Dass die Studentenbewegung und die Außerparlamentarische Opposition, obgleich sie sich an den Altnazis in akademischen und politischen Führungspositionen störten und auch sonst gegen das »Establishment« der Bundesrepublik agitierten, selbst genuin deutsche Bewegungen waren, offenbarte sich jedem, der es wissen wollte, spätestens in den frühen siebziger Jahren. In dieser Zeit brach sich der lange latent gebliebene Antisemitismus weiter Teile der sogenannten Neuen Linken in ebenso spektakulären wie mörderischen Aktionen Bahn. Im Februar 1970 hatte ein palästinensisches Terrorkommando auf dem Flughafen München-Riem bei dem Versuch, eine El-Al-Maschine zu entführen, einen Passagier getötet und elf weitere schwer verletzt. Der vergleichsweise Dilettantismus der Terroristen veranlasste die Berliner Untergrundzeitschrift Agit 883 im April des gleichen Jahres zu der Empfehlung, dass künftig straffer organisierte deutsche Linksaktivisten die Aufgabe der »verzweifelten Todeskommandos« der Palästinenser übernehmen sollten. Ihre Kompetenzen auf dem Gebiet des modernisierten Antisemitismus hatte die linke Protestbewegung schon im Jahr zuvor unter Beweis gestellt. In der Nacht zum 9. November 1969, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, hatten APO-Mitglieder jüdische Erinnerungsstätten in Westberlin mit den Schriftzügen »Schalom und Napalm« und »El Fath« beschmiert; am 9. November legten die »Tupamaros Westberlin«, eine Vorgängerorganisation der »Bewegung 2. Juni«, im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin jene als Fanal für den Beginn des Kampfes der »Stadtguerilla« gedachte, allerdings nicht zur Zündung gekommene Bombe, der der Politologe Wolfgang Kraushaar 2005 ein Buch gewidmet hat. Am 13. Februar 1970 wurde ein bis heute unaufgeklärter Brandanschlag auf das Gemeindehaus der Israelischen Kultusgemeinde in München verübt, bei dem sieben Bewohner eines dort untergebrachten jüdischen Altersheims, die meisten Überlebende der Shoah, getötet wurden. Ermittelt wurde damals sowohl gegen palästinensische Terroristen wie gegen Vertreter der linken Protestbewegung.
Dass in dieser Reihe antisemitischer Terrorakte offensichtlicher als in dem von der Neuen Linken angeprangerten »faschistischen« Charakter der Staatsmacht das Erbe des Nationalsozialismus fortlebte, wurde seinerzeit von kaum jemandem bemerkt, am wenigsten von der Linken selbst. Zu den frühesten Schriften, die diesen Zusammenhang zum Gegenstand machten, gehörte vielmehr ein Buch eines bürgerlich-konservativen jüdischen Gelehrten, der seine politische Einmischung nicht als Beitrag zu irgendeinem Diskurs, sondern als schlichte Notwendigkeit begriff: das Pamphlet »Der Israelpseudos der Pseudolinken« des jüdischen Schweizer Philosophen Michael Landmann. Der Text, der 1971 in direkter Reaktion auf die Ereignisse der vergangenen Jahre erschien und nun im Ça-Ira-Verlag mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Nachwort von Jan Gerber und Anja Worm neu herausgegeben wurde, ist allein schon wegen der Biographie seines Autors interessant. Landmanns Vater war der österreichische Nationalökonom Julius Landmann, der ebenso wie die Mutter Edith Landmann, geborene Kalischer, zum Kreis um Stefan George gehörte, zu dem beide durch ihre Freundschaft mit Rudolf Borchardt gestoßen waren, der George verehrte, sich aber später wegen dessen als autoritär empfundener Haltung von ihm distanzierte. Von Edith Landmann, unter den sehr wenigen Frauen in Georges Umfeld wohl die ihm vertrauteste, sind nicht nur mehrere Bücher über George erschienen – 1920 anonym der Band »Georgika«, 1963 posthum »Gespräche mit Stefan George« –, sondern sie verfasste auch erkenntnistheoretische und ästhetische Studien, etwa »Die Transzendenz des Erkennens« (1923) und die im 1952 gleichfalls posthum erschienenen Band »Die Lehre vom Schönen« versammelten kunsttheoretischen Schriften.
Die Verbindungen zum George-Kreis blieben auch bei Julius Landmann nicht rein biographischer Natur. Einzelne Anschauungen des Zirkels, vor allem ein gewisses Ressentiment gegen den vermeintlich »kalten« Rationalismus des homo oeconomicus und eine Vorliebe für »anschauliches«, am Modell regionaler Ökonomien orientiertes Wirtschaften, flossen in Landmanns nationalökonomische Theorien ein. Auch Michael Landmann, der Schüler Georg Simmels war und in dessen Schriften sich das teils soziologische, teils naturalisierend-kulturanthropologische Denken seines Lehrers unschwer wiederfinden lässt – etwa in der 1961 erschienenen Studie »Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Natur« und in der 1979, fünf Jahre vor Landmanns Tod, veröffentlichten »Fundamental-Anthropologie« – rekurriert immer wieder auf eine Terminologie des »Volkstums«, die auch in seiner Streitschrift gegen die deutsche Neue Linke begegnet. So legitimiert Landmann die Existenz Israels mit jenem die »nationale Identität« sichernden »Selbstbestimmungsrecht der Völker«, das auch die antiimperialistische Linke bei ihrer Apologie des palästinensischen Terrors in Anspruch nahm, und vermischt immer wieder antiimperialistische Stereotype mit scharfer Kritik am Antiimperialismus, linke Staatskritik und liberale Verteidigung des Nationalstaats.
In seiner Verteidigung des Zionismus etwa gelingt es Landmann, eine der prägnantesten Begründungen für die Notwendigkeit der Existenz Israels in einem Atemzug mit einer Solidaritätsadresse an die Freunde friedlicher Koexistenz in Form einer Zwei-Staaten-Lösung zu formulieren. Beides wird nur durch einen Gedankenstrich getrennt: »Nun bildet eine Welt jenseits der nationalen Barrieren – in der freilich unterschiedliche Sprachen und Traditionen bestehen bleiben – gewiss eine große Vision. Indessen leben wir noch in einem Zeitalter der Nationalstaaten. Wenn also nicht von ihnen allen verlangt wird, sie sollten sich als solche auflösen, dann ist es unbillig, diese Forderung zuerst und einzig an Israel zu richten. Es ist umso unbilliger, als nicht nur Israel als Staat, sondern auch als Volk von seinen Feinden in Frage gestellt und bedroht wird: wer garantiert, wenn der Staat sie nicht mehr schützt, für das Leben seiner Menschen? (…) Auch Lenin hat die Emanzipation der Nationen als notwendiges Durchgangsstadium bejaht. Der Internationalismus muss mit der Existenz der Nationen, die nicht übersprungen werden kann, vermittelt werden. – Endlich: was arabischerseits angestrebt wird, ist zunächst ebenfalls ein Nationalstaat, nämlich ein arabisches Palästina, von dem dann bloß erhofft wird, es werde zum Internationalismus (…) beitragen. Dann aber ist es nicht konsequent, für ein arabisches Palästina gegen das jüdische Israel einzutreten«.
Hier entlarvt Landmann nicht nur jenen linken Antinationalismus, der immer auf eine Kritik nicht der notwendig widersprüchlichen Konstitution des Nationalstaats an sich, sondern von Israel als Verkörperung aller schlechten Nationalstaatlichkeit hinausläuft. Er formuliert auch, indem er den gleichsam bürgerlichen Zug in Lenins antibürgerlichem Internationalismus betont, einen Gedanken, den zuerst Hannah Arendt herausgearbeitet hat: dass Menschenrechte in einem »Zeitalter der Nationalstaaten« nur als Staatsbürgerrechte garantiert werden können und daher Menschen, »wenn der Staat sie nicht mehr schützt«, zu Vogelfreien zu werden drohen. Unmittelbar nach dieser exemplarischen Verteidigung Israels als nun wirklich einzig legitimen Staat unter den Staaten leitet er aber mit einem »Endlich« sogleich zu der Schlussfolgerung über, auch die palästinensische Seite strebe nur einen »Nationalstaat« an, und übergeht, dass der einzige Sinn und Zweck der ersehnten palästinensischen Staatwerdung die Vernichtung Israels und damit die praktische negative Aufhebung des Prinzips nationalstaatlicher Koexistenz ist. Auch die qualitative Differenz zwischen der antisemitischen Vernichtungsdrohung als Konstitutionsgrund des israelischen Staates und dem Prinzip des den Nationalstaat begründenden und in ihm sich konstituierenden »Volkes« wird von Landmann verwischt, wenn er etwa über die Geschichte der europäischen Juden schreibt: »Wie die Französische Revolution von 1789, so brachte die bolschewistische von 1917 auch den Juden eine Befreiung. Sie brachten aber beide die Befreiung nur dem jüdischen Individuum, nicht dem jüdischen Volk. (…) Während alle anderen Völker auch im nachrevolutionären Zustand selbstverständlich erhalten bleiben sollten, erwartete man vom Juden die Aufgabe seiner nationalen Identität. Jede Aufrechterhaltung eigener Sitte und Sprache erschien nur noch als partikularistischer Traditionalismus.« Antisemitismus aber zielt nicht einfach auf Vernichtung vermeintlich jüdischer Partikularismen oder Ausdrucksformen einer jüdischen Kultur, die den jüdischen Individuen gleichsam als Spurenelemente ihres »Volkes« anhaften würden, sondern gerade auf das »jüdische Individuum« und damit auf das Individuum überhaupt. Deshalb werden die Juden dem antisemitischen Wahn zur Verkörperung des Prinzips von Individualismus, Abstraktion und »Zersetzung« per se und zum in endlosem Exorzismus zu tilgenden Gegenprinzip von »Kultur« und »Volk«.
Es ist das Verdienst der Herausgeber der Neuausgabe, dass sie das Ineinander von hellsichtigen Urteilen über die Neue Linke und halbherzigen Konzessionen an sie in Landmanns Text nicht überspielen, sondern zum Ausgangspunkt von dessen Rekonstruktion machen. In einem eigenen Abschnitt des Nachworts zeigen sie insbesondere, wie Landmanns Buch als »Gegenrede« zu Isaac Deutschers bei zeitgenössischen linken Antizionisten beliebter Schrift »Der israelisch-arabische Konflikt« von 1968 konzipiert ist, und dass einige der Zugeständnisse ans linke Volksbefreiungsvokabular vor diesem Hintergrund zu verstehen sind; aber auch, dass Deutschers Schrift ihrerseits nicht aufgeht in der »Israelkritik«, als deren Legitimation ihre Adepten sie in Dienst nahmen. Nahegelegen hat der Rückgriff auf kulturalistische und volkskundliche Denkfiguren für Landmann aber wohl auch, weil die philosophische Tradition, die ihn prägte und die auch seine anderen Werke bestimmt, obgleich nicht »links«, sondern bürgerlich-konservativ, seit jeher durch ein Amalgam aus Rationalismus und Kulturalismus, Fortschrittsoptimismus und Dekadenzsehnsucht geprägt war, das bereits die diagnostische Schärfe von Simmels Soziologie immer wieder getrübt hat. Ein gleichsam unschuldiger Rationalismus findet sich, der unkritischen Verwendung von Begriffen wie »Kultur« und »Volk« zum Trotz, auch bei Landmann, wenn er etwa die antizionistischen »Argumente« seiner Gegner akribisch auflistet und einzeln zu widerlegen sucht. Die Hilflosigkeit eines solchen Vertrauens in die Vernunft gegenüber dem Wahn wird im Nachwort ebenfalls vermerkt, wenn die Herausgeber konstatieren, Landmanns Buch versammele faktisch »Texte ohne Ansprechpartner«, und der gegenwärtigen Linken zu recht attestieren, dass die »Idee der Emanzipation« sich, »wenn überhaupt, nur noch im stetigen Widerspruch zu ihr« festhalten lasse.
Michael Landmann: Der Israelpseudos der Pseudolinken. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Nachwort von Jan Gerber und Anja Worm. Freiburg 2013, 140 Seiten, 13,50 Euro