Nach einer mehrjährigen Schaffenspause meldet sich Chester Brown nun wieder zurück. »Paying For It – A Comic-Strip Memoir About Being a John« lautet der Titel seiner jüngsten Graphic Novel, in der sich der heute 51-jährige Zeichner an seine aktiven Jahre als Freier erinnert. Sein rund 300 Seiten starkes Buch möchte der in Toronto lebende Autor jedoch nicht allein als autobiographisches Dokument verstanden wissen – sei ebenso »Paying For It« sein Beitrag zur öffentlichen Debatte über Sexarbeit, die in Kanada zwar nicht per se verboten ist, jedoch durch etliche gesetzliche Bestimmungen starken Einschränkungen unterliegt. So sind beispielsweise das Betreiben von Bordellen wie auch die Bewerbung sexueller Dienstleistungen oder das Anschaffen in der Öffentlichkeit verboten – Bedingungen, die die (legale) Ausübung von Sexarbeit deutlich erschweren und diese zudem vollständig in den privaten Bereich verlagern.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sorgte Browns öffentliches Outing als »John« (zu Deutsch: Freier) für einiges Aufsehen. Vom Feuilleton wurde der Tabubruch durchweg gelobt, der Entschluss, seine Verabredungen mit Sexarbeiterinnen zu Papier zu bringen, als »mutig«, »schonungslos« und »aufklärerisch« gewürdigt.
Dass Browns Freier-Karriere ausgerechnet mit einer persönlichen Niederlage seinen Anfang nimmt – seine damalige Freundin, die Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Sook-Yin Lee (hierzulande bekannt aus dem Film »Shortbus«), schasst ihn auf recht uncharmante Weise –, mag man zunächst noch als »klassische« Kompensationsstra-tegie angesichts einer männlichen Existenzkrise interpretieren. Allerdings zeigt Chester Brown keinerlei Interesse, den tragischen Helden zu geben. Anhand seiner eigenen Persona entmystifiziert er vielmehr das stereotype Bild des typischen »John«: Der ist nämlich in der Regel weder ein einsames Häufchen Elend noch ein brutaler Perversling, der sich besonders ausgefallene Sexpraktiken wünscht, sondern fürchterlich »normal« – und sieht im Fall von »Chet« Brown aus wie der blasse Nerd aus dem Comic-Laden von nebenan, der angesichts seiner soften Erscheinung eher den Beschützerinstinkt als die Libido zu wecken vermag. In einer Review für die New York Times titulierte ihn Sex-Aktivistin Annie Sprinkle gar augenzwinkernd als »goodhearted bad boy«.
Vollkommen entdramatisiert sind auch die Biographien der dargestellten Sexarbeiterinnen. Beichten aus der Drogenhölle, Missbrauchsgeschichten oder Berichte über Zwangsprostitution sucht man hier vergeblich. Statt Champagner oder harter Drinks gibt‘s höchstens mal ‘ne Cola vor dem Sex, der mal besser, mal schlechter ist und sich damit gar nicht so sehr von unbezahltem Sex unterscheidet. »Prostitution is just a form of dating«, erklärt Chester Brown. Was ihn allerdings nicht daran hindert, bei den Sexarbeiterinnen ständig nach denselben »Qualitäten« Ausschau zu halten: schlank, hübsch, große Titten – und so jung, wie es das Gesetz erlaubt.
Browns Faible für Playmate-Bodymaße kennt man bereits aus seinen älteren Comics, ebenso seinen stoisch anmutenden Charakter, der mehr an einen Buchhalter als an einen Sex-Tiger erinnert. Entsprechend sachlich ist der Erzählton, was die Alltäglichkeit und »Normalität« der Sexarbeit zusätzlich betont. Nicht weniger nüchtern präsentiert sich die Form: Die Seiten sind durchgehend streng in acht Panels gegliedert, in den Schwarzweiß-Bildern regiert ein klarer Strich.
Dies ist auch die Hauptabsicht des Autors: Mit der Forderung, Sexarbeit von ihrem gesellschaftlichen Stigma zu befreien, will Chester Brown auch die Freier-Identität »normalisieren«, was ihn zu recht fragwürdigen Vergleichen mit »Sexual Rights«-Bewegungen wie LGBT führt. Damit ignoriert er eine wesentliche Tatsache: Der Kauf sexueller Dienstleistungen ist bereits gesellschaftlich institutionalisiert und stellt bis heute ein legitimes (wenngleich moralisch ambivalent bewertetes) Handlungsfeld männlicher Identitätsbehauptung dar.
Zu dieser männlichen »Freier-Normalität« gehört auch die Sicht auf die Dienstleistung der Sexarbeiterin als Ware. Auf einer der verbreiteten Online-Plattformen für Freier tauscht Brown mit anderen Reviews aus, in denen Sexarbeiterinnen bewertet und miteinander verglichen werden – wie beim Autokauf. Diese Praxis ist nicht einfach Ausdruck eines besonders üblen Sexismus, vielmehr entspricht sie der kapitalistischen Logik, die Sex entsprechend der Ökonomisierung ungleicher Geschlechterbeziehungen warenförmig macht.
Wenig überraschend ist daher, dass auch der Körper der Sexarbeiterin »zerlegt« wird: Zwar hat Chester Brown die Frauen, die er als Freier getroffen hat, allesamt anonymisiert – dennoch hebt er immer wieder einzelne körperliche Merkmale hervor, von den Cellulite-Schenkeln bis hin zum Silikon-Busen. Für Brown scheint diese »entmenschlichende« Fragmentierungstechnik, die in der feministischen Auseinandersetzung mit dem Mainstream-Pornofilm als Konsequenz eines »männlichen Blicks« analysiert wurde, in keinem Widerspruch zu seiner vordergründigen Solidarisierung mit der politischen Huren-Bewegung zu stehen, die mit der Auffassung von Sexarbeit als Entscheidung (statt als »Schicksal«) den Subjektstatus der Sexarbeiterinnen betont.
Freier zu sein steht im Brownschen Universum für individuelle sexuelle Freiheit und nicht etwa für ein geschlechter- und klassenspezifisches Privileg. So fußt sein Plädoyer für die Dekrimininalisierung von Sexarbeit in Kanada (im Gegensatz zur Legalisierung, die eine Registrierung und Lizenzenvergabe – also letztlich eine staatliche Kontrolle – zur Folge hätte), die er in umfangreichen illustrierten Fußnoten ausführt, auf der Überzeugung, dass einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen Privatsache sei: Der Staat habe sich aus dem Schlafzimmer gefälligst rauszuhalten.
Für Sex zu zahlen, sei letztlich ehrlicher, schließlich sei auch die romantische Zweierbeziehung ein Tauschgeschäft, das jedoch durch allerlei Liebesgedöns verschleiert werde. Chester Brown idealisiert seine eigene Freier-Existenz zu einem Lebensstil, der sich als Gegenentwurf zur Idee der romantischen Liebe und der monogamen Pärchenbeziehung versteht. Derart wandelt sich das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, die die Wahl für Sexarbeit sowie Alternativen zu klassischen Beziehungsmodellen einschließt, in ein Recht auf prostitutiven Sex. Für wen eine solche »befreite« Sexualität funktioniert, dürfte nur unschwer zu erkennen sein.