Aufeinanderprallende Partikularitäten

Mathias Beschorner über den Sammelband »Gestalten der Gegenaufklärung« von Ingo Elbe.

»Wer glaubt, in emanzipatorischer Absicht gegen die konservative Beschwörung von homogener Identität die postmoderne Zerstreuung und Temporalisierung des Subjekts anführen oder mit Foucault gegen rechte fake news argumentieren zu können, ist also auf dem Holzweg. Selbst einen Verbündeten im Kampf gegen den vielbeschworenen Gegner ‚Neoliberalismus‘ findet man hier nicht.«
(Ingo Elbe)

Ingo Elbe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu seinen thematischen Schwerpunkten gehören politische Philosophie, Kritische Theorie und Marxrezeption, über die er 2008 mit dem Titel Marx im Westen promovierte. In der im vergangenen Jahr geführten Debatte um den Historiker und postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe trat Elbe als scharfer Kritiker nicht nur Mbembes auf, sondern insistierte in Welt und Taz darauf, dass den theoretischen Angelpunkten der postcolonial studies selbst eine kritische Aufarbeitung nottue, da hier eine Infragestellung der Singularität der Shoah von links betrieben würde.[1] Berechtigterweise bescheinigt Elbe postkolonialen Ansätzen damit – vor allem in der Tradition von Michel Foucault, Edward Said und Judith Butler stehend – einen »systematische[n] Zusammenhang zwischen begrifflicher Einebnung der Spezifik des Antisemitismus, der Relativierung der Schoah und einer Dämonisierung Israels«[2].    

Mit Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existenzialismus und Postmoderne versammelt Elbe nun auf 312 Seiten erweiterte Aufsätze der vergangenen Jahre, die nicht minder scharf postmoderne Theorien in das Zentrum der Kritik rücken. Elbes ideologiekritische Analysen erinnern hierbei nicht nur vom namensgebenden Titel an den 2011 erschienen Sammelband Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft von Alex Gruber und Philipp Lenhard, sondern decken sich auch inhaltlich in einigen Punkten mit diesem Band.     
    
Das Subjekt der Aufklärung und die Kritik der instrumentellen Vernunft von rechts

Vorangestellt ist dem Buch ein knapp gehaltenes Kapitel, in dem Elbe an den Klassikern politischer Philosophie der Aufklärung – Hobbes, Locke, Hume, Rousseau, Kant – die Entwicklung des modernen Kontraktualismus und den damit verbundenen rechtstheoretischen Aporien, Selbstkritiken sowie Modifikationen, wie etwa das Aufwerfen der sozialen Frage durch Rousseau oder Kants Idee des ewigen Friedens, erörtert. Markant ist hierbei hervorzuheben – und damit ist der Ausgangspunkt von Elbes Sammelband gelegt –, dass Kontraktualismus und Universalismus aufklärerischer Provenienz trotz all der hervorgebrachten »historische[n], klassenspezifische[n], koloniale[n] und patriarchale[n] Partikularismen« im Gegensatz zum Konservatismus »traditionalistische[n] und kollektivistische[n] Begründungsstrategie[n]« naturrechtlicher Legitimation trotzen, da politische Herrschaft im Sinn der Aufklärung sich »vor dem Individuum rechtfertigen muss«. Insofern, so Elbe, seien die mit dem Universalismus kontraktualistischen Denkens produzierten Partikularismen historisch durch Marxismus, Feminismus, Kommunitarismus und postkolonialer Theorie einer berechtigten Kritik unterzogen worden. Elbes Analysen gliedern sich darüber hinaus in drei Blöcke: Konservatismus und politischer Existentialismus, postmoderne Theorien des Politischen und Antisemitismus im Kontext. Dieser Logik folgend stellt Elbe konservative und postmoderne »Denkströmungen« in einem Zusammenhang und attestiert eine ideologisch-schwelende Querfront, die ideengeschichtlich bei Nietzsche, Schmitt und Heidegger anknüpft und in Uniseminaren sowie Antirassismusworkshops »die Grundmotive der Aufklärung bekämpft«, indem das Projekt der Aufklärung als eurozentrisches bzw. partikulares Programm zu entlarven gesucht werde.

Was Konservatismus, politischen Existenzialismus und Postmoderne hierbei eint, ist, dass alle drei Strömungen gegen das Subjekt der Aufklärung anthropologisch oder dezisionistisch fundiert ‚lokale‘, ‚andere‘ oder ‚bodenständige‘ Entitäten als Angelpunkt einer entfremdeten und durchkapitalisierten Moderne in Anschlag bringen. Elbe argumentiert hierbei anhand der im Band versammelten Beispiele überzeugend, dass damit lediglich Argumentationsmuster erzeugt werden, die dazu führen, dass problematischerweise das »Aufeinanderprallen von Partikularitäten« hervorgebracht wird. Zwar, so Elbe, zerfallen alle drei Strömungen in etliche Variationen, jedoch geht es Elbe zentral darum aufzuzeigen, wie sich vereinseitigend gegen den Universalismus der Aufklärung gestellt wird und das Individuum in ein »wie auch immer bestimmte[s] partikulare[s] ‚Sein‘« aufzulösen gesucht wird, um dann im Sinne des Volkes, der Nation, Natur oder der Kultur Kontraktualismus, Gewaltenteilung, liberale Demokratie zu bekämpfen. Die engen Überschneidungen von Konservatismus und Postmoderne mögen auf ideengeschichtlicher Ebene in einem Re-Import des deutschen Denkens von Nietzsche und Heidegger durch den französischen Poststrukturalismus zu suchen sein. Sie zeigen sich dann fatalerweise jedoch in der politischen Realität im »postkolonialen Israelhass« im Allgemeinen oder aber im Besonderen an der von Judith Butler betriebenen Eingemeindung der islamfaschistischen Terrororganisa-tionen Hamas und Hisbollah als Teil einer globalen Linken. Wie eng und kaum unterscheidbar die Positionen hierbei bisweilen sind, verdeutlicht Elbe am Beispiel des Ethnopluralismus der Neuen Rechten, der mit maßgeblichen »Überschneidungen« mit »linksidentitäre[n] Kulturalismen« daherkomme[3], was bereits 1987 von Alain Finkielkraut herausgearbeitet worden sei.[4] In der Tradition dezisionistischer Ansätze werden hierbei ein Begriff von Wahrheit, Vernunft und objektiver Erkenntnis ‚dekonstruiert‘ und eine »Flucht in naturalistische Ideologien und kollektivistische Bewegungen« angestrebt. Die versammelten Aufsätze untersuchen derartige Fluchtversuche dann minutiös im Einzelnen für den Konservatismus und Existenzialismus an Joseph de Maistres Anti-Gesellschaftsvertrag, Carl Schmitts faschistischem Begriff des Politischen und Theorie des Partisanen, Karl Jaspers‘ Beitrag zur Wiedergutwerdung der Deutschen (Eike Geisel), mit der in der Bundesrepublik guten Gewissens gegen den Staat Israel Politik gemacht werde, Hannah Arendts anthropologisch begründeter Trias von arbeiten, herstellen und handeln sowie Hans-Georg Gadamers hermeneutischer Philosophie. Für die Postmoderne untersucht Elbe gesondert am Beispiel Ernesto Laclaus Postmarxismus sowie Chantal Mouffes Theorie die politischen linkspopulistischen Fluchtversuche, die man wohl als Renaissance der Schmittschen Freund/Feind Unterscheidung begreifen sollte.
Ist es etwa in Joseph de Maistres und Carl Schmitts Werken selbst nicht allzu schwierig, faschistische Tendenzen und biologistisch sowie naturalistisch tradierte Sujets und Argumentationsschablonen herauszuschälen, so überzeugen vor allem die Abhandlungen zu Hannah Arendts konservativer Theorie wirtschaftlichen Wachstums und Chantal Mouffes postmoderner Theorie – die wesentlich breiter von links rezipiert werden. Elbe verdeutlicht hierbei überzeugend die problematischen, naturalisierenden und gegenaufklärerischen Tendenzen in den Werken beider Autorinnen.

Antisemitismus im Kontext

»Wer keinen Begriff von Antisemitismus hat, der kann auch keinen von der Shoah entwickeln. Und so lässt sich denn für die Protagonisten des akademischen Antirassismus eine erschreckende Unkenntnis und Relativierung der Präzedenzlosigkeit und Besonderheit des Holocaust feststellen.«

Der dritte Abschnitt beginnt mit einer abwägenden Kritik an Raphael Gross‘ Untersuchung Anständig geblieben, die, so Elbe, zwar »einiges zum Verständnis der Kontinuitäten [und dem Fortleben] deutscher Ideologie resp. Moral« beitrüge, sich jedoch sozialpsychologisch fundierter NS-Täterfoschung entziehe. Am Beispiel des Religionswissenschaftlers und Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, kritisiert Elbe hingegen dessen »hochspekulativen und überhistorischen Antisemitismusbegriff«, der mit »Ahistorismus« und der »Entspezifizierung des Antisemitismus« einherginge und »die gesamte moderne Antisemitismusforschung« »ignorier[e]«. Um einen Bogen zur eingangs erwähnten Debatte um Mbembe und den Postkolonialismus zu spannen, lässt sich der abschließende Aufsatz … it’s not systemic heranziehen, der die Sammlung abrundet und den akademisch getrimmten Antirassismus und Politikaktivismus unter die Lupe nimmt. Elbe verdeutlicht an Beispielen wie Linda Sarsour, Karen Brodkin oder eben Mbembe, wie in diesem Diskurs die »Eskamotierung des Antisemitismus, Relativierung des Holocaust, Islam-Apologetik und Feindschaft gegen Israel […] einen systematischen Zusammenhang« bilden. Es lässt sich argumentieren, dass die postkoloniale Holocaustrelativierung im Anschluss an Theoretiker wie Hannah Arendt, Giorgio Agamben und Zygmunt Bauman – die alle auf eine je bestimmte Weise das Spezifische und Besondere der Shoah tilgen und teilweise versuchen, den Holocaust durch die Moderne zu erklären – der positivistisch orientierten vergleichenden Genozidforschung, die Kolonialgenozide und den Holocaust anhand von Zahlen aufrechnet, hierbei um nichts nachsteht.

In Elbes Auseinandersetzungen mit den benannten Autoren und Autorinnen scheint freilich auf, was das Grundmotiv des Bandes ausmacht – etwa wenn Elbe Friedrich Schiller mit Schmitt kontrastiert oder im Rückgriff auf Adornos Jargon der Eigentlichkeit Jaspers‘ existentialistischen Moralsubjektivismus kritisiert –, nämlich, was eine bestimmte Negation kapitalistischer Moderne in ihrer Kritik an den nicht eingelösten Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft bedeuten sollte. Dass zuletzt nicht nur Kritiken am Postkolonialismus von Elbe selbst in eher postmodern gestimmten Medien wie Taz erschienen sind[5], deutet zumindest darauf, dass ein wenig Bewegung in der von Elbe zu Recht konstatierten »hegemoni-ale[n] Tendenz innerhalb des akademischen Antirassismus« zu verzeichnen ist. Die Aufsatzsammlung ist uneingeschränkt zu empfehlen und es ist den kritischen Eingriffen Elbes zu wünschen, dass sie den Weg in eines der postcolonial und gender studies Seminare finden mögen und den ein oder anderen Adepten und Multiplikatoren der Gegenaufklärung Unbehagen bereiten mögen: Sapere aude.                            

Das Buch

Elbe, Ingo (2020): Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne. Königshausen & Neumann: Würzburg, 312 Seiten, 38,00.

 

[1] Vgl. Elbe, Ingo (2020): Wenn Linke einen Schlussstrich unter Auschwitz fordern. In: Welt am 08.06.2020
[2] Siehe Elbe, Ingo (2020): Die postkoloniale Schablone. Zur Diskussion über Achille Mbembe gehören auch die postkolonialen Studien selbst. Sie sind Teil des Problems, selbst beim Thema Antisemitismus. In: Taz. 14.5.2020
[3] Vgl. auch: Beschorner, Mathias (2020): Zwillingsbrüder im Geist der Gegenaufklärung. Zur Konvergenz von historistischer und postmoderner Geschichtsauffassung oder warum das Einfühlen in die Geschichte noch nie einen emanzipatorischen Gehalt hatte. In: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft.
[4] Vgl. Finkielkraut, Alain (1987): Die Niederlage des Denkens. Rowohlt: Reinbek.
[5] Vgl. auch Grigat, Stephan (2020): Zionismus und Universalismus. Mbembes Fanclub nimmt dessen Ausführungen zu Israel nicht ernst und ignoriert den arabisch-islamischen Antisemitismus. Eine Replik. In: Taz. 10.5.2020