Die Zombieähnlichkeit vieler Landsleute, insbesondere der kreativen, könnte nicht nur in eingeschliffenen Geschmacksdefiziten, sondern auch psychosomatisch begründet sein. Diese Vermutung legt jedenfalls der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley nahe, der jüngst verlauten ließ, »dass die Deutschen tagsüber die müdesten Menschen in Europa sind«. Wer seinen robusten Infantilismus und seine unverwüstliche Leutseligkeit durch endloses tagnächtliches Spaß- und Kommunikationstraining unter Beweis stellen muss, der strahlt irgendwann zwangsläufig die Weltoffenheit eines agilen Untoten aus, den nichts umhauen kann, weil seine Seele dem Körper längst den Dienst gekündigt hat. Da selbst notorische Leistungsträger spätestens ab Anfang vierzig mittlerweile ziemlich abgenutzt wirken, verabschieden sich deutsche Unternehmen, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. Februar berichtete, allmählich von ihrer anachronistischen Horizontalefeindlichkeit und richten in den Betrieben »Ruheräume« ein, in denen die Mitarbeiter bei Bedarf einen »Powernap« hinlegen können, bevor sie mit Romero-tauglicher Zielstrebigkeit zurück ins Großraumbüro wanken. »An manchem Tag geben sich die Kollegen tatsächlich die Klinke in die Hand«, berichtet der Leiter eines solchen »Service-Centers«, und ein regelmäßiger User gesteht: »Anfangs musste ich es mir ein wenig antrainieren, nach dem Mittagessen dort hineinzugehen, die Augen zu schließen und einfach abzuschalten.« Ohnehin sollte unter den Kurzzeitschläfern am besten ein fliegender Wechsel wie beim Staffellauf herrschen, denn, so weiß Zulley: »Eine halbe Stunde ist die magische Grenze. Dauert das Nickerchen länger, beginnt eine andere Schlafphase, die dafür sorgt, dass es den Menschen schwerer fällt, wieder zu erwachen.«
Den Lebensrhythmus aller auf einen Zustand einzupegeln, in dem sie nie wirklich abtreten, aber auch nie wirklich aufwachen können, darin besteht das Ziel eines ganzen Berufszweigs, der sich der »Entschleunigung« der Moderne, bzw. des sogenannten Turbo-Kapitalismus widmet. Die Psychoökonomie des Schlafs gehört mittlerweile zu den wichtigsten Experimentierfeldern dieser Branche. Schließlich ist die Epoche bürgerlicher Höflichkeit, als Unternehmer, Angestellte und Kunden einander unbesehen den Luxus gewährten, sich Nacht für Nacht für sechs bis acht Stunden nicht auf die Nerven zu gehen, damit jeder in der stillen Dunkelheit der eigenen Intimität versinken konnte, schon lange vorbei. Wer ein kontinuierliches Drittel jedes Tages für den Zweck einfordert, sich der lebendigen Ruhe des Leibes und der Fremdheit der Träume hinzugeben, der gilt als Zeitschmarotzer. Wie Sport, Kultur und Geselligkeit soll der Schlaf zum integralen Bestandteil der Freizeit werden, die sich, beliebig gestückelt, dem Arbeitsleben subsumieren lässt, statt das Leben auf etwas hin zu übersteigen, das mehr und anderes als nur freie Zeit und deshalb Erinnerung an die Unteilbarkeit der Freiheit wäre.
Neben dem Schlaf sind inzwischen auch die Faulheit und die Muße vom Imperativ der Entschleunigung geschluckt worden. Der Schweizer Publizist Manfred Koch rief im vergangenen Jahr in seinem Buch »Faulheit – eine schwierige Disziplin« Führungskräfte und Dauervolontäre auf, sich mittels eines komplexen Selbstoptimierungsprogramms zum kreativen Nichtstun zu erziehen, statt nur irgendwann den Stift fallen zu lassen. Und der Physiker Ulrich Schnabel hat 2010 in seiner Studie »Muße. Vom Glück des Nichtstuns« auf das unerschlossene Erfahrungspotential von Langzeitarbeitslosen hingewiesen, die er »Zwangsentschleunigte« nennt, und denen er andere Möglichkeiten der Wahrnehmung und Nutzung von Zeit als den Erwerbstätigen attestiert. Dass Menschen, die wegen gesellschaftlicher Marginalisierung oder psychischer Behinderung mit dem Fortschritt nicht ganz mitkommen, den von Burn-out geplagten Agenten des »Turbo-Kapitalismus« den Spiegel vorhalten und in ihnen verschüttete Formen des Selbst- und Weltgenusses evozieren könnten, ist indessen ein Gerücht, das lange vor Erfindung der Entschleunigung in die Welt gesetzt wurde. Sein Popularisierer, wenn nicht Urheber ist der Schriftsteller Sten Nadolny, der mit dem 1983 publizierten Bestseller »Die Entdeckung der Langsamkeit« die Slow-Read-Begeisterung entfacht hat.
Nadolnys Buch erzählt in einer Mischung aus Historiographie und Fiktion vom Leben des Polarforschers John Franklin, der wegen der Langsamkeit seiner Wahrnehmung als Schüler gehänselt wird, später als Schiffskapitän arbeitet, auch dort den Demütigungen der Mannschaft ausgesetzt ist und schließlich Naturforscher wird, indem er lernt, aus seiner Schwäche eine Stärke zu machen. In der Ruhe liegt also die Kraft. Und gerade die, die das Leben langsam angehen lassen und deshalb von den Rabauken des Fortschritts für zurückgeblieben erklärt werden, gehen dereinst als nachhaltig Progressive in die Annalen der Geschichte ein. Das ist der eigentliche Grund für Nadolnys fiktionale Überformung einer historischen Figur: Die »wahre«, vom Geschichtslauf nicht artikulierte Geschichte des Abenteurers und Pioniers der Forschung muss erfunden werden, weil die empirische Person nicht genügend Belege für jene geschichtsmächtige Wirkung der Gemächlichkeit hergibt, die Nadolnys Roman veranschaulichen will. Noch heute raunen Liebhaber gediegener Banalität davon, sie hätten erst durch »Die Entdeckung der Langsamkeit« gelernt, welches Glück darin liege, im Leben sein eigenes Tempo zu finden. Dass weniger oft mehr sei, dass es befreiend und horizonterweiternd sei, sich mit den eigenen Ausfallerscheinungen zu versöhnen, statt sie als Symptome der Unversöhntheit der Welt zu begreifen, und dass der Verzicht auf die Exzesse von Luxus und Konsum eine neue Form von Genuss ermögliche, diese Annahmen sind der gemeinsame Nenner der verschiedenen Slow-Bewegungen, die seit Mitte der achtziger Jahre weit über das grüne Bürgertum hinaus immer beliebter geworden sind.
Die bekannteste, die »Slow-Food-Bewegung«, wurde drei Jahre nach dem Erscheinen von Nadolnys Buch ins Leben gerufen. 1986 gründete sich in Italien eine Art Agrarkommune, die das »Recht auf Genuss« gegen die Fressattacken von McDonald’s und Burger King verteidigen wollte. Zunächst ging es ihr um die Rückbesinnung auf regionale Produkte und »bewusste« Formen des Essens und Genießens, deren Modell die archaische Landküche bildete. Später gründete sich mit »Cittàslow« auch ein urbaner Ableger, der die Ernährungsweise der Großstädter entschleunigen wollte, die Kritik am Fast Food in den Mittelpunkt stellte und den antiamerikanischen Affekt der Bewegung verstärkte. Entschleunigt werden soll heute aber längst nicht mehr nur das Essen. Philosophen und Künstler betreiben unter Berufung auf die »Naturästhetik« des Philosophen Gernot Böhme und seiner Schüler die Entschleunigung ästhetischer Wahrnehmung im Namen »ästhetischer Ökologie«, Bürgerinitiativen entschleunigen den Groß- und Kleinstadtverkehr, Energiepolitiker den Stromverbrauch, Montessori-Pädagogen die frühkindliche Erziehung und Meditationsgurus das Denken. Dass der Begriff von Betriebspsychologen nun ins Arbeitsleben importiert wird, korrumpiert ihn daher nicht, sondern bringt ihn zu sich selbst. Wo immer Entschleunigung gepredigt wird, kann man sicher sein, dass es nicht um die Abschaffung von Verhältnissen geht, die das Leben der Menschen als diskontinuierliche Reihung von Sprints in Richtung Herzinfarkt erscheinen lassen, sondern um die ökonomischere und daher »menschenfreundlichere« Verteilung der Zumutung, die die Welt bedeutet, auf der Lebens-linie des Einzelnen. Deshalb wird die Entschleunigung als »Humanisierung« der Arbeit, des Alltags oder gleich der Zivilisation verkauft.
In letzter Konsequenz geht es den Ideologen der Entschleunigung gar nicht darum, den Konsum spezifischer Waren zu bekämpfen, sondern um die Entwicklung und Propaganda neuer, den gesellschaftlichen Zwängen konformer und eben deshalb »genussvoller« Weisen des Konsums von Zeit. Die Zeit erscheint im Jargon der Entschleunigung nicht als apriorische Anschauungsform, die in sich selber gar nichts »ist«, aber Wahrnehmung, Denken und Handeln konstituiert, sondern ebenfalls als Konsumobjekt. Leute, die sich von Fast Food ernähren, die lieber mit dem Auto als mit dem Fahrrad fahren, die Romane verschlingen, statt in ihnen zu versumpfen, oder die zu viele Überstunden machen, sind dieser Auffassung zufolge – wenn sie auch sonst nichts gemein haben – verantwortungslose Zeitfresser, die die Kostbarkeit des vergänglichen Gutes nicht zu schätzen wissen. Die alte, keineswegs sympathische Losung der aufsässigen Jugend, »Live fast, love hard, die young«, kann demnach nur Ausdruck von schnödem Hedonismus und selbstzerstörerischem Exzess sein. Wo die Erziehung schon im Mutterbauch beginnt, die eigene Produktivität mit dem Exitus nicht endet und lauter Leichen mit Facebook-Profil vor sich hinwesen, ist nachhaltiges Leben, Lieben und Sterben angesagt. Vergessen wird dabei, dass die menschliche Geschichte hindurch keineswegs alles zu schnell, sondern vieles tatsächlich stets zu langsam ging, zuvorderst die Abschaffung von Dummheit, Hass und Herrschaft. Zu schnell fortschreiten tut nicht der Fortschritt, sondern die Verblödung, und sich ein langes Leben zu wünschen, ist sinnlos, wenn man sich das Leben lang dann doch nur wünscht, dass es bald enden möge.
An diesem Missverständnis wird sich nichts ändern, solange die Zeit als Gegenstand begriffen wird, der sich benutzen lässt wie ein Fahrzeug. Die Zeit selbst »kann fast überhaupt nichts, die Zeit kann nur vergehen« (Funny van Dannen). Der Mensch aber, der in der Zeit erscheint, will nicht einfach vergehen wie sie, er ist der Zeit entsprungenes, mit der Qualität der Vergänglichkeit ausgezeichnetes individuelles Leben. Wenn die verrinnende Zeit ihn beherrscht, so ändert er nichts daran, indem er strenger über die eigenen Geschwindigkeitsüberschreitungen wacht. Er muss die Geschichte anhalten, die als der verrinnenden Zeit unterworfene doch nur die Vorgeschichte ist. So wie selten, aber manchmal die Bahnfahrgäste nach einer glücklichen Panne harmlos plaudernd ihren Ärger gleichzeitig mit ihrem Reisezweck vergessen, so werden sich die Menschen, manche Bilder von Renoir und Monet versprechen es in der allein angemessenen Vorsicht und Zartheit, neben den Gleisen des leergelaufenen Fortschritts zu ihrem ersten Frühstück im Grünen versammeln, wenn die blinde Zeit zerronnen ist und ihre eigene begonnen hat.