Mit «Brot und Spielen» ließe sich das römische Volk des Kaiserreichs sedieren, spottete der Satiriker Juvenal, ein Volk, welches vor der Diktatur der Caesaren noch eine aktive Rolle bei der Mitgestaltung der res publica geleistet hätte. Heutzutage dienen die «Spiele» nicht bloß der Ablenkung von politischer Teilhabe, sie spielen sich sogar als deren Surrogat auf. Beim diesjährigen Eurovision Song Contest zum Beispiel konkurrierten die Nation, die europäische Verwertungsgemeinschaft und die Schlagerindustrie um das Monopol auf die Überwindung der Geschlechterrollen. Erstaunlich, wie sich in den letzten Tagen der Patriotismus durch die individuelle Leistung einer stimmlich begabten Drag Queen die Herzen ansonsten kritischer Menschen zurückholte und Individuen zu einem Wir schmolz, das gar kein Anrecht darauf hat, Conchita Wursts Dreitagesbart zu befummeln, denn länger als drei Tage ist es nicht her, dass Österreich Menschen wie ihr nichts als Verachtung entgegenbrachte. Nicht minder erstaunlich, wie die Wurstmania durch ihre genderpolitische Codierung Leute, denen der Song-Contest bislang bloß Anlass zur bemühten Ironie der Fernseh-Party war, mit dem Schlager versöhnte und diese Veranstaltung als die Arena des Happy-Ends all ihrer gesellschaftlichen Kämpfe affirmierte. «Ich habe irgendwie das Gefühl», las ich neulich auf Facebook, «dass doch alles gut wird.» Gewiss ist es begrüßenswert, wenn die Überwindung traditioneller Geschlechternormen den Mainstream usurpiert, genauso, wie die ansonsten überflüssigen Talk-Shows bestimmt einen wichtigen Beitrag zu größerer Akzeptanz von Homosexualität geleistet haben. Das ist aber noch lange kein Grund, gleich mit in den Mainstream zu übersiedeln und sich vor Ergriffenheit die Fragen zu verkneifen, wie es um die Akzeptanz einer dickeren und stärker behaarten Conchita bestellt wäre, geschweige denn einer, die weniger massentaugliche Songs sänge als vorgestanzte Lloyd-Webber-Derivate.
Liest man aber die Zeitungskommentare zu Conchita Wursts Erfolg, dann müsste man sie schleunigst davor warnen, sich zur Marianne der europäischen Wertegemeinschaft oder gar zur Jeanne d’Arc medialer Russlandfeldzüge verwursten zu lassen. Ihr Sieg, so der unisonore Tenor in Blätterwald und Onlinedschungel, sei nämlich einer des Europas der Toleranz und Vielfalt gewesen. Und wie es gerade zufällig in den geopolitischen Kram passt, muss es, wo das Europa der Toleranz und Vielfalt das bevorstehende Ende der Geschichte mit einem glamourösen Life-Ball begeht, auch ein Asien der Intoleranz und Monokultur geben. Das zeigten die lauten Pfiffe beim Contest, wann immer der russische Beitrag zu viele Punkte bekam, und der Jubel beim Voting für den ukrainischen, vermutlich, weil sich der Song «Tick Tock» der Ukrainerin Marija Yaremchuck von «Shine» der russischen Tolmachevy-Schwestern unterschied wie die Deklaration der Menschenrechte von Rasputins Abendgebet. Und wie dankbar stürzten sich die Medien auf den Kommentar des rechtsradikalen Schirinowski, die Sowjets hätten aus Österreich nie abziehen dürfen, als handle es sich dabei um das offizielle Kommuniqué der russischen Volksseele. (Allein die russischen Stimmen des Publikumsvotings hätten Conchita Wurst den dritten Platz gesichert.)
Europa tut gut daran, die recht junge Toleranz gegenüber alternativen Lebensentwürfen als ideologischen Hauptunterschied zu ihren Feinden in Stellung zu bringen, denn täte es das mit seiner Sozial- und Finanzpolitik, müsste es sich Bartstoppeln aufkleben, um die Schamesröte zu verbergen. Es bedurfte akzeptierter Wissenschaftler wie Thomas Piketty oder Colin Crouch, um die Analyse der systematischen Umverteilung und Entdemokratisierung in der eigenen Domäne nicht länger als linke Verschwörungstheorien zu diffamieren, wie es die liberale Presse seit Jahrzehnten tut, sowie der oligarchischen Verfasstheit ihrer politischen Vertretungen, gegen deren Fiskalpolitik sich die Spitzensteuersätze von 91 Prozent unter dem Republikaner Eisenhower oder 53 Prozent unter dem Konservativen Kohl wie stalinistische Regulierungswut ausnehmen.
Die sogenannten europäischen Werte, ein wahllos verschiebbares Modulsystem aus christlicher Ethik, Aufklärung und gesellschaftlicher Liberalität, dessen Copyright sich dieses brutale System der sozialen Deklassierung und Selbstbereicherung gesichert hat, eignet sich auch bestens zur Vernebelung jener kritischer Hirne, die sich mit ein bisschen Queerness im Fernsehen zufrieden geben. Zwar soll man die soziale Diskriminierung nicht gegen andere Diskriminierungen ausspielen, aber auch nicht darauf hereinfallen, wenn mit der Überwindung dieser die Verstärkung jener kaschiert wird. Denn was nützt dem Transgender, wenn er zwar zu den «Spielen» zugelassen wird, aber das «Brot» auch für ihn knapp wird?
Gab es eine stufenweise Verbesserung der Rechte sexueller und anderer Minderheiten, so wurden die nicht gnadenhalber vom lieben Gott, einem gütigen König oder der Europäischen Kommission gewährt, sondern von den Betroffenen unter großen Opfern selbst erkämpft, zumeist gegen eben jene christlichen Werte des europäischen Abendlandes, das diesen Kampf nun als eigenes Leistungs-Portefeuille vermarkten will. Den falschen Bart von den Gesichtern der ideologischen Trittbrettfahrer zu lüpfen und denen zurückzuerstatten, die ihn verdienen, ist eine der vordringlichen Aufgaben jener, die sich nicht zu falschen Gemeinschaften verbiedern lassen wollen. Conchita Wurst alleine, nicht Europa, nicht Österreich und nicht die Schlagerindustrie, hat die potenzielle Selbstverständlichkeit ihrer Andersartigkeit durchgesetzt. Und das mit respektabler Beharrlichkeit. Schafft hunderte, tausende Wursts, bis Glamour und Queerness so wurst werden, dass der Blick auf bärtige Drag-Queens nicht mehr ablenkt von dem, was uns noch so alles von einer freien Gesellschaft trennt.