Mythos Kunst (Teil 2): Kunst und Technik

Teil II der Serie Mythos Kunst widmet sich jenen künstlerischen Avantgarden, die Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaften miteinander zu verbinden suchen.

Im ersten Teil der Serie Mythos Kunst (siehe Versorgerin Nr. 106) wurde der Bogen gezogen vom Autonomwerden der Kunst an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, bis zu den Revolten der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, welche die Kunst mit dem Leben verbinden wollten. Im zweiten Teil geht es um jene künstlerischen Avantgarden, die Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaften miteinander zu verbinden suchen, von den Visionen der Saint-Simonisten über die Arts-and-Craft Bewegung bis hin zu Futurismus, Konstruktivismus, Bauhaus, und schließlich zu den konstruktivistischen Nachkriegsavantgarden wie E.A.T und New Tendencies, beides wichtige Vorläufer der Medien-, Netz-, und Digitalkunst. Bevor wir uns diesen Bewegungen und Schulen aber im Detail zuwenden können, seien einige kurze Vorüberlegungen gestattet.

Die selbst gestellte Aufgabe lautet, die Verhältnisse zwischen Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaft nicht vor einem abstrakten Hintergrund, sondern in einem spezifischen historischen Kontext zu diskutieren. Demgegenüber stehen gigantische Altlasten an Mystifizierungen von Kunst und Technik und vulgarisierenden historischen Vergleichen, mittels derer die Einheit von Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaft immer wieder postuliert wird. Das beginnt üblicherweise mit dem Verweis darauf, dass das griechische Wort techne zugleich Kunst und Technik bedeutet habe, wird damit fortgesetzt, dass Platons Höhlengleichnis als Vorwegnahme des Virtual Reality Cave gesehen werden kann, und man landet üblicherweise bei Leonardo da Vinci als Symbolfigur des Künstler-Wissenschaftlers. Doch laut dem Philosophen Heinz Paetzold, war Leonardo kein intellektueller Problem Solver – wie man heute den Begriff Wissenschaftler verstehen würde – sondern ein beobachtender, teilnehmender Forscher, der versuchte, die Realität sinnlich zu erfassen und der dabei auch ein Stück weit, aber nicht weiter, unter die Oberfläche blicken konnte.[1] Man könnte und sollte einen ganzen Artikel der Dekonstruktion solcher fehlerhaften Analogien und Metaphern widmen, doch das würde im Kontext dieser kleinen Serie zu weit führen.
Es ist also festzuhalten, dass die Begriffe Natur, Kunst, Technik, Gesellschaft und ihre Verhältnismäßigkeiten keine absoluten oder objektiven Tatsachen bezeichnen, sondern dass ihre jeweiligen Bedeutungen das Produkt eines kollektiven gesellschaftlichen Imaginären sind, das von den gerade gegebenen gesellschaftlichen Zuständen bedingt wird. Die Arbeit der Künstler_innen ist die individuelle Seite dieses Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen dem was sich bereits historisch objektiviert hat und dem was einen offenen Horizont aufweist, vor dem sich ein Subjekt verwirklichen kann, sei es als Individuum oder als kollektives historisches Subjekt.

Wenn wir uns also, wie schon im ersten Teil auch, wieder dem 19. Jahrhundert zuwenden, dann geschieht das deshalb, weil erst durch die Entwicklung des Industriekapitalismus eine Situation entstanden ist, die es erlaubt sinnvolle historische Vergleiche anzustellen. Zunächst war das 19. Jahrhundert von einer Phase der gesellschaftlichen Restauration gekennzeichnet. In Kunst und Architektur dominierte der Klassizismus, die Vorbilder wurden in der Renaissance und in der Antike gesucht und gefunden. Es begann sich eine immer größere Kluft aufzutun, zwischen gesellschaftlicher Dynamik und kultureller Entwicklung. Die gesellschaftliche Dynamik war zunehmend gekennzeichnet vom Kapitalismus, von der Investition in neue, maschinengestützte Produktionsmittel, von der Entstehung eines industriellen Proletariats, der Industrialisierung der Landwirtschaft und des Wachstums der Städte. In der Kunst und Kultur aber hielt man an den vorgeblich ewigen Werten der Klassik fest.

Nur unter der Oberfläche brodelte es, etwa in der deutschen Frühromantik, und im Jenaer Kreis, wo Ideen entwickelt wurden, die bis in die Postmoderne und danach von Relevanz waren und sind. In Frankreich in den 1820er Jahren waren die Saint-Simonisten aktiv, eine Gruppe um den Grafen Henri de Saint-Simon, die glaubten, dass die Gesellschaft der Zukunft von der »industriellen Klasse« geschaffen werde, ein Begriff, den sie synonym mit der »arbeitenden Klasse« verwendeten. Was sie damit meinten waren Unternehmer, Künstler und Wissenschafter, eigentlich alle Menschen, die produktiv tätig waren, zum Unterschied von den Rentiers, die von den Zinsen ihres Vermögens leben. Saint-Simon und sein sehr enger Kreis sahen Künstler als Teil der »Klasse des Neuen« (Class of the New), wie es Richard Barbrook im gleichnamigen Buch nannte.[2] Die Vision der Saint-Simonisten – die Gruppe sah sich auch als Form eines Neuen Christentums – war auf ein gesellschaftliches Ganzes gerichtet, eine Totalität. Ihre Ideen speisten den Frühsozialismus, wurden von Marx und Engels positiv vermerkt und können als geistige Vorläufer des Konstruktivismus, von Bauhaus, Medien- und Digitalkunst gelten.
Wie Marx, als eine Art Tiefenpsychologe des Fortschritts, analysierte, revolutionierte der Kapitalismus die technischen Produktionsmittel und schuf damit die Bedingungen zu seiner eigenen Überwindung. Um jedoch die Produktionsverhältnisse – also die unfaire Klassengesellschaft – aufrecht zu halten, musste diese aus den Produktivkräften stammende revolutionäre Tendenz immer wieder eingefangen werden. Das geschah durch schieren Zwang, aber auch mit den Mitteln dessen, was Herbert Marcuse affirmative Kultur nannte. Einer solchen affirmativen Kultur begegnet man auch heute noch, nur haben sich die Parameter geändert, was affirmativ heißt.

Der Jenaer Kreis, eine beispiellose Ansammlung von Dichter_innen, Philosoph_innen und Wissenschafter_innen im kleinen Jena um 1800 probte die Umkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man war begeistert von der Französischen Revolution, überlegte aber, wie eine Revolution zu bewerkstelligen sei, die nicht in Terror und Gegenrevolution abgleitet. Als Mittel dazu dienen sollten Schönheit und Wahrheit, Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Gerade weil Deutschland im Verhältnis zu England und Frankreich industriell rückständig war, kam es noch einmal zur Auflehnung des idealistisch gesonnenen Geistes gegen die Kräfte der Entfremdung, gegen Ökonomisierung und Rationalisierung der menschlichen Verhältnisse, an der Schwelle zur Moderne. Viele der Autoren hatten eine ablehnende Haltung gegenüber der Technik und der aufklärerischen Rationalität, ja gegenüber der Moderne insgesamt, dennoch strahlte auch von deren Ablehnung der Technik etwas auf sie zurück. Sie haben das hässliche Neue so schön gehasst, dass es dadurch auch etwas schöner wurde. Damit haben sie etwas vorweggenommen, was die Kinder des liberalen Bürgertums im Westen in der Hippie-Ära wiederentdeckten, einen Romantizismus, der auf der Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse fußt, die von den Kräften des technologischen Fortschritts aber auch der Technokratie und Bürokratie geprägt sind.

Wie nun im Lauf des 19. Jahrhunderts die Technik vom Kapital immer weiter entwickelt wird, kommt es zu einer Abstraktion des technologischen Wissens. War in der kunsthandwerklichen Fertigung das Wissen und das Geschick noch vereint im Kopf und in der Hand der Kunsthandwerker_in, so wird durch die Maschinen (also eigentlich durch das Kapital) eine Trennung herbeigeführt. Das Wissen der Kunsthandwerker_in wird abstrahiert und findet Eingang in die maschinelle Produktion. Für die Arbeitskräfte ergibt sich ein Prozess der permanenten Abqualifizierung und Neuqualifizierung (deskilling und reskilling). Das in der Maschine abstrahierte kunsthandwerkliche Wissen macht die Kunsthandwerker_innen arbeitslos, die Maschinen können von weit weniger qualifizierten Arbeiter_innen bedient werden. Zugleich entstehen neue Berufe für jene, die Maschinen entwerfen und bauen, die Technologie entsteht als Wissen über die Technik.
Gegen diese durch die Industrialisierung bewirkte zunehmende Aufspaltung von Kopf und Hand, von Wissen und Geschick, die bis in die innerste Struktur der Gesellschaft geht, entwickelten sich Gegenströmungen. In England polemisierte John Ruskin gegen die Verödung der menschlichen Sinne durch die Industrialisierung und forderte eine Rückkehr zu einer von den Kathedralenbauern des Mittelalters inspirierten Vorstellung der Handwerklichkeit. Ebenfalls von mittelalterlicher Handwerkskunst beeinflusst war William Morris, der gemeinsam mit Ruskin zu den Gründern des englischen Arts and Craft Movement zählte. Zum Unterschied von Ruskin war Morris ein glühender Sozialist. Ihn störten weniger die Maschinen selbst als der entfremdende und abstumpfende Effekt derselben auf die Arbeitskräfte, sowie die Verlogenheit, insofern mit Hilfe von Maschinen pseudo-handwerklicher, von Ornamenten überzogener Kitsch hergestellt werden konnte.
Das 19. Jahrhundert war von solchen »erfundenen Traditionen« gekennzeichnet. Zur Zeit der Weltausstellung von Chrystal Palace in London 1851 war das Mittelalter gerade groß in Mode. Neue Erfindungen mussten im Gewand des Alten präsentiert werden. Die Technologie entwickelte sich rasch, so etwa das Bauen mit Eisen-, dann Stahlträgern, die Gebäude wurden aber wieder äußerlich mit Verputz und Ornamenten überzogen. Die Kluft zwischen einer dynamischen Kultur der Technik und einer auf diese herabblickende »Kultur der Kultur« wurde immer größer. Die bürgerliche Hochkultur wandelte immer noch auf den Spuren der Antike, doch seit den Tagen der Französischen Revolution hatten sich die Dinge grundlegend verändert. Der deutsche Philosoph Walter Benjamin hatte beobachtet, dass sich das Bürgertum in seiner revolutionären Phase in die Gewänder der klassischen Antike kleidete, um der Forderung nach Demokratie mehr Legitimität zu verleihen. Dasselbe Bürgertum hatte aber in der Zwischenzeit die wirtschaftliche Macht an sich gerissen, indem durch das Kapital die technischen Produktionsmittel entwickelt wurden. In der Sphäre der Produktion war die Technik willkommenes Mittel, die Kunst aber wollte man möglichst frei davon wissen. Die bürgerliche Hochkultur wurde auf der Basis dieser gesellschaftlichen Kluft immer mehr zu einer Form der Repression und der Verdrängung. Diese Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital, zwischen dynamischer Technik und statischer Hochkultur standen sich lange unaufgelöst gegenüber. Bevor es aber zur Explosion kommt, sei die Aufmerksamkeit kurz auf das Geschichtsbild Walter Benjamins gelenkt.

Eisen als neues Baumaterial wurde zuerst in den Arkaden eingesetzt, den überdachten Geschäftszeilen im Paris des frühen 19. Jahrhunderts, die das Interesse Walter Benjamins fanden. Im Passagenwerk betrieb Benjamin seine Wort-Magie einer Medienarchäologie, die aus den Überbleibseln einer versunkenen Kultur das Material für die Aktualisierung des Geschichtlichen in der Gegenwart suchte und fand. Benjamin dachte, dass das neue Zeitalter im alten schwanger ist, und dass jedes Zeitalter träumend auf das Erwachen hindrängt.[3] Das Erwachen erfolgte am Beginn des 20. Jahrhunderts, zunächst in Form der künstlerischen Avantgarden. Die italienischen Futuristen wollten den kunsthistorischen Müll loswerden und schrieben, jeder Rennwagen sei schöner als die Nike von Samothrake. Mit dem Ende des Großen Europäischen Kriegs 1918 war das bürgerliche Zeitalter beendet, eine neue Ära begann, nicht mehr allein in der Kunst, sondern auch politisch.
Im Anschluss an die Oktoberrevolution in Russland entwickelte sich um 1920 – 1921 ein neuer Stil, der Konstruktivismus. Diese an Malewitsch und den Futurismus anschließende Bewegung wies einen radikalen Zweig auf, den Produktivismus. Die Produktivist_innen erklärten die Kunst im engeren Sinn für beendet und machten es sich zur Aufgabe, Einfluss auf möglichst viele Bereiche der sowjetischen Lebenswelt zu finden. Künstler_innen wie Wladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko, und Warwara Stepanova versuchten Kontakte mit Industrieunternehmen aufzunehmen, um ihnen ihre Dienste als Designer anzubieten. Das gelang noch am besten und nachhaltigsten den Künstlerinnen Warwara Stepanova und Ljubov Popova, die Textilentwürfe für die Moskauer Textilwerke schufen, während die Projekte der männlichen Kollegen eher floppten.
Die Versuche der Konstruktivisten sich im Aufbau einer materiellen Lebenswelt in Kommunismus nützlich zu machen, fielen in die Ära der New Economic Policy NEP. In dieser Phase der Normalisierung nach dem Bürgerkrieg wurde die enge Kontrolle der Wirtschaft aufgehoben, es entwickelte sich ein Kleinkapitalismus, was den Produktivismus bald zum Versanden brachte. Allerdings war der Konstruktivismus von nachhaltigem Einfluss auf die Moskauer Kunsthochschule Wchutemas, es gab in Film, Fotografie und Bühnenkunst auch späte Ausläufer (siehe Gerald Raunig, Kunst und Revolution[4]), und man kann den Produktivismus auch wie Benjamin in »Der Autor als Produzent« (1934) verstehen. Die Aufgabe des Autors sei es, schrieb Benjamin in Anlehnung an Sergei Tretjakow, nicht nur sich selbst auszudrücken, sondern durch seine Arbeit aus Leser_innen Schreiber_innen zu machen.

Futurismus und Konstruktivismus, De Stijl und Bauhaus beseitigten den kulturhistorischen Ballast und befreiten die Form von der Umarmung durch das Ornament, hinter dem Schmuckwerk wurde die Konstruktion sichtbar. Doch wie die ungarische Autorin Eva Forgacs festhielt, war das Bauhaus in Weimar in seinen Anfangsjahren noch stark von expressionistischen Tendenzen gekennzeichnet. Die Bauhütten der Kunsthandwerker, welche die gotischen Kathedralen gebaut hatten, und ihr kollaboratives Ethos bildeten die Inspiration. Lehrer wie Johannes Itten, der seinen Unterricht mit Atemübungen begann, sahen in der abstrakten Kunst archetypische Formen und Verhältnisse des Universums. Erst später, durch junge Professoren wie Laszlo Moholy-Nagy, wurde eine klare, rationalistische und funktionalistische Linie eingeführt. Moholy-Nagy verwendete unter anderem Lichtfotografie, wie sie auch in tayloristischen, arbeitswissenschaftlichen Studien zur Erhöhung der Effektivität der Arbeitskraft eingesetzt wurden. Die Technik wurde als Mittel der Befreiung begriffen, Mathematik und Wissenschaft als legitime Mittel der Kunst eingesetzt. Nach der von den Nazionalsozialisten erzwungenen Schließung des Bauhaus wanderte Moholy-Nagy über England in die USA aus und gründete dort das Institute of Design in Chicago. Andere Bauhaus-Abgänger wie Josef Albers fanden sich am Black-Mountain College ein. Es entwickelten sich verschiedene Kunst- und Technik-Traditionen: eine funktionalistische Linie in Design und Architektur, die bei allem Purismus der eingesetzten Mittel letztlich den liberalen Kapitalismus verherrlichte; und eine von Zen-Buddhismus und anderen esoterischen Ideen getragene Auseinandersetzung mit Technik am Black-Mountain College, vor allem durch die Arbeiten von John Cage und dessen Einfluss auf Robert Rauschenberg und Nam June Paik. Diese Entwicklungen fanden wieder mit europäischen Traditionen zusammen, als der Techniker Billy Klüver dem Neo-Dada Künstler Jean Tinguely half, Hommage an New York (1960) zu realisieren, eine Maschinenskulptur im Garten des MoMA, die sich im Laufe des Abends selbst zerstörte. Klüver wurde später gemeinsam mit Rauschenberg zur treibenden Kraft hinter Experiments in Art and Technolgy (E.A.T.), einer Organisation, die sich dem Zusammenführen von Künstlern mit Technikern widmete.

In Europa entstand in Zagreb, Kroatien, 1961 mit den Neuen Tendenzen eine große, internationale Künstler_innenbewegung, die ebenfalls an der Schnittstelle von Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaft arbeiteten. Die Neuen Tendenzen wollten die Kunst überhaupt gleich abschaffen und sie durch visuelle Forschung ersetzen. Dabei gab es innerhalb dieses weit gespannten Netzwerks verschiedene Strömungen: einerseits Gruppen wie die deutschen Künstler Zero und die Niederländer Nul, die mit Licht und Bewegung arbeiteten, um eine Erweiterung der sinnlichen Erfahrungswelt zu erzielen und damit zugleich ihr Publikum aus der entfremdeten, sinnlich verarmten Lebenswelt des Industriekapitalismus zu befreien, wobei die Betonung jedoch ausdrücklich auf der ästhetischen Erfahrung lag; zum anderen gab es Gruppen wie die Pariser Groupe de Recherche d‘Art Visuel (GRAV), die Mailänder Gruppe T und die Gruppe N aus Padua, die Spanier Equipo 57, sowie verschiedene Individuen in Italien, Österreich (Marc Adrian, Helga Philipp) sowie aus der Klasse von Ernst Geitlinger in München, die eine neue Rolle für Kunst jenseits des Marktes suchten. Anstatt Kunstwerken schufen sie Experimente mit Laborcharakter, teilweise inspiriert von Gestaltpsychologie, wobei optische Effekte und Bewegung nicht um ihrer selbst eingesetzt wurden, sondern als Mittel zum Ziel der Überwindung der Entfremdung. Vor allem GRAV, N und jugoslawische Kurator_innen und Künstler_innen verbanden die Idee der visuellen Forschung explizit mit neomarxistischen, kunstphilosophischen Ideen. Mein Buch New Tendencies: Art at the Threshold of the Information Revolution (1961-1978) beschäftigt sich ausführlich mit dieser wichtigen internationalen Kunstbewegung aus unserem ehemaligen südlichen Nachbarland (Erscheinungsdatum Mai 2016). Die Ironie des Schicksals im Falle der Neuen Tendenzen lautete, dass ihre abstrakte politische Kunst zur sozialen Dynamik beitrug, die zu den Revolten von 1968 führte, dass damit aber zugleich ihr eigenes Ablaufdatum gekommen war. Die Neuen Tendenzen schufen offene Kunstwerke, die ein dynamisches Verhältnis zwischen Werk und Betrachter_in herstellten, um damit die kritische Subjektivität letzterer aufzuwecken. Doch die Menschen, die 1968 auf die Straße gingen, waren bereits aufgeweckt, sie brauchten keine Gadgets und optischen Spielereien, um eine nicht-konforme Subjektivität zu entwickeln.

Schon 1965 waren die Neuen Tendenzen in eine Krise geraten, 1968/69 wandten sie sich dem Computer als Ausweg aus der Krise zu. Zeitgleich mit Cybernetic Serendipity im August 1968 in London wurde Zagreb mit Ausstellungen und Symposien zum Thema Computers and Visual Research zum internationalen Zentrum der noch jungen Computerkunst. Am Ende der 1960er Jahre sah es kurze Zeit so aus, als würden Kunst und Technologie, Kunst und Medien die bestimmenden neuen Kunstformen werden. Dabei wurden im Jahr 1970 Information und Software Titel von wichtigen Ausstellungen, erstere im MoMA, New York, letztere im Jewish Museum, ebenfalls New York. Für Jack Burnham, Kurator von Software, wurde die Software zur Metapher für den nichtmateriellen Gehalt der Kunst. Jack Burnham versuchte mit der Software-Ausstellung Computerkunst und Konzeptkunst zusammenzubringen. Doch der Algorithmus als verbindende Klammer – im abstrakten Sinn verstanden als Serie von Schritt für Schritt auszuführenden Anweisungen – genügte nicht, um die beiden Bewegungen zusammenzuhalten. Die Konzeptkünstler_innen hatten etwas ganz anderes im Sinn als die Computerkünstler, die im Übrigen häufig Ingenieure von Technologieinstituten waren, wie zum Beispiel Nicholas Negroponte, der bei Software ein Labyrinth für Mäuse zeigte.

Die Konzeptkunst bezog sich auf ihren Ahnherrn Marcel Duchamp. Bereits 1917 hatte Duchamp mit dem Werk Fountain die Neuordnung des Verhältnisses von Kopf und Hand in der Kunst thematisiert. Duchamp hatte versucht ein einfaches, mit einer fiktiven Künstleridentität signiertes Urinal in einer Gruppenausstellung zu zeigen. Damit hatte er auf dem Feld der Kunst die durch den Industriekapitalismus eingeführte Dialektik zwischen De- und Requalifizierung zum Ausdruck gebracht. Lange Zeit fast vergessen, wurde Duchamp in den 1960er Jahren wieder entdeckt. Die Verbindung zwischen Kunst und Handwerk wurde durch Duchamp und dessen Nachfolger_innen endgültig getrennt. Die Konzeptkunst in ihren verschiedensten Ausführungen und Spielarten, die ab zirka 1966 entstanden, und mit Arte Povera, Body Art, Land Art, Performance usw., auch noch weite Strecken der 1970er Jahre dominierten, richteten sich gegen die instrumentelle Vernunft und bürokratisch, technologische Rationalität, und setzen wieder Ritual und Mythos ins Blickfeld. Das Liebesspiel von Kunst und Technik war damit vorerst ausgesetzt, setzte sich zwar im Untergrund und esoterischen Praktiken fort, doch eine neue, öffentlich wahrgenommene Renaissance von Kunst und Technik gab es erst ab 1979, dem Gründungsjahr der Ars Electronica.

 

Teil 1: Der Mythos des Künstlers
Teil 3: Im Blitzlicht der Ästhetik des Neuen
Teil 4: Feminismus, Semiotik, Anti-Kunst, Befreiung
Teil 5: Die Computerkunst ist tot, es lebe die Medienkunst!
Teil 6: Post-Art oder in der Endlosschleife des Zeitgenössischen

[1] Heinz Paetzold, Profile der Ästhetik: der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne (Passagen, 1990).
[2] Richard Barbrook, The Class of the New (London: Openmute, 2006).
[3] Walter Benjamin and Gerard Raulet, Passagen: Schriften Zur Französischen Literatur (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007).
[4] Gerald Raunig, Art and Revolution: Transversal Activism in the Long Twentieth Century (Los Angeles: Semiotext(e), 2007).

»Hommage an New York« von Jean Tinguely (1960) (Foto: cc)