am Morgen des 12. Juli 2007 eine Gruppe von Menschen in den Straßen von New Baghdad, zwei davon sind Journalisten, die Kameras in Umhängetaschen mit sich führen. Nichts an diesem Szenario deutet auf kriegerische Handlungen hin, dennoch wird die Arbeitsausrüstung des Fotografen als Waffe identifiziert. Über Bordfunk ist von »individuals with weapons« die Rede, einer ihrer vermeintlichen Träger wird kurz zuvor als »fucking prick« bezeichnet. Binnen weniger Minuten erhält der Schütze die »permission to engage«: Mit den Worten »come on, fire« und »keep shoot« beginnt er aus dem 30-Millimeter-Bordkaliber zu feuern.

 

Beim Töten war die Besatzung der »Crazy Horse« mehr als nur »engagiert«: »Oh yeah, look at those dead bastards« kommentiert der Pilot das Geschehen zwischenzeitlich, die Zahl ist ihm noch nicht hoch genug. Als zwei Männer einen Verwundeten, der bewegungslos am Randstein liegt, in Sicherheit bringen wollen und ihn in Richtung eines schwarzen Vans schleppen, eröffnet der Bordschütze erneut das Feuer. Zwei Kinder werden schwer verletzt, die irakischen Kriegsberichterstatter Saeed Chmagh und Namir Noor-Eldeen haben ihre Leben bereits verloren. »Clear«, heißt es an Bord des Kampfhubschraubers, mit 12 bis 15 Toten scheint die Beute ergiebig: »I would say that‘s a fairly accurate assessment«, bestätigt der Einsatzleiter die Einschätzung der Kombattanten, »roger that«. 

 

Was »Collateral Murder« zu sehen gibt, sei laut Sprecher der US-Streitkräfte eine legitime Handlung: Infolge des Ausnahmezustandes gälte das Freund-Feind-Schema auch dort, wo jemand sich nicht in kriegerischer Absicht annähert. Reuters Forderung nach einer tiefer gehenden Untersuchung der Kriegshandlungen wurde mit diesem Argument abgewiesen. Im Hinblick auf die Herausgabe des Videos berief die Nachrichtenagentur sich auf den »Freedom of Information Act«, zugänglich gemacht wurde das Bildmaterial jedoch erst durch WikiLeaks. Ein Schussbefehl wirkt darin wie ein performativer Funkspruch, der Akt des Tötens geschieht aus sicherer Distanz. Derartige Details aus dem Alltag asymmetrischer Kriegsführung sieht man nicht alle Tage. SIGACTs – Dokumente, die Aufschluss über »Significant Activities« im Bereich der strategischen Kriegsführung geben – unterliegen der obersten militärischen Geheimhaltungsstufe und werden gezielt unter Verschluss gehalten. Die amerikanische Whistleblowerin Chelsea Manning hat sie der Welt zugänglich gemacht und damit ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.

Von November 2009 bis Mai 2010 war Manning an einem Stützpunkt der US-Armee 60 Kilometer östlich von Bagdad stationiert. Nachts analysiert sie SIGACTs, um sichere Marschrouten für die Truppen ausfindig zu machen, tagsüber erholt sie sich vom andauernden Informationsbombardement. Die Offiziere, an die Chelsea ihre Berichte übermittelt, leiten Teile davon an eine irakische Presseagentur weiter, die Vorab-Klassifikation als »Top Secret« scheint damit hinfällig. Manning soll stets alle auffindbaren Dokumente in ihre Analysen miteinbeziehen, vor Ort arbeitet sie nach einer Devise der NSA: Collect It All. Know It All. Exploit It All. Trotz erhöhter Anforderungen an die IT-Security basiert das Computer-Netzwerk in Fort Hammer auf lecken Microsoft-PCs, gravierende Sicherheitsmängel weisen auch die IRC-Channels zur internen Kommunikation auf. Chelsea kennt Richard Stallmans »GNU-Manifest«, sie ist von der Ethik freier Software überzeugt und siedelt das Recht auf Informationsfreiheit ganz weit oben auf ihrer Werteskala an. Mit Bildern von Kriegsverbrechen konfrontiert, denkt sie erstmals darüber nach, was passieren würde, wenn die Öffentlichkeit davon erführe. Würde sich das Bild von jener »Civilizing Mission« ändern, das eine Nation im Dienst eines vermeintlichen »War on Terror« der Öffentlichkeit präsentiert?

 

Der 8. Februar 2010 stellt eine Zäsur im Leben von Chelsea Manning dar. Über den Internetzugang der Buchhandelskette Barnes & Noble lädt sie 400.000 Dokumente aus dem Irakkrieg anonym und verschlüsselt bei WikiLeaks hoch. Sie ist zu diesem Zeitpunkt physisch und psychisch am Ende, für zwei Wochen vom Kriegsdienst beurlaubt und hält sich temporär in Maryland auf. Das hochgeladene Material hat sie noch im Irak auf wiederbeschreibbare DVDs gebrannt, sie trugen Aufschriften wie »Lady Gaga« oder »Mannings Mix«; anschließend kopierte sie den Inhalt der Datenträger auf die SD-Karte ihrer Fotokamera. Zurück in den USA, telefoniert Chelsea von unzähligen fremden Festnetzen aus, bei der Washington Post erreicht sie jedoch nur eine desinteressierte Journalistin und bei der New York Times einen Anrufbeantworter. Der Versuch, die Dokumente der amerikanischen Tageszeitung Politico zuzuspielen, scheitert an einem Schneegestöber, am Tag davor fallen Strom und Internet aus. Über digitale Möglichkeiten, die einen sicheren Transfer aus der Ferne ermöglichten, verfügt zu diesem Zeitpunkt keines der Medienunternehmen; ein Versenden per Email, so weiß Manning, wäre nicht sicher genug gewesen.

 

Chelsea Manning war nicht aus freien Stücken zur Armee gegangen. Als homosexueller Teenager an der Highschool in Oklahoma City von Mitschüler:innen und Lehrer:innen gleichermaßen gemobbt, bietet ihr Zuhause keinen Schutz vor weiteren Attacken. Nach Feierabend bleibt es nicht bei dem einen Bier, das der bei IBM bedienstete Vater in sich hineinschüttet, die walisische Mutter hört erst zu trinken auf, als sie einen Schlaganfall erleidet. Schon damals wäre ihr Sohn lieber eine Tochter gewesen. Wenn er mit Mädchen unterwegs ist, begehrt er ihre männlichen Freunde, mit ihnen darf er aber nicht sein, weil Homosexualität im Land der Rednecks verpönt ist.

 

Bevor sie von der Armee angeworben wird, hält die junge, transidente Person aus der amerikanischen Arbeiter:innenklasse sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und ist zwischenzeitlich obdachlos. Monatelang schläft sie in einem Auto und sieht in ihrem Leben keine Perspektive mehr. »Bei der Armee kannst du etwas werden«, hatte Chelseas Vater früh zu ihr gesagt. Aus einem Sohn, der keiner sein will, wird bei der Army ein echter Mann. Allein das körperliche Abhärtungstraining erstickt alle Libido im Keim und die strengen Hierarchien, Kollektivbestrafung inklusive, erlauben es nicht, Autoritäten auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Eine Vergewaltigung durch einen Offizier verschweigt sie aus Angst vor Erpressung durch den Ranghöheren; hätte sie mit einem Militärpsychiater darüber geredet, wäre auch dieser Gesprächsinhalt nicht privat geblieben. Dahingehend galt in der US-Army ein eigener Grundsatz: »Don’t ask, don’t tell« – zu Fragen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung herrschte allgemeine Schweigepflicht, über militärische Fehlentscheidungen und ihre Folgen ebenso.

 

Für Wistleblower:innen gibt es in den USA ein eigenständiges Gesetz, seine Anfänge datieren auf das Jahr 1777. Der aktuell gültige »Whistleblower Protection Act« stammt von 1989 und soll all jene schützen, die sich aus ethischen Gründen dazu gezwungen sehen, ein militärisches, wirtschaftliches oder staatliches Geheimnis offenzulegen. Dies ist zulässig, sofern ein Verstoß gegen gültige Gesetze, Vorschriften oder Regeln, ein Indiz für Amtsmissbrauch oder die Verschwendung finanzieller Mittel vorliegt und die Meldung über die innerhalb einer Organisation dafür vorgesehenen Kanäle erfolgt. Die zuvor bei der NSA beschäftigten Whistleblower William Binney, Kirk Wiebe, Russ Tice und Thomas Drake haben sich penibel an dieses Prozedere gehalten: Sie monierten die sukzessive Ausweitung der NSA-Überwachungsbefugnisse nach 9/11 innerhalb des Unternehmens – und sie bekamen nicht Recht. Was folgte, waren Entlassungen, Hausdurchsuchungen durch das FBI, Haftandrohungen und zum Teil sehr hohe Strafen. Bereits Daniel Ellsberg, der 1971 den Inhalt der Pentagon-Papers – und damit auch die Sinnlosigkeit des Vietnam-Krieges – offenlegte, wurden 115 Jahre Gefängnis angedroht, Julian Assange blühen derzeit 175 Jahre Haft. Edward Snowden kannte diese Fälle und hat aus ihnen gelernt. Er wusste, warum er die offiziellen Kanäle nicht nutzen konnte und wandte sich an Glenn Greenwald von The Guardian. Chelsea Manning, die noch vor Snowden ähnlich mutig handelte, wurde auf Basis des amerikanischen »Espionage Act« zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Auch sie hatte gute Gründe dafür, einen anderen Weg zu gehen; der Kanal zu WikiLeaks war am Ende undicht.

 

»Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten«, heißt es in Bert Brechts Fragment »Me-ti. Buch der Wendungen«. Jene, die sozial vulnerabel und ohne finanzielle Mittel sind, haben ein unverhältnismäßig höheres Risiko, diesen Tötungsarten zum Opfer zu fallen; ein Recht auf Privatsphäre gibt es für sie nicht. Bis heute ist es so ungleich verteilt wie gesamtgesellschaftlich erwirtschafteter Reichtum – allein aus diesem Grund reicht es für sie nicht aus, sich auf »proper channels« zu verlassen. Die Einrichtung derartiger Meldestellen wurde bereits im Oktober 2019 EU-weit beschlossen, konkrete Maßnahmen präsentierte das österreichische Parlament erst zu Beginn dieses Jahres. Was im »HinweisgeberInnenschutzgesetz« weitgehend fehlt, ist der Schutz der Informant:innen – und er betrifft nicht nur ihre berufliche Zukunft. Das Gesetz selbst sagt nichts über die Möglichkeit des Anonym-Bleibens aus und sieht als Meldestelle kurzerhand das »Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung« vor. Diesen gravierenden rechtlichen Mängeln kann man nur mehr mit technischen Mitteln begegnen, im deutschsprachigen Raum verfügen Medien wie »Süddeutsche Zeitung« und »Heise« über sie. Als sichere Ablage für geheime Dokumente bieten sie SecureDrop an – ein Open-Source-Dienst im Tor-Netzwerk, der die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung garantiert. Whistleblower:innen erhalten damit jene Anonymität zurück, die kein Gesetz ihnen derzeit in Aussicht stellt.

 

Anders als Edward Snowden konnte Private Manning nicht die Flucht nach vorne antreten. Bis heute leidet sie an den verheerenden Folgen der Isolationshaft auf Camp Arifjan und den Haftbedingungen in den Hochsicherheitsgefängnissen der USA. Anderweitig dafür bekannt, mit unnachgiebiger Härte gegen Whistleblower:innen vorzugehen, hat Barack Obama Mannings Haft im Nachhinein auf sieben Jahre begrenzt. Währenddessen hat sie mehrere Suizidversuche begangen, erst die Erlaubnis dazu, im Gefängnis zu transitionieren, gab ihr die Hoffnung auf ein zweites Leben – in einem Körper, den Staat und Armee nicht vollständig kapitalisieren und kontrollieren konnten. In »README.txt« spricht Chelsea Manning von ihrem Coming-Out wie von einer Marginalie; sie sagt von sich, derselbe Mensch geblieben zu sein – nur in der Öffentlichkeit werde sie ein klein wenig anders wahrgenommen. 

 

Weiterführende Links

 

Das Buch

Chelsea Manning: README.txt – Meine Geschichte. Übersetzt von Katrin Harlaß, Enrico Heinemann und Anne Emmert. Hamburg: Harper Collins 2022. 

Chelsea Manning: README.txt – Meine Geschichte. Übersetzt von Katrin Harlaß, Enrico Heinemann und Anne Emmert. Hamburg: Harper Collins 2022.