Solche Dichtung, schrieb Robert Musil 1924 über Richard Billingers Lyrik, wachse nicht aus der Heimat wie Stelzhammer oder Stifter, sondern sie kehre zu ihr zurück: »aus der Stadt, von der Universität, von Spital, Bordell, Literatur, Telephon, sagt aber kein Wort davon, sondern sieht sich die Dinge an, die unter diesem Blick sachte zu traumwandeln beginnen.« In den Theaterstücken jedoch kann von einem sachten Traumwandeln kaum mehr die Rede sein, im Gegenteil, wie Musil mit einem Bild veranschaulicht: »Tragisch, wie wenn ein Schrank umfällt; bum!« Das entsprach genau der Tragik, die man am Ende der Weimarer Republik am Theater sehen wollte, und so machte Billinger wieder kehrt und zog unterm Jubel des Feuilletons in die Großstadt ein, wie die Fackel dokumentiert: »... staut sich ein Autopark mit Nummernschildern aus dem ganzen Kontinent ... So viel Prominente der Literatur und des Theaters sah man noch in keinem ... Wieder erwächst … das dramatische Geschehen aus folkloristischem Mimos. Der bäuerliche Mythos enthüllt seinen Tiefsinn ... Urinstinkte der menschlichen Kreatur ... Innviertel ...« Karl Kraus fügte lediglich hinzu: »Und wenn noch frommer Glaube in Blutrausch, Inbrunst in Brunst umschlägt, dann ist kein Zweifel mehr, daß wieder einmal die Dämonen des Innviertels losgelassen sind und Billinger ein neues Stück hat. (Die Mühlviertler sagen, daß sie auch dunkle Triebe haben, Urinstinkte, aber kein Autopark staut sich.) Man ahnt ja nicht, welchen Ruch die Gegend zwischen Ried und Schärding dampft, die man immer nur in Glast gehüllt wähnte. Also erraten.
Doch um es nicht zu erraten, müßte man wirklich von allem Urinstinkt verlassen sein.«
Damit stand auch der Karriere im Dritten Reich nichts mehr im Wege, zu dem sich Billinger sofort inbrünstig bekannte und für das er über die Jahre hinweg zahlreiche propagandistische Beiträge lieferte. Doch so viel Blut- und Bodenrausch konnte gar nicht in seinen Texten sein, dass die »Brunst«, die Kraus darin wahrnahm, nicht auch hier Widerspruch hervorrufen sollte: Ähnlich wie Arnolt Bronnen ist Billinger gerade durch seine exponierte Darstellung sexueller Motive bestimmten Kreisen innerhalb des Nationalsozialismus ein Dorn im Auge. War es bei Bronnen der einige Zeit nicht erbrachte »Ariernachweis«, der diesen Kreisen eine Handhabe bot, gegen ihn vorzugehen, so bei Billinger die ‚ruchbar‘ gewordene Homosexualität. Man hatte ihn 1935 wegen »widernatürlicher Unzucht« verhaftet und vor ein Münchener Strafgericht gestellt, er wurde aber freigesprochen, vermutlich weil der neue § 175, der den Straftatbestand erheblich erweiterte, noch nicht in Kraft getreten war. Danach erschienen zunehmend hämische Artikel, z.B. unter dem Titel »Verfall einer Begabung«; man entdeckte das »Problem der Entartung« in seinen Werken, von »unanständiger Kopulation von Nervenkitzel und Blubospekulation« war die Rede; die Oberösterreicher, so hieß es in der Berliner Börsen-Zeitung, weigerten sich, noch mit Billinger zu reden, müssten sie sich doch wegen ihm fortwährend mit Schaulustigen aus Berlin und Hamburg herumschlagen, die auf der Suche nach Lustmördern und Sodomiten seien. Im Jahre 1941 sprach man sich zweimal innerhalb der NSDAP gegen die geplante Verleihung des Gaupreises Oberdonau an Billinger aus, den er aber dann doch erhielt.
Die hämischen Attacken änderten kaum etwas an seiner Präsenz auf vielen reichsdeutschen Bühnen und im NS-Film, u.a. wurden Luis Trenkers Der Berg ruft, Veit-Harlans Die goldene Stadt und Leni Riefenstahls Tiefland nach seinen Vorlagen gedreht. So wie Billinger Feinde hatte unter den Nationalsozialisten, so hatte er eben auch Freunde, die ihn förderten, und das entsprach genau der Struktur, oder besser Strukturlosigkeit dieses Regimes. Was der deutschen Volksgemeinschaft gemäß war und was nicht und als »entartet« galt, war keineswegs festgelegt wie die »Nürnberger Gesetze«. Vielmehr benötigte man innerhalb der Literatur, Musik und Kunst selbst ein Äquivalent dessen, was als Gegenrasse verstanden wurde, etwas Benennbares, das mit der ‚Abstammung‘ zwar zu tun habe, das sich letztlich aus dem Verhältnis zum Judentum irgendwie ergeben sollte, aber zugleich mit der ‚Abstammung‘ nicht völlig identisch sei, sodass also prinzipiell auch nichtjüdische Schriftsteller dafür haftbar gemacht werden konnten, »verjudete« Literatur zu schreiben. Wie aber die »Nürnberger Gesetze« gewissermaßen ins rein ‚Ästhetische‘ zu übertragen wären, darüber gab es immer wieder mehr oder weniger deutliche Auseinandersetzungen, nicht nur zwischen den Vertretern der Goebbels-, Schirach- und Rosenberg-Lager, sondern innerhalb dieser Lager selbst. Der Maßstab, durch den Werke der Literatur, Kunst und Musik als »entartet« und damit »verjudet« agnosziert werden sollten, war nicht fixierbar, auch nicht die Art und Weise, wie es nachzuweisen wäre – all das musste in den Rivalitäten verschiedener ‚Rackets‘ des Kulturbetriebs sich erweisen, gleichsam ermittelt werden, ohne dass es dafür Regeln oder Gesetze gegeben hätte, außer eben die »Nürnberger Gesetze«. Die Linie der Argumentation war also keineswegs vorgegeben, sondern ergab sich aus Bandenkämpfen, wie sie überall den nationalsozialistischen »Unstaat« (Neumann) bestimmten. Und so war es auch nicht festgelegt, was von der künstlerischen Moderne ins Dritte Reich jeweils überführt und was wiederum bekämpft werden sollte. Klar war nur eines: dass die Juden »auszumerzen« waren.
Die Probleme, die Schriftsteller wie Billinger im Dritten Reich hatten, zeigen darum vor allem, wie schwierig es für den Einzelnen sein konnte, in dem fortwährenden Kompetenzgerangel der einzelnen Instanzen, in dem Hauen und Stechen der Machtgruppierungen sich zu behaupten, und auch hier jenen »sechsten Sinn« zu entwickeln, von dem Hannah Arendt in ihrer Analyse des Nationalsozialismus spricht. Weder der einfache Volksgenosse noch der Funktionär oder Beamte vermochte bei den ständig rivalisierenden Rackets von Partei und Staat, von SA und SS, von SS und Wehrmacht usw. zu wissen, wo sich gerade die Macht befand und welche Position er selber in dem Gefüge eigentlich einnahm, da es doch in diesem »Doppelstaat« (Ernst Fraenkel) keine eindeutig strukturierte Hierarchie mehr gab, an der man sich hätte orientieren können. Es gab im Zweifelsfall immer nur den Führer und die Volksgemeinschaft. Nur jene Art sechster Sinn konnte ihnen sagen, wessen Befehl sie wirklich zu gehorchen hatten und um wen sie sich nicht mehr zu kümmern brauchten. Und solche Befehle wurden zumeist absichtlich unklar gegeben in der Erwartung, der Befehlsempfänger werde den Willen des Befehlsgebers erkennen und danach handeln.
So zeigt sich auch im Literaturbetrieb und in der Literatur, was Neumann für den Nationalsozialismus im Ganzen herausgefunden hat: dass er autoritär und antiautoritär, kapitalistisch und antikapitalistisch zugleich ist. Zweifellos gibt es in vielen Werken Billingers ein antiautoritäres Potential, das von jenem Blick herrührt, in dem – nach Musil – die Dinge sachte zu traumwandeln beginnen. Aber gerade das antiautoritäre Moment ist etwa in Billingers Schauspiel Rosse von 1931/32 bereits auf durchaus fatale Weise antikapitalistisch: Es richtet sich gegen das ‚Establishment‘ des Dorfes, der Bauern, das Maschinen einführen will, dämonisiert die Maschinen, die vorkapitalistische Herrschaftsform der Knechtschaft erscheint demgegenüber als natürliche Ordnung, in welcher der Knecht noch seinen Platz hatte, ja sogar auf seine Art herrschen konnte. In dessen Gestalt wird eine ihrerseits fatale Einheit von Mensch und Natur halluziniert, für letzteres gilt das sexuell getönte Verhältnis des Rossknechts zu den Rössern als Urbild. Dieser Knecht ist als veritabler Anti-Ödipus konzipiert, keine Dionysos-Figur, sondern ein Narziss: für die Befriedigung seiner Triebe bedarf er nur der Pferde. Er ist vollständig autonom. Über seine Kammer im Stall sagt er, es sei so still in ihr wie in einem Tabernakel, als ihn die Rosa »lüstern« in die Kammer begleiten will: »Greif mich an!« wehrt er sofort ab: »Zerstampfeten die Rösser mich, ging’ ich mit wem, mit einem Weibsleut, dahinein! Hab mich ihnen dadrin ja versprochen, angelobt, muß der Treue also bleiben.« Aus diesem Narzissmus erwächst ihm eine ungeheure Macht über die Menschen, selbst über seinen unmittelbaren Herrn, den Bauern: »Meinen Vater hat er buchstäblich tyrannisiert, kein Pferd wollte er verkaufen lassen, der Satan. Lebt da wie ein Herr, wie der Zentaur selber«. Nur die Maschinen können sie brechen, darum bildet der Gegensatz Mensch und Maschine den Konflikt des Stücks: die Maschine als Feind der narzisstischen Mensch-Natur-Einheit erscheint wie die verwunschene Kastrationsdrohung. Wer vor ihr kapituliert, ihr gemäß handelt, auf sie schwört, verkaufe das Ross »wie der Judas den Herrn Jesus!!« Die Not, die für die wirklichen Knechte bestand, die ohne Eigentum auch keine Familie gründen konnten, wird zur Tugend des autonomen ewigen Sohnes, der die Rolle von Jesus übernimmt. Der Selbstmord am Ende imitiert auf heidnische Art den Tod am Kreuz.
Die Außenseiter-Figur steht nicht für sich, exponiert nicht für sich etwa eine ungewöhnliche sexuelle Vorliebe, in ihr hat man es vielmehr mit Präfigurationen der Volksgemeinschaft zu tun, die eben ihrerseits antiautoritär und autoritär in einem gegen die traditionellen Ordnungsinstanzen des Staats und der Kirche aufbegehrt. Daher die Aversion von Karl Kraus – der sonst fürs Ausleben welcher sexuellen Vorlieben auch immer einzutreten wusste – gegen die »Brunst« in Billingers Stücken. Ein Vergleich, wie etwa Hanns Henny Jahnn ganz ähnliche Motive wie Billinger gestaltet, Motive der Regression und unmittelbarer Einheit von Natur und Mensch, könnte im Einzelnen deutlich machen, dass sie in Billingers Stücken anders als bei Jahnn ohne ein Feindbild gar nicht gestaltet werden können, in Rosse fällt es eben nicht zufällig mit dem des Judas als des Verräters zusammen.