Der Besuch beobachtet das Türenklappen und Wuseln der Mitarbeiter zwischen Büro, Studio 1, Büro, Treppe, Studio 2 und Kaffeeautomat. Er geht gemächlich hin und her und raucht.
Ein zierlicher, sonnenbrauner Mann mit dunklem, halblangem Haar und einem grauen Bart wartet mit einem braunen Kaffeebecher vor dem Studio 1 von Radio FRO. Er ist Anfang sechzig, aber das sieht man seinem verschmitzten Gesicht nicht so genau an. Er könnte jünger sein. Oder älter. Eine hellgraue Hose mit Camouflagemuster hat er heute an.
Eine halbe Stunde vor Sendebeginn des Kupfermuckn Radios am Montagnachmittag kommt Bertl Weissengruber zum Radio und erwartet seinen Kollegen Erich Horvath. Und einen Interviewpartner.
»Kollegin, grüß di!« Eine gedehnte Begrüßung und wir quatschen ein bisschen, rauchen, dann kommt Erich die Treppe hoch. In kurzer Hose, Hitze-geplagt und mit Trotzdem-Lächeln. Solange wir nicht über Armut und Politik sprechen, sieht Erich Horvath durchweg freundlich und gemütlich aus. Er ist nämlich groß, rundlich und hat einen behaglichen, weißen Bart. Die zwei Männer gehören zur Redaktion des Kupfermuckn Radios, das seit Januar 2009 bei Radio FRO an jedem 3. Montag im Monat um 14 Uhr eine Stunde Sendung macht. Erich Horvath ist der Moderator der Sendung und Bertl Weissengruber ist der Musikredakteur. Ihm obliegt außerdem »wie immer die Technik«. Die Sendung ist vor anderthalb Jahren aus der Straßenzeitung Kupfermuckn gewachsen, die in Linz von der ARGE für Obdachlose und deren Redakteurinnen und Redakteuren jeden Monat neu gestaltet und verkauft wird. Sie hat eine Auflage zwischen 15.000 und 17.000 Exemplaren. Die beiden Radiomacher schreiben für diese Zeitung, verkaufen sie und Erich war seit der ersten Sendung des Kupfermuckn Radios dabei. Bertl sucht seit einem Jahr Musik aus, die »dazu passt.«
Kupfermuckn Radio behandelt einmal im Monat »sozialkritische Themen Abseits des Medienmainstreams.« Erich Horvath denkt kurz über die Sendung nach: »Ich muss sagen, da gibt es ganz verschiedene Themen. Die Obdachlosigkeit natürlich. Wir wollen die Leute darauf aufmerksam machen. Damit sich die Leute dafür interessieren. Weil manche Leute, die eh gut finanziell beieinander sind, die denken: »Was willst denn mit den Obdachlosen. Die interessieren uns nicht.« Die, die gut situiert sind, denen kann das genauso passieren. Obdachlos wirst’ schneller als das du wieder auße kommst.« Beide Radioredakteure haben Obdachlosigkeit und Wohnungsnot erfahren und glücklicherweise bessere Lebenswege gefunden. Einen festen Wohnsitz, eine eigene Adresse haben sie in Linz. Ausschlag gebend ist für ihre Radiosendung, für Betroffene zusammen mit vier weiteren Redakteurinnen und Redakteuren engagiert zu sein. »Dass die, die unsere Sendung hören, wissen, dass wir Obdachlose das gleiche Recht haben wie andere. Dass sie wissen wo man hingehen kann, wenn man kein Geld hat, zum Essen oder zum Schlafen. Es gibt verschiedene Einrichtungen und die haben wir schon ein paar Mal durchgegeben.« Bertl Weissengruber kennt Leute auf der Straße, die nirgendwo hin wollen, die Nahrungsmittel in den Mistkübeln suchen. »Aber es muss nicht so blöd sein. Essen kann man sich organisieren. Und schlafen kannst woanders und verstecken auch.«
Ich stöbere durch das CBA Archiv und finde Sendungen der Kupfermuckn-Redaktion, die sich mit sozialen Einrichtungen, Übergangswohnungen, Migration und Transsexualität auseinandersetzen. Ich bin sehr gespannt, welche Musik dazu gespielt wird.
Es ist eine wilde Mischung und Carmina Buranas Gefangenenchor gibt es als Dance-Version. Bertl Weissengruber beschreibt sein recht autonomes Auswahlverfahren: »Manche Gäste bringen Musik mit, manchmal such ich was zusammen. Was ich mir denk. Was mein Geschmack ist. Ob es dann noch einem passt oder nicht, das ist mir wurscht. Es kommt darauf an, was für ein Thema gerade ist. Ich hab’ hunderte CDs daheim. Denn wenn ich eine seh’ und da sind ein, zwei Nummern drauf und die taugen mir, dann wird sie gekauft. Kann ja sein, das man sie mal braucht, wie für den Jingle, den wir gemacht haben.« Die letzte CD, die Bertl gekauft hat, ist von Andrea Berg. »Zuerst hat es geheißen, das passt, dann heißt es, na, das passt nicht.«
Beim Nachhören der Sendungen berührt mich die Offenheit der Redaktionsmitglieder. Scheue Besorgnis, die eigene Lebensgeschichte preiszugeben, die mit dem aktuellen Thema verknüpft wird, höre ich nicht. Ich denke über das Studio 1 nach, ob der kleine Raum die nahen Gespräche fördert. Oder ob die Transparenz der Glaswände stört. Eine vertrauliche Gesprächsstimmung findet innerhalb der Redaktion für das Kupfermuckn Radio statt, weil die Mitglieder viele verschiedene Projekte zusammen machen und sich freundschaftlich begegnen.
Für mich ist es aber auch ganz entscheidend, dass die Sendungen ohne Bildmedium entstehen. Die Abwesenheit einer Kamera zieht eine Besonderheit für das Radio nach sich: die Aufnahmen können nämlich auf einfache Weise anonym behandelt werden. Aber das interessiert Erich Horvath gar nicht, er erzählt von sich und schreibt darüber, öffentlich und personalisiert. Im Radio, in einem Dokumentarfilm und in der Zeitung Kupfermuckn. Ihn können auch alle anrufen und mit ihm reden, auch nach der Sendung. »Bei der Sendung würde mir taugen, wenn die Leute anrufen wenn sie Fragen haben. Bis jetzt hat noch niemand angerufen. Im Radio kann man nicht alles bekannt geben, aber mir ist das wurscht. Ich geb’ alles bekannt. Ich red’ mit den Leuten am Telefon, sie können mir per Telefon erzählen was sie möchten. Sie sollen sich trauen!«
Jetzt habe ich Bedenken. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich nur noch das Nötigste besäße, ohne Wohnraum wäre, wie würde ich einer Radiosendung zuhören können? Denn Radio findet im öffentlichen Raum nicht hörbar statt. Es gibt außerdem keinen öffentlichen Ort zum Fernsehen und ebenso wenig gibt es einen kostenfreien Zugang zum Internet, ohne die technische Ausstattung anderer nutzen zu müssen.
Obdachlosigkeit zieht eine generelle Ausgrenzung von Mediennutzung nach sich. Betrachtet man Medienkonsum jedoch als integrierenden und Identität stiftenden Vorgang, dann ergibt sich ein Problem der Gesellschaftszugehörigkeit. Ich frage Erich, welche Medien er genutzt hat, als er obdachlos war, ob er in dieser prekären Lebenssituation überhaupt Interesse für Nachrichten hatte. Ich erfahre nebenbei, dass es in der Caritas Einrichtung für Obdachlose einen kostenlosen Internetzugang gibt. Und außerdem gibt es in Österreich kostenlose Zeitungen. Seit 2001 gibt es 52 regionale Ausgaben von Gratiszeitungen, von denen einige wochentags oder wöchentlich erscheinen. Die Österreich, Heute oder Tips. Die kann lesen, wer mag. Erich Horvath schaut dort manchmal rein, da »sind schon öfters gute Artikel drin. Aber ich les nicht so viel Zeitungen, ich les die Kupfermuckn, mich interessiert, was die Anderen so schreiben.«
Bertl Weissengruber schreibt seit einem Jahr für die Kupfermuckn. Als er in einer Übergangswohnung lebte, lernte er eine Betreuerin kennen. »Helga, die hört auch unsere Sendung gern und hat uns auch schon besucht. Sie hat mir geholfen und nebenbei hat sie ge-sagt: »Pass auf, jetzt gehst du zu unserer Zeitung, da kann man was dran verdienen.« Na, ich schau mir das Ganze mal an. Hab gleich bei der zweiten Partie was mitgebracht, eine Schreiberei. Und da hat es geheißen: »In Ordnung, wenn du mehr machen möchtest, kannst du dir das anschauen und meldest dich in 3 Wochen bei der Redaktion. Seit dem bin ich dabei.« 15 bis 20 freiwillige Redakteure realisieren mit der ARGE für Obdachlose die Zeitung und bekommen ein Honorar von 15 Euro pro Artikel.
In der Juni-Ausgabe der Kupfermuckn erschien ein Gedicht eines Obdachlosen und das erzählt davon, dass der Autor für andere unsichtbar ist. Die Mitmenschen wollen ihn nicht mehr wahrnehmen, schreibt er an seine Mutter. Ich frage, ob Erich Horvath und Bertl Weissengruber Radiosendungen, Zeitungsartikel, Gratwanderungen und ein Theaterstück machen, um wahrgenommen zu werden. Und Bertl antwortet, er tut es »weil es Spaß macht und man den Leuten eine Menge sagen kann.« Erich denkt über sich nach: »Ich trete gern auf, ich präsentier mich gerne den Leuten. Obdachlose können genauso Theater spielen und rumblödeln wie andere auch.« Erich erzählt, dass er nicht nervös wird auf der Bühne, er spielt einfach seinen Dodel runter. »Ich bin ja nicht mehr obdachlos, seit 2001 hab ich eine Wohnung. Da hat sich mal einer bei mir entschuldigt, nachdem er mich in der Zeitung gesehen hat. Na, da hat jemand auch mal Autogramme verlangt, aber ich hab ja keine Autogrammkarten.«
Bertl Weissengruber und Erich Horvath machen freie Medien, damit sie ihre Weltsicht in die Öffentlichkeit senden können. Sie wollen ihre eigenen Erfahrungen mitteilen und Betroffene interviewen oder Politiker einladen. »Und dann befragen wir Politiker.« Erich erklärt mir: »Man denkt sich die Themen selber aus, und schickt sie dann den Politikern, oder wer halt der Interviewpartner ist. Und der schaut die Fragen an, und wenn's passt, befragen wir sie.« Ein Thema, das Erich Horvath unbedingt diskutieren möchte, sind die Toiletten des Hauptbahnhofes. »Es gibt so viele Leute die kein Geld haben, aber für die Toiletten auf dem Bahnhof musst du 50 Cent zahlen. Ich finde das nicht richtig. Es wird so viel Geld ausgegeben, aber eine kostenlose Toilette gibt es nicht. Ich appelliere, dass man am Bahnhof eine Toilette macht, wo jeder hingehen kann. Auch die, die kein Geld haben.«
Erich Horvarth möchte die Politiker nicht nur interviewen, eigentlich wünscht er sich, dass sie Verabredungen in der Sendung treffen und diese dann in ihre politischen Verhandlungen einbringen. Und sie dann in Beschlüssen verwirklichen. Die Politik darf »die ärmeren Leut« nicht vernachlässigen. Resümierend sagt er »die sollen sich einig sein, sollen beschließen, aber nicht jahrelang streiten. Da kommt nur Blödsinn raus.«