Die Kulturindustrie hat es am liebsten ganz intim und unpolitisch. Eben darum liebt sie den Krieg. In ihm findet sie ihren vielleicht spektakulärsten Gegenstand: technische Leistungsschau mit unverstellten Gefühlen, Reality-TV in höchster Vollendung. Umgekehrt gerät die kulturindustrielle Inszenierung zugleich selbst wiederum zum unverzichtbaren Bestandteil der Kriegsanstrengung. Wo es früher weitschweifiger Legitimationsideologien bedurfte, tut es im Spätkapitalismus – ein Bild sagt schließlich
mehr als tausend Worte – ein einziger geschickt inszenierter Schnappschuss. Gerade als militärisch unterlegene Partei platziert man daher gerne ein paar Granatwerfer im Schutz von Krankenhäusern, Kindergärten oder unwiederbringlichen Kulturschätzen, um das mediale Empörungsbedürfnis auf den richtigen Flecken Erde zu dirigieren. Fühlt sich das metropolitane Publikum erst einmal als Weltgewissen umschmeichelt, lässt die Belohnung in Gestalt von Waffenlieferungen und Blauhelmen in der Regel nicht lange auf sich warten. So gewannen Bosnier und Kosovaren den jugoslawischen Bürgerkrieg.
Auch die palästinensische Nationalbewegung hat sich auf diese Strategie spezialisiert. Ohne die Aufmerksamkeit, die die Weltöffentlichkeit seit Jahrzehnten dem so genannten Nahostkonflikt entgegenbringt, wäre sie schon längst am Ende gewesen; so hat ihre Ikonographie – der Friedensnobelpreisträger mit der Kalashnikow, die Leichenbegängnisse mit den Rache schwörenden Angehörigen, der schwarz-weiße Feudalisten-lappen – beinahe weltweiten Wiedererkennungswert. Auf der Beliebtheits-skala ganz oben rangiert dabei der kleine steineschmeißende Junge. Er vereint emblematisch all das, was der Antizionist dem ›künstlichen zionistischen Gebilde‹ entgegenstellt: die natürliche Vitalität wie die natürliche Unschuld. Ein Kind kann für nichts verantwortlich gemacht werden und darum auch nichts falsch machen; und eben darin besteht das Erfolgsgeheimnis des palästinensischen Kampfes. Reagiert Israel auf dessen Aggressionen nicht mit Gegenangriffen, zieht es sich gar aus besetzten Gebieten zurück, so hat es sich vor aller Augen als schwach erwiesen. Setzt es sich aber, wie zuletzt im Falle der Free-Gaza-Flottille, zur Wehr, stehen am Ende die Bilder, auf die es die Akteure von Anfang an abgesehen hatten: Märtyrerproduktion fürs Völkerrecht.
Für das erwünschte Resultat braucht es freilich längst schon keine gezielte Pallywood-Regie mehr. Die Wirklichkeit ist auch so schon ideologisch genug. Zum Bild geronnen, bietet sie sich als Projektionsfläche für einschnappende Reflexe dar, und die von den Sympathisanten der palästinensischen Sache etablierten Bedeutungsraster legen sich quasi naturwüchsig übers Geschehen aus Nahost. Denn in Gestalt des Bildes, das dem Publikum in Presse, Funk und Fernsehen unvermittelt gegenübertritt, bleibt das Wesentliche, die politische und historische Konstellation, konstitutiv außen vor – und damit kaum eine andere Haltung übrig als die sentimentale: Indem er aufs Leid der anderen mit Empörung und gerechtem Zorn reagiert, bestätigt der Betrachter vor allem sich selbst, ein guter Mensch zu sein. Die Aufnahmen des kleinen Mohammed al-Durrah, der 2000 Opfer eines Feuergefechts der israelischen Polizei mit Kämpfern der ›Al-Aqsa-Intifada‹ wurde, kannte damals jeder, der Nachrichten sah; die Klarstellung, dass es die palästinensischen Schützen waren, die al-Durrah auf dem Gewissen hatten, war ein paar Monate später kaum auch nur eine Kurzmeldung wert.
Wenn daher, gegen den Sog der Bilder, ein Film tatsächlich einmal die israelische Situation mit der notwendigen historischen Tiefenschärfe darstellt, ist das also eine mindestens bemerkenswerte Leistung. Beiden hier in Rede stehenden Filmen gelingt das auf sehr unterschiedliche Weise. Uniform Panzer Kokon – Militärdienst in Israel von Nina Bittcher und Jean-Philipp Baeck, bereits 2009 gedreht, aber bislang nur in ausgewählten Sonder-vorstellungen gezeigt, scheint auf den ersten Blick strittigen politischen Fragen aus dem Weg zu gehen und sich stattdessen ganz aufs Individuelle zu fokussieren. Porträtiert werden vier junge israelische Erwachsene, drei Männer und eine Frau, die rekonstruieren, welche Bedeutung der Militär-dienst in ihrer Biographie einnimmt. Der Einschnitt, das wird in jedem Fall deutlich, ist drastisch; nicht bloß die beschlagnahmte Lebenszeit (drei Jahre für Männer, zwei für Frauen), sondern vor allem die direkte Konfrontation mit und die Verantwortung über Leben und Tod. Die Porträtierten gehen damit durchaus unterschiedlich, nicht selten auch widersprüchlich um; die Spannbreite der Reaktionen reicht von der traumatischen Erfahrung erzwungenen Erwachsenwerdens bis zum unterschwelligen Stolz, im Vergleich zu Gleichaltrigen anderer Länder über einen höheren Grad an Reife zu verfügen.
Gerade der biographische Zugang der Filmemacher widersetzt sich konsequent dem Klischee. Wer den gefühlsverkrüppelten Aggressor erwartet oder auch dessen ebenso beliebtes Gegenstück, den ›guten Israeli‹, dem die Erfahrung der Gewalt die Augen öffnete, wird zwangsläufig enttäuscht: Ausgerechnet der Friedensaktivist bekennt sich zugleich am emphatischsten zum zionistischen Ideal des ›Sabra‹, des in Israel geborenen Israeli; und ausgerechnet derjenige der vier, der die Militärzeit am positivsten in Erinnerung behalten hat, will auf keinen Fall weiter in der Armee Karriere machen, weil ihm die Tatsache, in Institutionen funktionieren zu können, am Ende selbst unheimlich geworden ist. Die Aporie, dass, solange die permanente Bedrohung durch die Nachbarn anhält, ein Leben jenseits von Zwang und Gewalt in Israel nur möglich sein wird, wenn Menschen dafür auch militärisch zu kämpfen bereit sind, lässt sich nicht (und erst recht nicht individuell) auflösen, sondern nur (und nur je individuell) aushalten.
Dass der Film die großen Fragen meidet, die einem beim Stichwort »Nahostkonflikt« als erstes durch den Kopf schießen, ist seinem Erkenntnischarakter alles andere als abträglich. Das Verhältnis zu den Palästinensern etwa wird in den Gesprächen kaum je thematisiert; man muss mit den Folgen des Konflikts umgehen, aber ihn nicht auch noch ständig obsessiv in Gedanken umkreisen. Es kostet auch so schon genug. Wieviel, wird in einer der eindrücklichsten Schilderungen deutlich, von einem Einsatz eines der Protagonisten an der Grenze zur Westbank. Auf den patrouillierenden Soldaten war plötzlich ein Lastwagen mit voller Geschwindigkeit zugerast, und innerhalb einer Zehntelsekunde hatte er die Wahl treffen müssen, auf den Fahrer zu schießen oder nicht. Seine Weigerung, tödliche Gewalt anzuwenden, bezahlte er mit einem schweren Unfall, als der Laster ihn anfuhr. Später erfuhr er dann, dass, hätte er abgedrückt, er wohl vor einem Militärgericht gelandet wäre; bei dem Fahrer hatte es sich bloß um einen kleinen Lebensmittelschmuggler gehandelt. Wäre es ein Selbstmordattentäter gewesen, trüge er jetzt freilich die Schuld daran, ihn nicht aufgehalten zu haben, als er die Chance dazu hatte.
Wo einem solche Entscheidungen aufgezwungen werden, motiviert nichts dazu, sich auszumalen, was für Handlungsoptionen sich noch alles ergeben könnten. Eher wird man den Zwang, den man erfährt, als Naturtatsache begreifen, als Teil jener Existenzbedingungen, mit denen man fertig werden muss, die man aber, um menschlich zu leben, im Alltag tunlichst verdrängt. Weil Uniform Panzer Kokon sich am Lieblingsspiel europäischer Beobachter – dem Basteln von »Friedenslösungen«, die, mit ein bisschen guten Willen von allen Seiten, unweigerlich dem Guten zum Durchbruch verhelfen werden – nicht beteiligt, gelingt es ihm, eine Ahnung von dem Ausmaß jener Gewalt zu vermitteln, mit der die Israelis, um zu überleben, zu leben gelernt haben: Was für eine furchtbare Last es bedeutet, ständig heroisch sein zu müssen.
Während Uniform Panzer Kokon zwar nicht plakativ, dennoch aber unübersehbar Partei für Israel und die Israelis ergreift, lässt sich das vom zweiten hier in Rede stehenden Film, Bunda‘im von Eran Torbiner, kaum behaupten. Ganz im Gegenteil, ist die Dokumentation über die »Bundisten«, die letzten in Israel lebenden Vertreter des Algemeynen jidischen Arbeyterbund in Poyln, ganz explizit auch im Hinblick darauf entstanden, eine andere jüdische Emanzipationsgeschichte als die zionistische wieder ins Bewusstsein zu rücken.
In der Tat gelingt Torbiner eine bewegende Hommage an jene ganz einmalige, gleichermaßen jüdische wie sozialistische Tradition des »Bundes«, der – ursprünglich im zaristischen Russland entstanden – im Polen der 30er Jahre zur stärksten jüdischen Partei wurde und Assimilation wie zionistischen Partikularismus als gleichermaßen bürgerlich bekämpfte. Stattdessen setzte er auf die autonome Organisierung des jiddisch-sprechenden Proletariats im Schtetl, welches die Reproduktion, so weit es eben möglich war, in die eigene Hand nehmen sollte und dessen Kampfkraft so gefürchtet war, dass jüdische Unternehmer lieber Katholiken einstellten, weil sie wussten, was sie sich mit jüdischen Arbeitern einhandelten.
Gerade die Form aber, in der Bunda‘im diese Tradition, mit Hilfe von zahlreichen Dokumenten und ausführlichen Berichten der Zeitzeugen, gegenwärtig werden lässt, unterminiert zugleich das eigentliche politische Anliegen; und diese Feststellung ist durchaus als Lob zu verstehen. Was der Film, wie gerne er es vielleicht auch täte, nicht wegzulügen bereit ist, ist schlicht und ergreifend die Tatsache, dass es sich um eine vergangene Tradition handelt. Nirgends schmerzhafter wird das deutlich als in einem Versprecher eines alten Genossen, der erzählt, man habe endlich eine Straße nach Marek Edelman, dem Bundisten und Anführer des Warschauer Ghettoaufstands benannt, »hier in Warschau« – um sich dann zu verbessern: Er meine natürlich Tel Aviv.
Die Versuche, den »Bund« nach dem 2. Weltkrieg in Israel wiederzubeleben, sind, wie der Film zeigt, kläglich gescheitert, und er nennt auch die Gründe. Von den alten Bundisten selbst erfahren wir, dass die erste Generation des polnischen Bundes sich sehnsüchtig an die Zeit erinnerte, als man noch unter russischer Herrschaft agierte; nicht, weil es unter dem Zaren so gemütlich gewesen wäre, sondern weil Russland noch kein Nationalstaat war. Eine Autonomiekonzeption wie die des Bundes brauchte eine starke Minderheit und eine schwache Zentralgewalt; eine, die es sich gefallen lässt (oder gefallen lassen muss), wenn die Partei ihr die Schulen, Sozialdienstleistungen, kurz: die gesellschaftsplanerischen Aufgaben abnimmt. Im Polen der 30er bedurfte es dafür schon eine Wirtschaftskrise; in Israel war die Grundlage dafür dann ganz und gar entfallen. Was aber der »Bund« an revolutionären Impulsen in eine neue historische Konstellation hätte einbringen können, das wurde in deutschen Lagern vernichtet. Wer sich nach Israel retten konnte, kam nicht als Kader, Keimzelle einer neuen Bewegung, sondern als Schiffbrüchiger, Relikt einer untergegangenen Kultur.
Mag sein, dass das den einen oder anderen Antizionisten nicht davon abhalten wird, sich Bunda‘im als eines Kronzeugen gegen den Zionismus zu bedienen. Wer aber Augen hat zu sehen, wird keine auftrumpfende Anklage erkennen können, sondern ein Dokument der Trauer.