In Riga, Lettland, fand im Oktober 2013 die fünfte Media Art Histories (MAH) Konferenz statt. Die erste Konferenz dieses Titels hatte 2005 in Banff in Kanada stattgefunden, als Ergebnis einer Kooperation von u.a. dem Leonardo-Magazin und der Abteilung für Bildwissenschaften der Donau-Uni Krems. Laut Oliver Grau, Professor für Bildwissenschaften in Krems, wurde es als Missstand empfunden, dass es keine internationale Konferenz gab, die sich explizit mit der Geschichte der Medienkunst beschäftigte. Die erste Konferenz wurde, wie Wendy Coones zu berichten weiß, ein voller Erfolg, weil das abgelegen in den Rocky Mountains liegende Banff Arts Centre die Konzentration förderte. Wendy Coones, die ebenfalls an der Donau-Uni arbeitet, hatte MAH 2005 mit organisiert. Im Anschluss an Banff wurde ein Reader[2] bei MIT Press herausgegeben, was stark zur internationalen Sichtbarkeit von MAH beigetragen hat. In diesem Band wird eine sehr spezifische, institutionell ausgerichtete Version von Medienkunst thematisiert. Offensichtlich geht es darum, einen Kanon der Medienkunst zu etablieren, doch dazu mehr später. MAH ist jedenfalls eine Erfolgsgeschichte und die nächste Konferenz 2015, wieder in Kanada, ist bereits in Vorbereitung.
Eine Sonderposition in dieser Geschichtsaufarbeitung nimmt die sogenannte Medienarchäologie ein. Dabei geht es nicht um Archäologie im eigentlichen Sinn, sondern um Archäologien des Wissens, in Anlehnung an die so benannten Forschungsstrategien von Michel Foucault. Sie nimmt Phänomene der Gegenwart zum Ausgangspunkt und zeigt, dass es ähnliche Dinge auch in der Vergangenheit bereits gegeben hat, nur mit anderen technischen Mitteln. Im günstigsten Fall kann man der Medienarchäologie zuschreiben, dass sie bestimmte Konstanten im menschlichen Denken aufzeigt, die unabhängig von der verwendeten Technologie existieren. Damit kann aber auch eine starke Entpolitisierung stattfinden, indem der sich verändernde sozialpolitische Horizont ausgeblendet wird. Oliver Graus Buch Virtual Art (2003), eine Art Medienarchäologie der virtuellen Realität, ist inzwischen laut Angabe des Autors das meistzitierte Buch der modernen Kunstgeschichte. Grau gibt sich große Mühe zu zeigen, dass Virtual Reality die Tradition verschiedener Techniken der Illusion, der Panoramamalerei und anderer immersiven Techniken weiter schreibt. Er versucht damit zugleich den Beweis zu erbringen, dass VR-Kunst ganz selbstverständlich Teil der Kunst ist.
Genau dasselbe aber unter umgekehrten Vorzeichen sagt Matthias Michalka, Kurator am MUMOK Stiftung Ludwig Wien und dort u.a. für die Ausstellung Changing Channels (2012) verantwortlich, die sich mit dem Verhältnis der Kunst zum Fernsehen beschäftigte. Michalka wollte zunächst gar kein Interview geben, weil er der Ansicht ist, dass die Kategorie Medienkunst überflüssig sei. Jede Kunst sei letztlich Medienkunst, weil Kunst immer an ein Medium gebunden ist. Eine besondere Kategorie Medienkunst einzuführen sei nicht nur unnötig, sondern letztlich sogar schädlich für Künstler_innen, die sich mit neuen Medien beschäftigen. Damit könnten diese Praktiken in eine Nische abgeschoben werden und genau das wäre auf lange Sicht kontraproduktiv. Michalka referenzierte dabei auf einen grundlegenden Text der amerikanischen Kritikerin Rosalind Krauss[3], in dem diese den Begriff der Postmedialität einführte.
Krauss arbeitete sich an der Position des einflussreichen Kritikers Clement Greenberg ab, dem Theoretiker der großen amerikanischen abstrakten Maler der Nachkriegsperiode war. Eine zentrale Stellung nimmt bei Greenberg der Begriff der Selbstreflexivität des Mediums ein. Die Malerei habe, indem sie alles andere abgestreift und sich immer stärker mit ihrem inneren Wesen beschäftigt habe, zur Fläche als ihrem eigentlichen Material und Medium gefunden. Was Greenberg 1961 nochmal auf den Punkt zu bringen versuchte[4], war zu jenem Zeitpunkt eigentlich schon vorbei, denn die Explosion der Kunst in den 1960er Jahren verließ die Fläche, und auch die Malerei und wandte sich allen möglichen Medien zu. Neo-Dada, Fluxus, Konzeptkunst, Mail-, Body- und Land Art, und schließlich auch Performance und Videokunst erlaubten es Krauss in den 1970er Jahren von einer postmedialen Kondition zu sprechen. Diese schlüssige Erklärung erfährt allerdings eine seltsame Wendung, denn sie mündet in die Aussage, dass die von Krauss bevorzugte Kunst sich letztlich doch wieder traditioneller Medien wie der Zeichnung bediente.
Und insofern ist auch das Argument von Michalka ambivalent. Einerseits ist die Nischensituation der Medienkunst tatsächlich ein Problem, weil sie damit ohne Anschluss an das kritische Reflexionspotential der Kunst bleibt. Michalkas Argument wäre aber überzeugender, wenn Museen wie das MUMOK sich mehr mit aktuellen Medienkunstpositionen beschäftigen würden. Doch die meisten Museumsausstellungen, die sich mit der postmedialen Kondition beschäftigen, enden zeitlich irgendwann in den 1970er Jahren und werden begleitet von ratternden 16-mm-Projektoren, Kodak-Karrussel-Diaprojektoren oder archäologisch anmutenden Sony-Schwarzweiß-Monitoren. Michalka rechtfertigte das mit einer berühmten Idee Walter Benjamins, der meinte, Medien würden zwei Mal ihr utopisches Potenzial offenbaren, das erste Mal, wenn sie ganz neu seien, und das zweite Mal in dem Moment, in dem sie obsolet werden. So lässt sich z.B. erklären, dass die künstlerische Beschäftigung mit Film in den späten 1960er Jahren einen enormen Aufschwung nahm, genau zu dem Zeitpunkt, als Fernsehen und Video den Film zu verdrängen begannen. Wenn damit aber gerechtfertigt wird, dass im Museum immer noch Film als neues Medium gehandelt wird, dann klafft hier offensichtlich eine Lücke.
Diese Ambivalenz betont auch die Berliner Kuratorin Inke Arns. Die Leiterin des Hartware Medienkunst Vereins (HMKV) Dortmund ist zwar gegen die Ghettoisierung der Medienkunst, meint aber zugleich, dass die Medienkunst eben nicht in der größeren Kategorie Kunst aufgeht. Bestimmte Fragestellungen zum Verhältnis zwischen Technologie und Gesellschaft werden laut Arns in der Medienkunst in einer Tiefe und mit einem speziellen Wissen behandelt, wie es in der Museumslandschaft nur selten vorkommt.
Mit dieser Ambivalenz hat der in Wien lebende, kanadische Künstler Robert Adrian X sein ganzes Leben zu kämpfen gehabt. Der ausgebildete Maler kam über London nach Wien und begann 1979 an künstlerischen Experimenten mit Telekommunikation zu arbeiten. Die Möglichkeit ergab sich über ein von der kanadischen Regierung gesponsertes Programm, Technologien zu nutzen, um selbstverwaltete Künstlergalerien wie zum Beispiel Western Front in Vancouver mit anderen Orten zu verbinden. Die technische Grundlage lieferte die Firma I.P.Sharp, die ein Timesharing-Netzwerk betrieb. Dabei werden Terminals über Telefonleitung mit einem Mainframe-Computer verbunden. Ab 1980 betrieb Adrian X ein Künstlernetzwerk namens Artex mit mehreren Dutzend Teilnehmer_innen, die über die ganze Welt verstreut waren. In einer Serie von Projekten mit dem Titel WienCouver verband er Wien und Vancouver. Die Kommunikation über die Computerterminals würde man heute als Chat bezeichnen, daneben gab es auch so etwas wie Foren mit asynchroner Kommunikation. Zusätzlich wurde sogenanntes Slowscan TV eingesetzt, ein Bildfax-Verfahren, das mehrere Sekunden brauchte, um Zeile für Zeile ein neues Bild aufzubauen. Trotzdem konnte damit so etwas wie ein dynamischer Effekt erzielt werden und im Rahmen von WienCouver wurden speziell für dieses Medium konzipierte Performances durchgeführt.
Robert Adrian X erzählt von einem Aha-Erlebnis, das er bei einer der ersten dieser Performances hatte. Er saß neben Richard Kriesche und beide chatteten miteinander über die Terminals von I.P.Sharp, als sie realisierten, dass die Daten über den Rechner der Firmenzentrale in Toronto gingen. »Da öffnete sich für mich dieser Raum,« berichtete Adrian X. Die Kunst der Telekommunikation ist eigentlich eine Raumkunst, sie eröffnet den Teilnehmenden einen gemeinsamen Raum für die Dauer der Performance. Deshalb meint Adrian X, dass man, wenn man sich mit der Geschichte der Medienkunst beschäftigt, immer weiter zurückgehen müsse. Das Telefon ist für ihn das entscheidende Medium, weil es bereits die Möglichkeit eröffnete, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Und, ähnlich wie für Marshall McLuhan, ist für ihn das eigentliche Netz der Netze nicht das Internet, sondern die Elektrizität.
Robert Adrian X betont zugleich wie randständig diese Experimente der Kunst und Telekommunikation waren. Die Geschichtsschreibung kann leicht einen falschen Eindruck erwecken. So wurde zum Beispiel in den letzten Jahren immer mehr interessantes Material über Vorformen der Medienkunst in den 1960er Jahren publiziert. Initiativen wie Experiments in Art and Technology (E.A.T.) und die Ausstellungen Cybernetic Serendipity (1968) und So mftware (1970) lassen die späten 1960er Jahre wie eine Blütephase der Medienkunst erscheinen (obwohl der Begriff selbst noch nicht verwendet wurde). Doch in der Erinnerung des Künstlers waren die Sixties vor allem von Pop-Art geprägt. Und das erreichte solche Auswüchse, dass vor lauter farbenprächtigen Pop-Art-Werken kaum noch etwas anderes zu sehen war. In der Folge der Revolten von 1968, die in den USA erst 1970 ihren Höhepunkt fanden, wurde die Kunst jedoch plötzlich sehr antikommerziell. »Die meisten Galerien mussten zusperren oder sie nannten sich Informationsgalerien, boten viel Lesestoff und nahmen Eintritt an der Tür für Performances,« berichtet Adrian X.
1980 war dann mit einem Schlag wieder alles anders. Die Malerei war zurück und zwar mit einem gewaltigen Boom. Und dieser dauerte fast die gesamten 1980er Jahre an. Die Medienkunst im engeren Sinn schuf sich mit Festivals wie der Ars Electronica ihre eigenen Orte. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung dominierten großformatige »wilde« Malerei, und später Neo-Geo und Neo-Konzeptkunst. Während dieser gesamten Phase produzierte Robert Adrian X als Künstler weiterhin Objekte für den Verkauf in Galerien und führte zugleich die Experimente mit Telekommunikation weiter. Eine Kluft tat sich auf zwischen einer Kunst, die sich aktiv mit den neuen Technologien beschäftigte und der Museums- und Galeriekunst, die diese Strömungen weitgehend ignorierte.
Die 1980er Jahre sind tatsächlich eine Art »schwarzes Loch« hinsichtlich der Geschichtsschreibung der Medienkunst. Damals wurde eines der ältesten der neuen Medium, das Radio, zu einer wichtigen Institution, weil es den neuen Entwicklungen Raum gab. Heidi Grundmann, langjährige Ö1-Kunstjournalistin, präsentierte das Artex-Netzwerk in ihrer Sendung »Kunst heute«, live im Studio im Funkhaus. Später erhielt sie mit Kunstradio-Radiokunst ihre eigene Sendung, die bis heute existiert und nun von Elisabeth Zimmermann geleitet wird. In den späten 1980er, frühen 1990er Jahren begann das Kunstradio systematisch, Telekommunikationsprojekte zu fördern. Ab 1991 gab es Kollaborationen mit der Gruppe X-Space aus Graz, gegründet von Horst Hörtner und Gerfried Stocker, heute Leiter des Ars Electronica Futurelab, bzw. Festivals. In Zusammenarbeit mit X-Space, der Initiative Transit und Künstler_innen wie Seppo Gründler und Mia Zabelka wurden Live-Schaltungen zwischen verschiedenen
Studios realisiert.
Für Heidi Grundmann realisierte sich mit diesen Projekten wie z.B. Chipradio (1992) die älteste Radio-Utopie: die schon von Bertolt Brecht geäußerte Idee, dass das Radio ein Medium für Zweiweg-Kommunikation sein solle. Von der Politik wurde das Radio künstlich zu einem Einwegmedium gemacht. Die utopischen Ideen der russischen und italienischen Futuristen zum Radio als einem Medium der Instant-Kommunikation, befreit von den Zwängen der Sprache, der Syntax, des Sinns, schienen in diesen Experimenten Wirklichkeit zu werden. Einer der Höhepunkte dieser Entwicklung war das Projekt Horizontal Radio bei der Ars Electronica 1995, bei dem dutzende Studios, Server und Orte miteinander verbunden wurden. Das geschah praktisch zeitgleich mit der öffentlichen Verfügbarkeit des Internet.
Mit dem WWW kam eine neue Generation von Netzkünstlern in die Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurde die Netzkritik – ein von Geert Lovink und Pit Schultz geprägter Begriff – auf der Mailingliste Nettime entwickelt (neben anderen Listen wie Rhizome, Syndicate, Empyre oder Seven Eleven). Man traf sich zu Meetings, manche davon beinahe verschwörerische Geheimtreffen, wie jenes am Rande der Biennale von Venedig, wo die Gruppe net.art gegründet wurde. Net.art war eine lose Assoziation von Künstler_innen, darunter Heath Bunting, Vuk Cosic, Olia Lialina, Alexei Shulgin, Rachel Baker, sowie das Künstlerpaar Jodi.org. Mit ihren Werken und Taktiken, ihren listig-verschrobenen Postings, ihrer Performanceartigen Präsenz im Netz wurden die net.artists schnell zu Szene-Stars. Bis heute hat sich dieser Effekt, auch auf Grund eines gewissen Herdeneffekts, nur noch verstärkt, so dass viele Jüngere Netzkunst mit der net.art Gruppe gleichsetzen.
Dieser Umstand störte die holländische Autorin Josephine Bosma. Sie war von Anfang an dabei gewesen und hatte mit ihren Artikeln und Interviews viel zum schnellen Ruhm von net.art beigetragen. Mit der einsetzenden Kanonisierung in den 2000er Jahren entwickelte sich jedoch eine verengte Sicht auf die Vergangenheit. Um dem etwas entgegenzusetzen, schrieb Bosma das Buch Nettitudes[5], ihre Abrechnung mit dieser schnelllebigen und aufregenden Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts. Wie Bosma im Interview meinte, ist sie »nicht gegen net.art,« sondern wollte vor allem andere Praktiken, die durch den Ruhm von net.art verdrängt wurden, verewigen, »Projekte wie jene von Robert Adrian, X-space, aber auch Ponton/Van Gogh TV, in denen das Netz nicht als visuelle Oberfläche genutzt wurde, sondern als Kommunikationsraum.«
Mitte der 1980er Jahre realisierte Adrian X eine Reihe von Telefonkonzerten zwischen Wien, Berlin und Budapest. Mittels der Midi-Steuersignale konnten sie sozusagen unter dem Eisernen Vorhang durchschlüpfen. Mit der beginnenden Öffnung des ehemaligen Ostblocks ab 1989 setzte auch ein intensive Reisetätigkeit ein. Video- und Medienkunstaktivistinnen wie Nina Czegledy und Kathy Rae Huffman begannen, feministische Medienkunst-Netzwerke zwischen Ost und West zu knüpfen. Auf der Mailingliste Syndicate entwickelte sich ein intensiver Austausch mit Deep Europe, wie Mittel-, Ost- und Südosteuropa damals genannt wurden.
Viele dieser Aktivitäten haben bislang bei der Konferenzserie MAH und den sie begleitenden Publikationen kaum Beachtung gefunden. Die Bemühungen zur Kanonisierung einer bestimmten Ausrichtung von Medienkunst tendieren dazu, alte Werk- und Künstlerbegriffe wieder zu errichten: das Kunstwerk als in sich geschlossenes Werk mit klar zuordenbarer Autorenschaft. Die gerade geschilderten Projekte hingegen waren prozesshaft, offen, arbeiteten auf verschiedenen technischen und sozialen Layern, ohne klare Abgrenzungen zwischen Künstler_innen und Publikum. Die Arbeiten von net.art Künstlerin Olia Lialina z.B. feierten das Do-it-yourself-Ethos des frühen Internet und die Web-Produktion von User_innen. Diese Zugänge, Haltungen und Positionen stimmten mit der neuen Realität des Netzes viel eher überein als Verherrlichungen einsamer, meist männlicher Pioniere[6].
In den 2000er Jahren verschoben sich erneut die Parameter. Das Web 2.0 entstand und »social media« erlebte einen rasanten Aufstieg. Die Idee der eigenen Homepage von Individuen wurde von den neuen (anti)sozialen Netzwerk-Sites in den Hintergrund gedrängt. »Ich bin von einer Generation, die sich nie gedacht hätte, dass Geocities einmal verschwinden würde,« erklärte die brasilianische Netzkünstlerin Giselle Beiguelman. Geocities war ein Gratishosting-Service wo User_innen ihre Homepage in einer virtuellen Stadt platzieren konnten. Beiguelman argumentiert, dass wir im Zeitalter von Youtube einen ganz anderen Zugang zur Geschichte brauchen, weil es nicht nur um Kunst sondern kulturelle Erinnerung überhaupt geht. Zugleich wendet sie sich gegen Formen der Geschichtsschreibung, die eine falsche Kontinuität suggerieren. In den letzten Jahren wurde es Mode, in die Geschichte zu gehen und Ahnen der Netzkunst zu finden. So werden in Brasilien z.B. Elio Oiticica und Lygia Clarke auf Grund ihrer partizipatorischen Arbeiten der 1960er Jahre als Vorfahren der Netzkunst gesehen. Falsch, meint Beiguelman. Das Netz sei ein einmaliges Environment mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Neben einer Ästhetik der Transmission, wie sie es nennt, besteht die Einmaligkeit des Netzes darin, dass sich seiner Milliarden an Menschen als aktive Mitproduzent_innen bedienen.
Auch der russische, in den USA lehrende Medientheoretiker Lev Manovich versteht Social Media als einen Quantensprung. »In den 1990er Jahren, als diese Dinge neu waren, habe ich mich im Bereich der Medienarchäologie betätigt,« erklärte Manovich, »um zu zeigen, dass diese Dinge eine Kontinuität in der Kulturgeschichte hatten. In den 2000er Jahren begann ich mich umzuorientieren und zu fragen, was denn wirklich neu ist.« Wirklich neu ist laut Manovich, dass heute bei praktisch jeder Form von kultureller Produktion im weitesten Sinn, Software im Spiel ist. Und diese Software ist nicht einfach nur neutrales Werkzeug, sondern legt den Rahmen dessen vor, was wir tun können. Schon in den 1960er Jahren konnte McLuhan behaupten, dass das Medium die Botschaft sei, dass nicht nur der Inhalt der Medien zählt, sondern auch die Form des Mediums selbst. Der deutsche Literaturwissenschafter Friedrich Kittler hat diesen Gedanken weiter gedacht und auf die verschiedensten Aufschreibesysteme[7] angewandt. Manovich[8] argumentiert, dass durch die Eigenschaften der Software als Aufschreibesystem eine ganz neue Wirklichkeit geschaffen wird. Der Begriff des Mediums löse sich durch die Software auf. Deshalb könne es auch keine Medienkunst mehr geben.
Ähnlich sieht das auch der kanadische Künstler Robert Adrian X. Er wendet sich gegen jene Sichtweise, die sich beschwert, dass die Medienkunst noch nicht wirklich im Kunstsystem angekommen sei. Mit dem Web, den sozialen Medien und der digitalen Kultur jedoch stelle sich diese Frage gar nicht mehr, meint Adrian X. Der Großteil der jungen Generation sei permanent mit sozialen Medien beschäftigt, mit eigenen »kulturellen Werken« im weitesten Sinn. Genauso wie seine Generation sich nicht darum gekümmert habe, ob ihre Experimente Kunst seien, sei das auch den heutigen »digital natives« egal. Die fortgeschrittenen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts haben den Kunstbegriff bereits bis an den Rand des Zerspringens gebracht. Mit der postmedialen Kondition im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage, ob Kunst in der bisherigen Form überhaupt noch eine Zukunft hat. Das ist keine pathetische Ansage über das Ende der Kunst, aber es ist klar, dass neben einer neuen Geschichte der Kunst auch eine neue Definition ihrer Rolle im gesellschaftlichen Gefüge gebraucht wird.