»Zigeuner, fahr deinen Wagen über die Straßen der Welt.
Die Erde ist deine Heimat, der Himmel, der ist dein Zelt./
Zigeuner, dein Leben heißt Wandern, heißt wandern von Ort zu Ort.
Die Welt gehört ja den andern. Und dich jagen sie höhnisch fort./
Doch einmal da bringt dich die Erde an eine Straße im Land.
Dann hämmern die Hufe der Pferde dein Grab hinein in den Sand./
Zigeuner, fuhrst deinen Wagen über die Straßen der Welt
die Erde ist nun deine Heimat, der Himmel für immer dein Zelt.«
- Text der seinerzeit populären Nummer »Zigeuner, fahr deinen Wagen« des Salzburger Schlagersängers Frank Bergen (1962/ Philips).
»Mein Vater hat Auschwitz-Birkenau überlebt. Das Z in der Tätowierung auf seinem Arm steht für Zigeuner. Ich hasse das Wort. Es hat mir meine Jugend versaut.« - Der Wiener Jazzmusiker Harri Stojka, Spross der Lovara-Roma-Dynastie in einem Interview mit derstandard.at im April 2012.
Im Zeichen der Zerrissenheit.
In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg setzte die deutschsprachige Musikindustrie einiges daran, mit heiteren und tendenziell wenig- bis nichtssagenden Schlagermelodien das Vergessen kollektiver Traumata einer Neuorientierung suchenden Gesellschaft voranzutreiben und daraus Kapital zu schlagen. Freilich, Strategien dieser Art könnten sich schon rechtfertigen lassen mit dem höheren Zweck, durch massentaugliche Populärmusik Wiederaufbau und Wirtschaftswunder zu beschleunigen – wenn allerdings nicht dieser üble Beigeschmack bliebe: War die Verdrängung des »Unaussprechlichen« denn tatsächlich notwendiger Sendeauftrag im Kanon zeitgenössischer Schlagerproduktionen?
Exotica, der räudige Superlativ.
In Anlehnung an amerikanische Trends gebar diese Periode diffuser Aufbruchstimmung allerdings auch einige Perlen der Incredibly Strange Music: Die übersteigert-heroischen Heimkehrer-, Seemanns- und Sehnsuchtslieder eines Freddy Quinn zum Beispiel, die meist ‚Vergangenes‘ – oder vielleicht treffender ‚Verlorengegangenes‘ – romantisierten, verlangen heutzutage fast zwangsläufig nach einer ironisierenden Lesart. Diesem fiktiven Spiel mit dem Dualismus Heimweh/Fernweh verdanken aufgeschlossene Plattensammler des weiteren auch einige der skurrilsten österreichischen Schlagerproduktionen der 50er und frühen 60er Jahre: »Maloja« von Frank Roberts (Philips) in etwa, ein intensives Exploitation-Instrumental als Background für einen in der Fremde irre gewordenen Matrosen, der mit sexy Timbre seine abgedrehtesten Sauf- und Prügel-Geschichten zum Besten gibt. Oder: »In der Arena von Guayaquil« von Gert Morell (Harmona 3D), den »Robinson Mambo« der 5 Mambos (Elite Special) und natürlich den Sleaze-geladenen Exotica-Klassiker schlechthin, »Inka City« der Bambis (Columbia), basierend auf dem allseits beliebten »Tabu«-Thema. Dass aber der Grat zwischen unschuldig-naivem Spaß und bedenklich-tendenziösen Inhalten in der heimischen Schlagerproduktion manchmal überschritten wurde, verdeutlichen möglicherweise die Lyrics zu »Zigeuner, fahr deinen Wagen« aus dem Intro dieses Textes. Bedrückenderweise wäre die Nummer musikalisch ein ziemlicher Knaller, ist in der veröffentlichten Form allerdings indiskutabel.
Die Geschichte der SLAVES.
Was Harri Stojka mit seiner exzeptionellen Solokarriere als Gipsy-Swing-Gitarrist sowie als Mitglied von GIPSY LOVE, dem HARRI STOJKA EXPRESS und NOVAK‘S KAPELLE in den letzten Jahren gelungen ist, durch Schaffung einer Medienpräsenz zum publikumswirksamen Vorkämpfer für mehr Akzeptanz der Roma und Sinti in Österreich zu werden, hätte sein Cousin Karl Ratzer (aka Charlie Ryder) beinahe schon in den 60ern losgetreten. Allerdings nicht in Form von besonnenen Presse-Kampagnen, sondern viel eher so, wie die Sex Pistols mit dem TV-Moderator Bill Grundy umgesprungen sind, als sie ihn vor laufender Kamera einen »dirty fucker« nannten. Denn Karl Ratzer war 1964 schon Mitglied einer Punk-Band, als es Punk noch gar nicht gab.
Wien, 1964. Als der stadtbekannte Beat-Sänger Paul Fischer, ein Teenage Outsider mit einer ordentlichen Ladung Wut im Bauch nach dem Zerfall seiner beiden letzten Bands THE THUNDERSTORMS und THE DOGS sich daran macht, eine neue Gruppe auf die Beine zu stellen, verfolgt er ein strenges Konzept: Er will die coolsten Typen der Stadt mit dem härtesten Sound des Landes um sich versammeln. Sein erklärtes Ziel ist es, die britischen PRETTY THINGS in allen Belangen zu übertreffen. Sorgfältig wählt Fischer die Leute für seine ‚Supergroup‘ aus, unter anderem den gerade 14-jährigen Karl Ratzer, der trotz seines Alters bereits als einer der talentiertesten Beat-Gitarristen der Stadt gehandelt wird. Zudem ist er mit seinen schulterlangen Haaren und einem höchst unkonventionellen Kleidungsstil eine schillernde Erscheinung in Wien. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Nach ersten Proben in der Hängematte, dem Dance-Keller des Café Weimar im 9. Bezirk ist schon bald ein hochkarätiges 5er-Line-Up komplett und die über Nacht entstandene All-Star-Band des Wiener Underground spielt ihre erste Live-Show. Das Repertoire bilden harte Rhythm-N-Blues-Coverversionen von Bo Diddley, den ANIMALS, TROGGS sowie obskure englische Beat-Nummern jener Tage. Der Name dieses Proto-Punk-Acts: THE SLAVES.
Nach weiteren Gigs im San Remo und dem Flamingo haben die SLAVES rasch die Reputation, die härteste Live-Band Wiens zu sein. Einem Zeitzeugen Joe Hiess, Gitarrist der Wiener BEATFIRES sind neben Ratzers überdurchschnittlicher Musikalität zudem noch dessen Punker-Manieren und das Giftler-Milieu, das ihn zu jener Zeit umgab in lebendiger Erinnerung geblieben: »Ratzer ist im Camera Club auf der Bühne gestanden, high und besoffen und hat das Publikum angepöbelt: ‚Gehts alle scheissen!‘«.
September 1965: Nach einer Show der ROLLING STONES in der Wiener Stadthalle tauchen Mick Jagger und dessen Entourage plötzlich im San Remo Club auf und sehen die SLAVES auf der Bühne. Die Engländer zeigen sich beeindruckt. Der Schweizer Konzert- und Box-Promoter Hansruedi Jaggi, der mit den STONES in den Club gekommen ist, nimmt die Band kurzerhand unter Vertrag. Ein Glück, denn Jaggi verfügt über hervorragende Kontakte und kann innerhalb kürzester Zeit professionelle Live-Tourneen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz organisieren, bei denen er sie als »Beatband from Hell« ankündigt. »Ich bin einmal in der Schweiz mit den SLAVES auf Tour gewesen, da stand auf einem Plakat: ‚Keiner weiß, woher sie kommen. Sie kommen aus der Hölle.‘ Hannes Fisher hat damals Sprechverbot bekommen, da man ihn als Engländer verkaufen wollte. Es wurde immer alles mysteriös gehalten. Bei Interviews hat es immer geheißen ‚Red‘s nix‘«, erinnert sich Wolfgang Hafenbrödl, Bassist in Ratzers späterer Psych-Beat-Combo CHARLES RYDERS CORPORATION. Vor allem aus dem Roma-Look des jungen Karl Ratzer kann Manager Jaggi gutes Kapital schlagen. So textet etwa das Schweizer Beat-Fanzine Pop: »Die SLAVES sind richtige Zigeuner, die jahrelang durch Europa zogen und nur für ihre Musik leben; einige der Gruppe können nicht einmal lesen und schreiben.« Bubblegum-Junk in Perfektion! Die SLAVES werden innerhalb kürzester Zeit in der Schweiz zu richtigen Popstars gemacht, die nun zusammen mit internationalen Größen wie den KINKS oder den LORDS auf der Bühne stehen. In beiden Fällen erinnern sich Zeitzeugen daran, dass es die Headliner nicht leicht hatten, nach den SLAVES aufzutreten. »They played the KINKS into the ground«, schreibt etwa der Wiener Plattensammler-Guru Hans Pokora in einem Fanzine in den 80ern.
Wolfgang Hafenbrödel erinnert sich an eine weitere Episode: »Da haben die SLAVES in irgendeinem piekfeinen Hotel eine Pressekonferenz gehabt. Wir sind dorthin mit dem Auto gefahren. Da hat der Hannes auf einmal gesagt: ‚Stop!‘ und ist ausgestiegen. Wir dachten alle, er muß auf‘s Klo. Da war eine Baustelle. In die hat er sich reingeworfen und am Boden gewälzt, damit alles dreckig ist und dann hat er gesagt ‚Jetzt geht‘s weiter‘. Also das war alles auf Provokation. Ein totales Punk-Konzept.« Anfang 1966 nehmen die SLAVES 6 Songs auf, die auf drei separaten Singles bei Philips in der Schweiz erscheinen. Die Musik, die sie uns dabei hinterlassen haben, ist rohester Garage Punk, der auch noch von kommenden Generationen wiederentdeckt werden wird. Zu den gesuchtesten Beat-Singles weltweit zählen die Platten jeweils jetzt schon. Es kommt schließlich, wie es kommen muss: Kurze Zeit nach den Aufnahmen löst sich die vielleicht vielversprechendste österreichische Band der Sixties, deren Karriere nicht einmal zwei Jahre gedauert hat schließlich auf. Das Vermächtnis der SLAVES ist Legende.
Karl Ratzer taucht wenig später wieder in verschiedenen wegweisenden Formationen auf: THE CHARLES RYDERS CORPORATION, C-DEPARTMENT oder GIPSY LOVE (gemeinsam mit seinem Cousin Harri Stojka), bevor er sich für einige Zeit nach Amerika absetzt, wo er unter anderen mit Chaka Khan spielt und mit Chet Baker Aufnahmen macht.