Wenn es stimmt, dass heute jeder eine Meinung hat, so gilt gleichermaßen, dass in der Vergangenheit niemand eine hatte. Zwar hatten Menschen immer Vorstellungen, Überzeugungen oder Gedanken über die Welt, doch dass Meinung zu einem Substantiv mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel wurde, zu einem zentralen Medium moderner Subjektivität und selbst zu einem Objekt statistischer Messung, ist eine weit kompliziertere und weniger historisch beständige Angelegenheit.
Wann wurde Denken zu »Meinen«? Oder schlimmer noch: Wann wurde alles Denken auf ein Meinen reduziert? Dies ist keineswegs eine esoterische philosophische Frage in einer Zeit, in der unsere global vernetzte Welt mit ihren digitalen Plattformen in ätzenden politischen Auseinandersetzungen ertrinkt. Eine allgemeine Skepsis gegenüber objektiver Wahrheit, die sich etwa in der Feindschaft gegenüber Fachleuten und Fachwissen und verbreiteten Appellen an Emotionen, »Bauchgefühl« und Meinungen ausdrückt, bahnt einem überwältigenden Relativismus des Wissens den Weg. Das Florieren von medialer Meinungsmache, Demagogie, Verschwörungstheorie und Falschinfor-mation zeugt von der anwachsenden Allmacht der Meinung als souveränem Standpunkt zur Beurteilung der Welt.
Die Form der Meinung setzt eine bestimmte Form von Subjektivität voraus, die einen starken Eigentumsanspruch geltend macht, verdichtet in Hegels Wortspiel, »Meinung ist mein«1, eine Gewissheit des Besitzes. In der Tat bezeichnet Meinen eine soziale Aktivität des Subjekts, bei der einem bestimmten Gehalt, der in einem Inneren angesiedelt ist, das »mein eigen ist«, Ausdruck verliehen wird. Wir finden hier eine neue Form von Innerlichkeit, die auf die Irreduzibilität der subjektiven Erfahrung verweist: Die Meinung ist mehr als alles andere die meinige. Ähnlich wie mein Eigentum ist sie unmittelbarer Ausdruck meiner Besonderheit. Ich muss keine Gründe für meine Meinung angeben, selbst wenn sie nachweislich falsch ist oder offenkundig wahnhaft. Keiner kann sie mir wegnehmen.
Historisch gesehen entstand die Meinung aus dem Verkehr von Individuen innerhalb der geschäftigen Atmosphäre eines großstädtischen Unternehmermilieus, das mit dem monarchischen Absolutismus in Widerspruch geriet. Die Meinungsform wurde inmitten von Salondebatten, Kaffeehäusern und des aufblühenden Pressewesens geboren. Sie setzt eine abstrakte Form der Unabhängigkeit des Individuums voraus, die einem Bild von Gesellschaft als Summe ihrer Teile entspricht, deren Beziehungen angeblich das für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische natürliche Gleichgewicht besorgen. Es ist kein Zufall, dass das französische »l’opinion publique« erst Mitte des 18. Jahrhunderts in die Alltagssprache Eingang fand, als unternehmerisches Privateigentum und die Bewegungen des Marktes gegenüber den adligen Strukturen des Ancien Regime stark an Bedeutung gewannen. In diesem Sinne ist Meinung eine Erkenntnisform, die für die bürgerliche Gesellschaft spezifisch ist.
Die Rede vom »Marktplatz der Ideen« ist mehr als nur eine Analogie. Historisch gesehen gibt es eine Verbindung zwischen Geschäftsideen und dem Geschäft der Ideen. Meinungen müssen, ebenso wie Waren, miteinander konkurrieren und frei zirkulieren oder sie verlieren ihren sozialen Charakter: Auftritt des homo opinicus, des erkenntnistheoretischen Gefährten des homo oeconomicus. Das meinende Subjekt ist ein übergroßes, seiner selbst gewisses Subjekt, das stolz mit seinem eigenen unveräußerlichen Anspruch auf Wissen über die Welt herumwedelt. Doch zugleich ist ungeachtet ihres Gegenstandes jede Meinung gerade so gültig wie die nächste. Diese Privation der Meinung, unveräußerlich »meine und nicht deine« zu sein, ist das notwendige historische und begriffliche Seitenstück zur Privatisierung, die im Warentausch liegt.
Meinungen können auf Vorurteilen oder persönlichem Interesse beruhen, flüchtig und zufällig sein, jeden Morgen neu entstehen wie das Gewebe des Leichentuchs der Penelope, in tiefer Überzeugung gründen oder an Faktizität gebunden sein; wir mögen ihnen Ausdruck verleihen, sie teilen oder ändern, doch bleiben sie der Form nach die unseren – Verteidigungslinien unseres eigentlichen Selbstgefühls. Alle Meinungen wohnen einem Subjekt inne, das mehr ist als jeder seiner besonderen Gegenstände. Sie überflügeln die Welt und subsumieren sie unter sich. Der wahre Gehalt jeder einzelnen Meinung ist so der souveräne Standpunkt des meinenden Subjekts selbst. Anders gesagt: Meinungen fällen Urteile über die Welt, sobald wir aufgehört haben, die Welt zu erfahren.
Die Meinung tritt zuerst als Grundstock von Individualität und Autonomie auf und verkehrt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Zeichen sozialer Integration. Ihr Anspruch, ein Eigenes des Subjekts zu sein, kann in einer Gesellschaft der standardisierten Kultur und digitalen Kommunikation nicht mehr aufrechterhalten werden. Subjektive Meinung, einst ein Merkmal individueller Autonomie, erscheint zunehmend als ihr Gegenteil: als bloße Parodie auf das urteilende Subjekt, dem vermittels einer zusammenhangslosen und episodenhaften digitalen Umwelt der Gruppenkonformität und technischen Schemata ein Image gefestigter Unabhängigkeit verliehen wird. So gewinnt die Meinungsform als Modus von Selbsterhaltung und Individualisierung genau in dem Moment an Bedeutung, in dem die Auflösung von Individualität einen Höhepunkt erreicht. Und doch war dies vielleicht von Anfang an die Fluchtlinie der Meinung als einer Form von Subjektivität, die in einer vom Konkurrenzprinzip regierten Gesellschaft dazu bestimmt war, sich selbst zu untergraben. Gleichwohl mag heute eine Meinung zu haben eine der letzten Enklaven sein, in denen wir noch etwas als unser Eigenes behaupten können. Zugleich können, streng genommen, nur noch wenige Meinungen als unsere eigenen gelten. Zu behaupten, unsere Meinungen wären gar nicht die unsrigen, wäre eine Absurdität, oder offenbarte jedenfalls eine Individualität in großer Bedrängnis. Aber genau an diesem Punkt stehen wir.
Die sozialen Medien sind heutzutage unbestreitbar der Ort, an dem Meinungen sich herausbilden, sich bewähren und zirkulieren. Meinungsbildung ist nicht länger vorstellbar ohne diese vermittelnden Instanzen, die inzwischen die Praktiken der Information und Kommunikation selbst hervorbringen und durchdringen. Eine kritische Theorie der Meinung, die ihren Namen verdient, müsste dem nachgehen, wie mediale Inhalte und Informationen hergestellt, verbreitet und von Individuen aufgenommen werden, und untersuchen, warum heutzutage anscheinend innerhalb der plattformbasierten Kommunikation ein unverhohlener Zwang herrscht, eine Meinung zu so gut wie allem zu haben.
Beinahe überall wird der ununterbrochene Strom an Informationen als förderlich für demokratische Gesellschaften angepriesen. Doch wenn die Wirtschaft die Informationen nach ihrem Bilde formt und Bewusstseinsformen züchtet, die den warenförmigen Kommunikationsplattformen entsprechen, lohnt es sich innezuhalten und zu fragen, ob ein Übermaß an Informationen wirklich dazu führt, bessere Entscheidungen zu treffen. Man könnte vielmehr behaupten, dass es in Wirklichkeit das Urteilsvermögen lähmt. Man könnte sogar sagen, dass das überwältigende Ausmaß an umlaufender Information unter seinem Schein der Fülle nur eine bestimmte Erfahrungslosigkeit verbirgt. So ersetzt die unendliche Abfolge von Meldungen im feed permanent eine Weltsicht durch die nächste und unterläuft dabei jede kategoriale Unterscheidung zwischen Nachrichten, Unterhaltung und Werbung. Aller Inhalt wird hier der Form der medialen Oberfläche untergeordnet, die Zeit jeder narrativen Struktur entleert und durch eine Reihe von punktförmigen Ereignissen und Posts ohne jeden Rhythmus, jede Dichte oder gebotene Unterscheidung ersetzt. Information heute muss ihrer flüchtigen Natur gemäß auf eine Weise modelliert sein, die sie schnelllebig und fesselnd macht; sie scheint spontan zu entstehen und verschwindet unmerklich gemäß den technologischen Anforderungen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Das Neueste ersetzt abrupt das Alte, sodass jeder Tag effektiv eine neue Realität darstellt. Eine solche Umgebung entbehrt jeder Dauerhaftigkeit und ermöglicht keine zeitliche Erfahrung mehr. Stattdessen werden wir überschwemmt von einer endlosen Abfolge von content innerhalb eines ungebrochen gleichförmigen Kontinuums. In den Worten Arnold Schönbergs kennt das meinende Subjekt »nur Richtungen und lehnt eine ebenso ungeprüft ab, wie [es] die andere annimmt«2.
Wenn heute der Streit der Meinungen nicht länger von Erzählungen konsistenter und kohärenter Weltanschauungen getragen wird, so ist dies weder das Resultat der Fehlbarkeit oder Dummheit der Einzelnen, noch die Wirkung schändlicher von Eliten gesteuerter Propagandasysteme. Die Inkohärenz und Flüchtigkeit subjektiver Meinungen, die feindliche Grundstimmung einer Zeit, in der sich das Geschwätz des Augenblicks durchsetzt, ist eine objektive Inkohärenz, die wesentlich ist für die herrschenden Kommunikationskanäle und technischen Infrastrukturen des Informationsflusses. Das Problem besteht nicht darin, dass die Öffentlichkeit uninformiert wäre, sondern darin, dass sie überinformiert ist. Sie ist überschwemmt von dem, was Adorno den »Typus bloßer Information« nennt, der sich durch »Rücksicht auf prompte Aktualität und weite Publizität«3 auszeichnet.
Es ist äußerst ermüdend, andauernd zu allem eine Meinung zu haben. Das meinende Subjekt verliert seinen inneren Halt, weil es sich allzusehr zerstreut. Und doch war das Gebot, »man selbst zu sein«, noch nie in der Geschichte so zwingend wie gerade angesichts des vollständigen Mangels an institutionellen, sozialen oder psychologischen Ressourcen der Individualität. Die psychischen Kosten solch mimetischer Identifikation mit dem Informationsfluss sind hoch, selbst wenn sie Beteiligung, Selbstermächtigung und einen Status des Bescheidwissens verspricht. Die Gewalt der Aktualität erfüllt die Subjekte mit einem extremen Misstrauen, um nicht zu sagen Hass gegenüber allem, was nicht up to date ist. Eine Meinung zu haben wird noch weiter verkompliziert durch den erzwungenen Wettbewerb, um jeden Preis aufzufallen, durch die Anforderung einer Pseudoindivi-dualisierung, die darin besteht, sozusagen mit heißem Scheiß zu glänzen.
Einst ein herausragendes Merkmal individueller Autonomie, erscheint Meinung heute vielmehr als ein Mittel, um identitäre Abgrenzungen, Gruppenkonformität (wenn nicht gar regelrecht kulthaftes Verhalten) und die von der Technik bestimmten Schemata zu befestigen, die das Individuum verschlungen haben und seine kognitiven, kritischen und libidinösen Ressourcen auszehren. Der homo opinicus nimmt den Standpunkt des »Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens«4 ein. Doch wahre Subjektivität hängt von der Fähigkeit eben des Subjekts ab, sowohl seinen eigenen Illusionen als auch einer hypostasierten Vorstellung von objektiver Realität zu widerstehen. Ob man dem einen oder dem anderen verfällt – einer Naturalisierung des Faktischen oder seiner Auflösung in einem willkürlichen subjektivistischen Vorurteil – in beiden Fällen wird man daran scheitern, kritisch die Lage des denkenden Subjekts heute zu ermessen. Freilich kann hier nur spekulativ auf ein Denken jenseits der Meinung gedeutet werden, auf ein Urteilen jenseits der eingeübten Macht bloßer Plattitüden und eines Ticketdenkens, das jeder Entscheidungsfreiheit spottet. So unbestimmt dieses Jenseits auch sein mag: Hier ist der Ort, um Hegels Warnung vor dem Zurückfallen von Wissen in Meinung ernst zu nehmen.
Der Text wurde übersetzt von Theodora Becker.