Noch sind alle Forums-Mitglieder in freudiger Erwartung und der Datenaustausch ist rege. In einer Viertelstunde findet auf der Online-Plattform ZED.RUN das nächste, große Rennen statt. Es zählt zu den täglichen Fixpunkten im Terminkalender all jener, die den Inhalt ihrer digitalen Geldbörsen gerne in Spiele investieren. ZED.RUN ist ein Online-Marktplatz zum Kaufen, Züchten und Wettkämpfen mit Pferden, sie existieren einzig und allein im Browser. Ihrem Aussehen nach wirken die trabenden Tiere wie zu groß gewordene My Little Ponys aus ehemaligen Kinderzimmern, im Vergleich mit den frühen Figuren aus Plastik scheinen sie trotz immaterieller Existenz um einiges elastischer. Diese Pferde sind umgerechnet ein paar hundert bis hin zu mehreren tausend Dollar wert und können ab einer Anzahl von zwölf Interessierten im virtuellen Raum gegeneinander antreten. Ihre Fähigkeit, sich dabei möglichst aerodynamisch fortzubewegen, verdankt sich einer Programmierung, die allzu oft an ihre Geburt aus dem Geiste der Geometrie erinnert. »Gelobt sei Gott, unser Herr und Beschützer«, hieß es in Chesters Übersetzung von Al-Chwarizmis zweiter Abhandlung über den Gebrauch der indischen Zahlen zu Beginn des zwölften Jahrhunderts; vorangestellt war dieser Lobpreisung ein Satz, der im Zuge eines fehlgeleiteten Übersetzungstransfers aus dem Eigennamen »Algoritmi« den Begriff »Algorithmus« machte.
Gott ist groß und zugleich quadratisch – das suggeriert auch der Text auf der ZED.RUN-eigenen Website. Von der Omnipotenz der Algorithmen, die sich hinter den stärksten Pferden im virtuellen Stall verbergen, ist dort gleich mehrfach die Rede. An mythologischer Überhöhung wird man bis auf Weiteres nichts vermissen: Zur Auswahl gibt es Pferde im Farbspektrum von »Neptun« bis »Mond« und auch der »Abstammung« nach wirken diese nicht länger irdisch. Programmiertechnisch wurde die gesamte Genealogie offenbar mittels Klassen organisiert – potenzielle Käufer_innen können jedenfalls innerhalb der Kategorien »Blutlinie«, »Genotyp«, »Geschlecht« und »Rasse« nach verschiedenen Kriterien auswählen. Selbst im virtuellen Raum scheint der biopolitisch optimierte Genpool noch verbesserbar – und im Fall von etwaigen Zuchtvorhaben solle man ganz auf Pferde der »Genesis-Rasse« setzen. Auf ZED.Run sind diese besonders teuer, den Effekt einer künstlich erzeugten Knappheit macht man sich dort zunutze: »Genesis-Pferde« gehörten demnach nicht nur zum »reinsten Rassetyp«, ihre Anzahl ist vorab auf 38.000 Stück begrenzt; »Nakamoto« hingegen heißt die Blutgruppe von Pferden der Superklasse, benannt nach dem anonymen Erfinder der Kryptowährung Bitcoin; in Pegasusform hat das rätselhafte Pseudonym dahinter endlich Gestalt angenommen.
Als virtuelle Gäste im digitalen Gestüt befinden wir uns mitten in der Materie: ZED.RUN ist nur die jüngste Ausgeburt eines florierenden Geschäfts mit Kryptowährungen, das durch Staatsparanoia und Fake News im (Post-)Corona-Gefolge beträchtlich befördert worden war. Nach Ausbruch der Krise nahm der Verlauf des Bitcoin-Kurses erstaunliche Wendungen: Lag der Wert Anfang 2020 noch bei rund 7.000 Dollar, erreichte er Mitte Mai diesen Jahres mit mehr als 60.000 Dollar seinen bisherigen Höchstwert, erst mit Anbeginn der zweiten Jahreshälfte verlor die digitale Währung wieder. Die mithilfe von australischem Venture-Kapital errichtete Online-Plattform ZED.RUN machte sich diesen Boom früh zunutze. Beim Zahlungsverkehr setzen die Betreiber_innen jedoch nicht auf Bitcoin, sondern die in den Anfängen des Kryptogeldes unter Online-Entwickler_innen besonders beliebte Währung Ethereum. Für den Kauf eines Pferdes ist deshalb eine digitale Geldbörse mit ausreichend vielen »Ethers« Voraussetzung, diese fungiert zugleich als praktische Browser-Erweiterung mit automatischer Blockchain-Anbindung. Bei jedem Transfer werden im Hintergrund Prüfsummen generiert, die den öffentlichen Schlüssel für den vorangegangenen, den aktuellen und den folgenden Hash innerhalb der aus degenerierten Merkle-Bäumen[1] bestehenden Kette beinhalten; verbunden ist diese mit einer verteilten Datenbank, die keine Rückschlüsse auf die Nutzer_innen mehr zulässt. Finanzielle Transaktionen können mithilfe dieses Peer-to-Peer-Bezahlsystems der staatlichen Kontrolle entzogen werden und aus Sicht vieler Blockchain-Aficionados macht dies Sinn – den Big Players im Krypto-Business ist es bislang nur bedingt um vertraulichen Zahlungsverkehr gegangen.
ZED.RUN wirbt auch mit dem Originalitätscharakter seiner Produkte, der Grund dafür ist erneut ein technologischer. Das Blockchain-basierte Spiel begnügt sich nicht mit dem virtuellen Geldaustausch, es will seine Akteure einzigartig erscheinen lassen. Aus diesem Grund wird jedes algorithmisch erzeugte Rennpferd von ZED.RUN als Unikat ausgewiesen, mit dem Kauf erhalten die Kund_innen die Eigentumsrechte daran. Bewerkstelligt wird dies mithilfe von NFTs – eine Abkürzung für »non-fungible Tokens«, die das Gegenteil von »fungible Tokens« sein sollen. Erstere unterscheiden sich von realweltlichen Zahlungsmitteln vor allem dadurch, dass es kein wie auch immer geartetes Maß zur Objektivierung ihres Wertes gibt; nicht-austauschbare Tokens generieren diesen aus sich selbst heraus: Sie können alles wert sein und nichts, eine vorab festgelegte Begrenzung nach oben oder unten gibt es ebenso wenig wie eine feste Bindung an das, was damit als Eigentum klassifiziert werden kann. Ein NFT kann auf ein physisches Objekt ebenso verweisen wie auf ein digitales, kann Kunstwerke, die dauerhaft im virtuellen Raum existieren, ebenso bezeichnen wie Twitter-Tweets mit festem Ablaufdatum. Dabei handelt es sich um nicht mehr als eine Art von virtuellem Geldschein mit Seriennummer, vergleichbar mit dem Universal Unique Identifier (UUID) eines Mobilfunkgeräts oder Computers; er dient als Echtheitsnachweis für das, was damit erworben wurde. Erst durch die öffentliche Aufmerksamkeit und die wachsende Bereitschaft, in NFTs zu investieren, erhielten diese ihren eigentlichen Wert – und im letzten Jahr ist er vor allem infolge der NFT-Investitionen renommierter Kunstinstitutionen gestiegen.
Bisher wurde digitale Kunst nicht als gleichwertig zu Malerei oder Skulptur angesehen, nach Belieben konnte sie geteilt, verwendet und kopiert werden; mit dem Aufkommen von NFTs sollte sich dies schlagartig ändern. Während der Corona-Krise wurde der gegen Geld erwerbbare, digitale Eigentumsnachweis vor allem als Hilfsmittel für Künstler_innen lanciert, denen der Zugang zu Galerie und Museum während dieser Zeit verwehrt blieb; Spekulationsobjekte waren NFTs jedoch von Beginn an und dahingehend unterscheiden sie sich nicht von anderen digitalen Zahlungsmitteln. Auch die am Kunstmarkt hoch gehandelten Objekte sind nicht erst während des ersten Lockdowns zu begehrten Anlageformen für Begüterte geworden. Der Amerikaner Mike Winkelmann alias Beeple hat nun beides in sich vereint: Er veröffentlicht seit rund 13 Jahren Memes, Gifs und Animationen auf Instagram und wurde unlängst zu einem der größten Profiteure einer NFT-Investition: Das Londoner Auktionshaus Christie’s hat eine Collage aus rund 5.000 Miniaturen von Beeple als Non-Fungible Token im JPEG-Format um fast 70 Millionen Dollar verkauft.
Mit Beeples kolossaler Verkaufs-Aktion wird der Internet-Kunst ein Wert beigemessen, der den der Analog-Art bei Weitem übersteigt; was daran frappiert, betrifft jedoch einen ganz anderen Aspekt. Bislang galt Eigentum als hohes Gut innerhalb sämtlicher Rechtsordnungen und geschützt wurde damit vor allem ein ganz bestimmter Begriff von Urheber- bzw. Autorschaft. Die Medien Fotografie und Drucktechnik stellten mit der Möglichkeit zur unbegrenzten Vervielfältigung eines Werkes die Aufgabe des_der Künstler_in zu Beginn des letzten Jahrhunderts ebenso fundamental infrage wie den Originalitätscharakter seiner_ihrer Hervorbringungen – für die Öffnung des seit jeher elitären Kunstbetriebs hin zur modernen Massenkultur war dies eine unabdingbare Voraussetzung. Mit Anbruch des Digitalzeitalters ist die massenhafte Reproduktion längst an die Stelle von Originalität und Einzigartigkeit getreten und die Gegenbewegung dazu hat längst begonnen – verstärkte Bestrebungen des Digital Rights Management zählen ebenso dazu wie die fortschreitende Proprietarisierung vormals Freier Software. Mit den jüngsten Ausgeburten des Krypto-Libertarismus wird diese Tendenz nochmals verstärkt – und die digitale Kopie erhält über den Umweg virtueller Tokens ihren vermeintlichen Originalitätscharakter – ihre »Aura« zurück.
Vielleicht könnte man NFTs noch am ehesten mit jenen vornehmlich immateriellen Tauschäquivalenten vergleichen, die zwischen den Weltkriegen zirkulierten und schon dazumal die Voraussetzungen für den durch staatliche Edelmetall-Vorräte gedeckten Goldstandard nicht erfüllten. Regulative dieser Art, egal ob durch Europäische oder andere Zentralbanken, haben die monetären Experimente der Blockchain-Aficionados von Beginn an nur befeuert; wenn sie von »Freiheit« sprechen, dann meint das ausschließlich die Freiheit ihres Geldes – und sie besteht darin, immense Mengen davon anzuhäufen, ohne dass diese besteuert oder nachverfolgt werden können. Ihnen ist es egal, ob sie in Kunstwerke investieren, die gut verpackt in den Zollfreilagern territorialer Niemandsländer lagern oder im Internet; ihr Mantra ist seit jeher die »bessere Technologie« – der wahre Kontrakt dahinter war jedoch immer schon ein anderer. Er besteht im Vertrauen, das einem Zahlungsmittel zugebilligt wird und beruht infolgedessen auf sozialem Konsens. Kollektiv Nein zu sagen, wäre auch im Fall von NFTs viel wert. Nicht anders als die Tulpenzwiebeln, die im Holland des 17. Jahrhunderts die erste Finanzkrise der Weltgeschichte auslösten, wären neben den Flügelpferden von ZED.RUN & Co. auch Beeples Memes dann bar allen Wertes.