Das Radio »Deseo« gibt es seit dem Jahr 2007. Warum habt ihr 2009 entschieden, eine Radioschule zu eröffnen?
Eine Sache, mit der wir als soziale Bewegung von Anfang an konfrontiert sind, ist wie die verschiedenen Kommunikationsmedien Stereotypen kreieren und wie sie Menschen, die keine politische oder ökonomische Macht – und deshalb keinen Zugang zu Medien haben – stigmatisieren. Das haben wir von Mujeres Creando am eigenen Leib gespürt: entweder sie demütigen oder sie kriminalisieren dich. Wenn wir zum Beispiel Aktionen gestartet haben, sind diese entweder gar nicht erwähnt worden oder auf kriminalisierte Art und Weise. Und das erzeugt natürlich ein negatives Bild in der Gesellschaft. Dasselbe passiert vielen anderen Menschen und Gruppen. Deshalb träumten wir von einem eigenen Kommunikationsmedium und 2007 haben wir uns diesen Wunsch mit dem Radio Deseo erfüllt. Wir haben unser Radio immer als offenen Raum für alle, die etwas in der Gesellschaft verändern und öffentlich anklagen wollen, gesehen. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, selbst das Wort zu ergreifen, in erster Person zu sprechen. Die erste konkrete Anfrage gab es von den »Trabajadoras del Hogar« (Hausangestellten[1]). Sie wollten einen Platz im Radio bekommen und wir wollten sie auch bei uns haben. Aber charakteristisch für Radio Deseo ist die hohe Qualität seiner Produktionen. Wir haben nicht einfach ein offenes Mikrofon, in das jede/r sprechen kann, wie er/sie will. Also war klar, dass wir zumindest ein Minimum an Kenntnissen vermitteln müssen, wie man eine Radioproduktion macht. Und so wurde die Idee geboren, eine Radioschule zu eröffnen.
Was sind die Kriterien? Welche Gruppen nehmt ihr in die Radioschule auf?
Die Personen oder Gruppen, mit denen wir arbeiten, haben als fundamentale Eigenschaft, dass sie eben durch die Medien ausgegrenzt, kriminalisiert, stereotypisiert worden sind. Weiters müssen sie etwas Konkretes zu sagen haben und sie selbst müssen die ProtagonistInnen dessen sein, was sie der Gesellschaft durch das Radio mitteilen wollen. Alles, was wir in der Schule machen, wird dann im Radio übertragen.
Eure Bewegung ist feministisch, aber das Radio ist breiter gestreut, nicht wahr?
Ja, lange Zeit gab es duch die Medien eine sehr krasse Berichterstattung darüber, was Mujeres Creando sind und tun. Das Radio hat uns erlaubt, unsere Vision von Feminismus und wie wir die Gesellschaft transformieren wollen, zu verkünden und die Leute können sich jetzt ein Bild davon machen, was Mujeres Creando wirklich ist. Es gab immer das Vorurteil, dass nur Feministinnen hierher kommen können, dass nur Frauen Zutritt bekommen, aber die Schule ist auch offen für Gruppen, die nicht feministisch sind, die aber Lust haben, etwas in der Gesellschaft zu verändern. Natürlich gibt es auch Limits. Zum Beispiel gibt es keinen Zutritt für MitarbeiterInnen von NGOs, denn wir wollen uns nicht in einen Boxring der NGOs, die ja hier in unserer Gesellschaft eine sehr invasive Rolle gespielt haben, verwandeln. Es kommen auch keine autoritären Personen hier rein. Wer mitarbeiten will, muss sich von seinen Ämtern und der vertikalen Struktur seiner Organisation lösen. Die Hausangestellten zum Beispiel kamen alle von unterschiedlichen Gewerkschaften, in denen es sehr starke Hierarchien gibt. Wir definierten also ganz klar, dass sie hier nicht als Abgesandte ihrer Gewerkschaften agieren, sondern hier sind, um mit der Thematik zu arbeiten, um die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse anzuklagen, um die Mechanismen aufzuzeigen, wie junge Frauen angeworben werden, um über Frauenhandel, Prostitution und sexuelle Ausbeutung zu sprechen. Mittlerweile haben wir völlig vergessen, wer welcher Gewerkschaft angehört. Symbolisch dafür sind die Fußballspiele, die sie jährlich veranstalten. Früher hat jede für das Team ihrer Gewerkschaft gespielt, jetzt spielen sie gemeinsam im Team des Radios.
Natürlich gewähren wir auch keinen Rassisten, Homophoben, Misogynen [»Frauenhassern«, Anm. d. Red.] Zutritt, auch keinen religiösen Gruppen oder Sekten. Einige haben versucht, sich einzuschleichen, aber unsere Teams haben so gut reagiert, dass es nicht einmal notwendig war, jemanden rauszuwerfen, die sind freiwillig wieder gegangen. Alle hier sind schon in dieser Dynamik von Respekt und Horizontalität.
Bei deinem Geburtstagsfest fand ich es sehr schön, dass die Cholas[2], die Schwulen, die Lesben miteinander getanzt und gefeiert haben. Normalerweise leben sie in unterschiedlichen Welten, treffen nicht aufeinander.
Klar, das war für alle ein sehr starker Prozess. Zu Beginn hatten die Frauen Angst, hierher zu kommen, es wurde ihnen gesagt, sie wären Lesben, wenn sie hierher kämen. Aber sie haben neue Arten von Beziehungen kennengelernt, haben auch Kontakt zu Männern und Frauen, die sämtlichen Zugang zu Bildung hatten, und dennoch sind sie diejenigen, die denen zeigen, wie man eine Radiosendung macht und sie sind für viele die Motivation, auch ein Programm zu machen. Das ist sehr schön anzusehen. Sie haben es jenen, die ihnen das nicht zugetraut haben, gezeigt. Und es sind interessante Beziehungen der Solidarität und des Respekts entstanden. Die Hausangestellten zum Beispiel, die aus sehr konservativen Gemeinden voller Tabus kommen, stehen hier in gleichberechtigter, wertschätzender Beziehung zu den homosexuellen Frauen und Männern. Das hat sie dazu gebracht, ihre eigene Situation der Ausbeutung zu reflektieren. Und zu schauen: »Wie geht es mir mit dem Anderen, dem Fremden?« Uns hat es natürlich erlaubt, umgekehrt dasselbe zu machen, Barrieren zu überschreiten. Und über Themen zu sprechen, die bisher nicht hinterfragt wurden. In der Welt der Aymara[3], wurde beispielsweise das Thema der sexuellen Gewalt nicht angesprochen. Für sie existierte die Vergewaltigung nicht. Es wurde als völlig normal angesehen, dass sich der Mann die Frau nehmen kann, wann er will. Das wird jetzt in Frage gestellt und gesehen, dass es eine Art ist, sich den weiblichen Körper anzueignen. Derzeit arbeiten die Hausangestellten an einem Programm, das völlig neu ist: Sie werden über Sexualität sprechen. Und über Lust. Früher kamen sie nur dann in den Medien vor, wenn sie ein Delikt begangen, zum Beispiel etwas gestohlen hatten. Also auf sehr stigmatisierte Art und Weise.
Die Männer der Gruppe »Soy marique[4] y que?« (Ich bin eine Schwuchtel, na und?) machen gerade eine Sendung über Homosexualität in der Welt der Aymara und was die Jungen, die ihre Dörfer verlassen mussten, berichten, steht in krassem Gegensatz dazu, was von den Dorfanführern öffentlich deklariert wird; nämlich, dass sie die sexuellen Orientierungen ihrer Mitglieder akzeptieren würden. Wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Diese Doppelmoral gilt es aufzuzeigen.
Und welche Reichweite hat das Radio? Ihr werdet ja auch im Ausland gehört.
Wir haben kein Rating, weil so eine Studie würde viel Geld kosten. Aber es gibt andere Parameter, die wir verwenden, um zu messen, wieviele ZuhörerInnen wir haben. Zum Beispiel die Anzahl der Personen, die unsere Beratungsstelle »Mujeres en busqueda de Justicia« (Frauen auf der Suche nach Gerechtigkeit) aufsuchen, unsere Kindertagesstätte, die Radioschule. Darüber hinaus, wieviele Werbungen in Auftrag gegeben werden, denn die sollen ja auch auf ein breites Publikum treffen, wieviele Menschen etwas über das Radio verlautbaren wollen. Und im Chat unserer Homepage teilen uns die Leute mit, was sie denken. Sie schreiben uns da auch: »Ich höre euch von Japan aus. Ich höre euch von Europa aus zu. Ich höre euer Radio in den frühen Morgenstunden in Spanien.« Man kann uns ja live über das Internet hören.
Gibt es Reaktionen der anderen Kommunikationsmedien?
Ja, alle kriegen mit, was wir machen. Und das sind alle Medien von La Paz: Radio, Presse, Fernsehen, alle sind gekommen um Reportagen über unsere Radiogruppen zu machen. Klar, weil es ist ja wirklich erwähnenswert, was wir machen. Dieselben Medien, die uns früher diskriminiert haben, kommen jetzt angelaufen.
Mit welchen Gruppen würdest du noch gerne arbeiten?
Nun, wir haben hier noch eine Gruppe von blinden Menschen, die auch ihr Programm haben, wir haben mit Kindern gearbeitet, wir haben die Gruppe »Asamblea Plurianimal« (eine Tierschutzgruppe). Ich würde sehr gerne mit Frauen im Gefängnis arbeiten, mit Menschen in der Psychiatrie...
So wie das Radio Colifata[5] in Buenos Aires...
Ja, genau. Es würde mir auch gefallen, mit Menschen zu arbeiten, die unterschiedliche Formen von Behinderung haben. Denn im Falle der Menschen mit Behinderung fallen die Medien in das andere Extrem, nämlich in das der Viktimisierung. Außerdem fände ich die Arbeit mit Prostituierten interessant. Aber das sind natürlich lange Prozesse.