1. Postdemokratie
Wir leben in einem Zustand, der oftmals mit dem unglücklichen Begriff der Postdemokratie gefasst wird (1). Falsch an dieser Kennzeichnung ist nicht der konstatierte Mangel an Demokratie, sondern der nostalgische Unterton. Wie so häufig in der Kritik des Neoliberalismus müssen die dreißig glorreichen Jahre nach 1945 als positive Kontrastfolie zum gegenwärtigen Elend herhalten: Lebendige, programmatisch starke Massenparteien und hohe Wahlbeteiligung sind hier die Entsprechungen auf politischen Terrain für Vollbeschäftigung, wachsenden Massenwohlstand und soziale Sicherheit.
In der Postdemokratie der Gegenwart existieren zwar Institutionen wie Parlament und allgemeines Wahlrecht fort. Sie werden jedoch zunehmend als leere Hüllen erfahren, von denen keine Gestaltungsmacht mehr ausgeht. Der Wille der Wähler verliert sich irgendwo in den Vermittlungen des parlamentarischen Systems. Regierungen repräsentieren nicht, sondern schaffen Ordnung und stehen den Bürgern als fremde Macht gegenüber. Die Abgabe der Stimmen bei der Wahl bedeutet nur noch ihren Verlust, kaum mehr ihre kraftvolle Bündelung (2)
Die Unterschiede zwischen den Parteien haben sich abgeschliffen und die Entscheidung über den sozialen Gehalt der Reformen ist immer schon gefallen. So drohte Angela Merkel 2011, man werde in Europa „Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“ (3). Wenn sie an der Macht sind, betreiben alle Parteien dieselbe kapitalfreundliche Politik: Deregulierung des Arbeitsmarktes, Steuergeschenke ans Kapital und Gutverdiener, Privatisierung der öffentlichen Daseinsfürsorge, Aufrüstung der Polizei, Schikanen gegen die Armen, Abschiebung der Fremden. In Deutschland hat die rotgrüne Regierung vor 20 Jahren umgesetzt, wovon Emmanuel Macron heute in Frankreich träumt.
Die materielle Basis dessen liegt in der ungelösten strukturellen Krise des Kapitalismus seit den 1970er Jahren. Solange der nationalökonomische Kuchen wächst, kann auch für die Lohnabhängigen etwas mehr abfallen. Soziologen sprechen von einem Fahrstuhleffekt, durch den der Wohlstand klassenübergreifend wächst. Doch sinkende Profit- und Wachstumsraten verwandeln die Ökonomie seit den 1970er Jahren zunehmend in ein Nullsummenspiel. Wachstumsraten fallen seitdem sukzessive. Der Konjunkturzyklus nach dem Kriseneinbruch von 2008 brachte den schwächsten Wiederaufschwung seit der Great Depression von 1929 (4). Allen bürgerlichen Parteien stellt sich nun die gleiche Aufgabe: die Krise der Profitabilität auf Kosten der Lohnabhängigen zu lösen. „There is no alternative“ – Margret Thatcher legte mit diesem Satz kein Zeugnis ihrer persönlichen Verwerflichkeit ab, sondern verlieh dem Geist ihrer Epoche Ausdruck. Eine Politik ohne Alternativen schafft einen repressiven Konsens (5). Wenn die Bahnen der Willensbildung a priori vorgezeichnet sind, verliert die politische Auseinandersetzung ihre Substanz. Ohnmacht, Misstrauen und Verdrossenheit breiten sich aus.
2. "Populismus"
Der sogenannte Populismus verspricht eine Alternative zur herrschenden Alternativlosigkeit, worauf eine Alternative für Deutschland schon im Namen anspielt. Im Namen der Demokratie kanalisieren seine spin doctors den spontan entstehenden Verdruss auf ihre Mühlen. Outsider-Figuren wie Donald Trump wettern gegen die Kaste der Berufspolitiker und versprechen den Bruch mit dem Betrieb. Investoren und PR-Experten entwerfen Pseudo-Bewegungen wie die italienischen Cinque Stelle am Reißbrett (6).
Der zeitgenössische Faux-Populismus ist „Protest gegen postdemokratische Entwicklungen, aber zugleich auch deren Ausdruck.“ (7) Denn das Volk des Populismus bleibt passiv und vereinzelt (8) Es soll starken Männern wie Matteo Salvini oder Viktor Orbán lediglich akklamieren. Die populistischen Führer bilden eine Gegen-Elite, die beansprucht, den homogen vorgestellten Volkswillen unmittelbar zu verkörpern. Populäre Partizipation und Initiative sind nicht erwünscht. Wie der ungarische Philosoph G.M. Tamás berichtet, mietet Orbáns Partei Fidesz ihre Wahlkampfhelfer, weil es an Freiwilligen fehlt (9).
Auch die internationale Linke versuchte im vergangenen Jahrzehnt in der populistischen Logik zu agieren. Nach der Krise von 2008ff. nahmen Proteste gegen Austeritätspolitik vielerorts die Gestalt von horizontalen Massenbewegungen an (10). Die Platzbesetzungen von Occupy & Co stellten einen Versuch dar eine direkte Demokratie von unten zu etablieren, doch diese Ansätze verloren sich in endlosen Diskussionen, ohne etwas zu erreichen. Ein Institutionalisierungsprozess setzte ein. Neue Parteien wie Podemos oder Syriza versprachen, die Anliegen der Plätze in die Parlamente zu tragen.
In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre versuchten Bernie Sanders und Jeremy Corbyn technokratisch ausgehöhlte Parteiapparate auf einen sozialdemokratischen Kurs zu bringen. Während die Klasse der Lohnabhängigen desorganisiert blieb und Auseinandersetzungen um alltägliche Arbeits- und Lebensbedingungen auf einem niedrigen Niveau verblieben, veranstalteten semiprofessionelle Organizer aus urbanen, studentischen Milieus einen regelrechten Personenkult um „Bernie“ und „Jeremy“. Endloses Campaigning, die diskursive Konstruktion populärer Affekte und Identitäten, sowie die punktuelle Mobilisierung von Mehrheiten an der Wahlurne schienen die Selbsttätigkeit der Massen als Grundlage des Sozialismus ersetzen zu können. Dieser wird so zum paternalistischen Projekt, was in Corbyns Kampagnenmotto „For the many, not the few“ auch deutlich zum Ausdruck kam.
Bei aller Häme sollte man die widrigen Bedingungen in der Bewertung nicht außer Acht lassen: Das Ziel war es, Mobilisierung in einem Zeitalter der Demobilisierung neu zu erfinden (11). Heute ist dieses Projekt vermutlich Geschichte, denn im Winter 2019/2020 sind seine zwei angelsächsischen Flaggschiffe auf Grund gelaufen (12).
3. Die Gelbwesten
Während die Linkspopulisten in der angelsächsischen Welt ihre Kampagnen vorbereiteten, schuf die französische Gelbwesten-Bewegung im Herbst 2018 den Prototyp für einen neuen Kampfzyklus außerhalb der Bahnen institutionalisierter Politik (13). Die Gelbwesten begannen als eine Ein-Punkt-Bewegung zur Verhinderung einer Steuererhöhung auf Diesel und Benzin und vernetzten sich zunächst online. Nach ihrem ersten Protesttag am 17. November 2018 haben sie diese thematischen und räumlichen Grenzen rasch hinter sich gelassen.
Der Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung einer doppelten, ökonomischen und politischen Krise. Es geht einerseits gegen „das teure Leben“, in dem es für viele immer schwerer wird „das Ende des Monats“ zu erreichen. Andererseits gegen den „Präsident der Reichen“, der einem politischen System vorsteht, das die Anliegen normaler Leute nicht mehr repräsentiert. Während diese populistische Grundkonstellation allzu vertraut ist, liegen die überraschenden Momente der Bewegung in ihrer sozialen und geographischen Zusammensetzung und ihren Kampfformen. In den Monaten ihres Bestehens hat sie sich zu einem Experimentierfeld des Klassenkampfs entwickelt, in dem ein starkes „Verlangen nach Demokratie“ (Samuel Hayat), zum Ausdruck kam.
Dem Zuschauer von außen bleiben vor allem die spektakulären Bilder von den verwüsteten Champs-Élysées im Dezember 2018 in Erinnerung. Die wilden Demonstrationen der Gelbwesten hielten sich nicht an das kodifizierte Prozedere politischen Protests, mit den entsprechenden Anmeldungen, festgelegten Routen, Ordnern, Transparenten etc. Sie verwandelten sich immer wieder in riots, gewaltsame Feste der Zerstörung im Herzen der Macht. Ebenso wenig wie die polizeiliche, gelang die symbolische Einhegung durch Parteien oder Gewerkschaften (14).
Mindestens so wichtig wie diese militanten Gesten der Unversöhnlichkeit waren jedoch die unscheinbaren Prozesse an den Kreisverkehren im ganzen Land. Man traf sich dort nicht nur zum Blockieren, sondern auch zum kollektiven Debattieren. Anders als zu Beginn des Jahrzehnts etablierten sich diese Foren direkter Demokratie nicht nur auf den viel fotografierten Plätzen gentrifizierter Metropolen, sondern vor allem in der Peripherie und auf dem platten Land.
Der Übergang von den Facebook-Gruppen in die physischen Versammlungen der Kreisverkehre ermöglichte eine Überwindung der Atomisierung und einen wirklichen Dialog über alle Belange. Diese Erfahrung offenbarte die gesellschaftliche Dimension des eigenen Daseins. „Auf wundersame Weise hat sich die Ödnis in eine Agora verwandelt“ (15), schreibt Guillaume Paoli in seinem Buch über die Bewegung. Mit ihren ungehörigen Umwidmungen des Raums ordneten die Gelbwesten das gesellschaftliche Erfahrungsfeld neu und geraten dabei natürlich in Konflikt mit der Polizei (16).
Jedoch drohte den über das Land verstreuten physischen Versammlungen die Isolierung untereinander. Um den Forderungen der Kreisverkehre auch auf nationaler Ebene Gehör zu verschaffen propagierten Viele das Mittel des Volksentscheids (RIC). Doch dieses Instrument reduziert die Debatte wieder auf vorgegebene binäre Optionen und führt die Subjekte in ihre abstrakte Existenz als vereinzelte Einzelne zurück, die vor dem Rechner oder in der Wahlkabine zwischen pauschalen Angeboten wählen (17).
Relativ vielversprechend ist dagegen eine zweite Tendenz, die auf eine Vernetzung und Verstetigung lokaler Versammlungen zu einer landesweiten „Versammlung der Versammlungen“ setzt. Diese Tendenz greift radikale demokratische Erfahrungen vergangener Kampfzyklen auf, etwa das Prinzip der Räte. Hier werden also neue demokratische, autonome Institutionen aufgebaut, wobei die Delegierten der Kontrolle der Basisversammlungen unterliegen.
In ihrer Suche nach neuen politischen Formen haben sich die Gelbwesten von Anfang an gegen jede Vereinnahmung durch die Profis des Populismus zur Wehr gesetzt. Im Sinne einer „Entprofessionalisierung der Politik zugunsten einer direkten Bürgerbeteiligung“ (18) misstrauen sie nicht nur den Parteien, sondern dem Prinzip der Repräsentation selbst. Einzelne Wortführer der Bewegung, die mit der Regierung verhandeln wollten, erhielten Morddrohungen.
4. Globale Jaunifizierung?
Die Bewegung der Gelbwesten kam in der zweiten Jahreshälfte 2019 weitgehend zum Erliegen. Sie stellte jedoch in mancher Hinsicht das Präludium zum größten globalen Protestzyklus seit den 1960er Jahren dar. Die 2019 vor allem in Lateinamerika und der Karibik, Nordafrika und dem Nahen Osten entstandenen Bewegungen weisen einige markante Ähnlichkeiten mit den Gelbwesten auf. Sie richten sich gegen Austeritätspolitik und/oder die Herrschaft einer oligarchischen Kaste, kämpfen für eine wirkliche Demokratie und/oder bezahlbare Lebensmittel (19). Traditionelle Linke Parteien und Gewerkschaften spielen eine untergeordnete Rolle. Dagegen sehen wir militante Demos, riots und Plünderungen, aber auch Experimente mit direktdemokratischen Versammlungen, etwa bei den Platzbesetzungen im Irak oder in Chile, wo eine verfassungsgebende Versammlung von unten aufgebaut wird (20). Symbole, Slogans und Taktiken zirkulieren zwischen den Schauplätzen. Sie entzünden sich an scheinbaren Kleinigkeiten, wie einer Erhöhung der Fahrpreise in der Metro (Chile), oder einer Steuer auf Messenger-Dienste (Libanon) und radikalisieren sich rasant und rufen nach dem Sturz der Oligarchie. Die für illegitim befundenen Regierungen reagieren mit offener Gewalt, da es an „weichen“ Mitteln zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Regel fehlt.
Die alte Ordnung befindet sich vielerorts in Auflösung, doch eine neue zeichnet sich nicht ab. Denn die überall naturwüchsig von den Verhältnissen hervorgetriebenen Bewegungen zeigen eine hohe Konfrontationsbereitschaft, doch es mangelt ihnen bislang an Stetigkeit und Koordination. Eine weitere Beschränkung liegt auch in ihrer Trennung von der Produktionssphäre. Die Beteiligten sind zum großen Teil Lohnabhängige, die jedoch als solche keine kollektive Macht am Ort ihrer Ausbeutung aufbauen konnten. Nicht zuletzt bleiben die Bewegungen – trotz aller taktischer Innovationen und gewaltiger Zusammenstöße – „symbolisch eingefroren“, wie einige Beobachter es zuletzt anhand der amerikanischen George Floyd Rebellion formulierten: man weiß recht gut, wogegen man ist, aber es fehlt an positiven Bestimmungen des Besseren, das an Stelle der alten Welt treten soll (21).