Polizeigewalt gegen Roma ist endemisch in Europa. In den letzten Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden wohl zehntausende Roma Opfer von Polizeigewalt. In vielen Teilen Europas scheinen Roma regelrecht als Vogelfreie zu leben, denen grundlegende Rechte versagt werden. Anders sind die Verhältnisse, mit denen die Opfer von Polizeigewalt konfrontiert sind, nicht seriös zu beschreiben. Die Hungarian Civil Liberties Union (TASZ) beschreibt in Videodokumentationen (2010/2011) die Situation von Roma im Bezirk Borsod und Heves in Ungarn. Die Video-Dokumentationen zeigen willkürliche Strafen, Schikanen, Drohungen und Gewalt, selbst Kinder werden angegriffen und schwer verletzt. Nach 7-monatigen Untersuchungen vor Ort hält TASZ fest:
»Wir haben zahlreiche Beschwerden aufgrund von Polizeiübergriffen während dieser Dauer erhalten. In manchen Städten missbrauchen Polizeibeamte täglich die Amtsgewalt; Roma werden allein aufgrund ihrer Herkunft Ziel von Personalkontrollen und Strafen. Vielfach mündet ihr [der Polizeibeamten] Verhalten in Gewalt.«
Praktisch alle fundierten Berichte, welche die Situation von Roma in den Krisengebieten in Osteuropa bzw. im Mittelmeerraum eingehender beschreiben, kommen zum Schluss, dass Polizeigewalt gegen Roma allgegenwärtig ist. Die massive Verbreitung dieser Gewalt und die damit verkettete Weigerung der Verwaltungs- und Justizbehörden, dagegen effektiv vorzugehen, zwingen zum Schluss, dass Roma in bestimmten Kommunen und Regionen nicht bloß Opfer von schweren einzelnen Polizeiübergriffen sind, sondern ungeachtet der formellen Gesetzeslage und verfassungsrechtlich garantierten Rechte, de facto eine entrechtete Klasse von Menschen innerhalb Europas darstellen.
Neben einer schier unübersehbaren Menge an Übergriffen durch einzelne Polizisten, sind besonders Attacken durch Gruppen von Polizisten bzw. Angehörigen von Sicherheitsbehörden bezeichnend für die Situation allgemeiner Rechtlosigkeit. Hier wird offenbar, dass diese Gewalt nicht allein das Produkt isolierter rassistischer Polizeibeamter ist, sondern von Teilen der Polizei getragen und als originärer Teil des Dienstes verstanden wird. Zu diesen Erscheinungen kollektiver Gewalt zählen u.a.
- willkürliche Festnahmen (Entführungen) von Roma durch die Polizei (zum Teil mit Lösegeldforderung)
- die stunden- oder tagelange Misshandlung von Roma auf Polizeistationen
- willkürliche brutale Angriffe auf Gruppen von Roma in der Öffentlichkeit
- brutale Polizeiüberfälle auf Roma-Siedlungen
- Vertreibungen von Roma aus deren Siedlungen und Massenabschiebungen
Seit dem Fall des Ostblocks werden Roma in Europa gezielt von Polizei und Angehörigen der Sicherheitsbehörden in ihren Häusern und Unterkünften brutal angegriffen. Der Angriff durch die Polizei im eigenen Heim, die Überfälle mitten in der Nacht, die Schläge auf Familienangehörige, welche sich zum Teil noch in den Betten befinden, sind für viele Roma eine schwere traumatische Erfahrung. Der Diebstahl des Eigentums, die mutwillige Zerstörung der Einrichtungen und Unterkünfte verblassen oft neben der offenen Gewalt, welche gegen Roma entfesselt wird. Die Berichte solcher Razzien geben einen klaren Eindruck davon, wie weit in Teilen Europas jeglicher Schutz der Menschenrechte zusammengebrochen ist. Besonders brutal verlief ein Überfall im September 2006 in Apalina (Rumänien). Dort wagten es Roma im Verlauf einer größeren Polizeiaktion, Widerstand gegen die ausufernde Polizeigewalt zu leisten. Das Resultat waren 36 verletzte Roma, darunter 17 Frauen und 5 Kinder. Die Polizei setzte dabei Tränengas, Tränengasgranaten, Knüppel, Plastikmunition und Schusswaffen ein. Einem Roma, der sich schützend über seinen Neffen im Kleinkindalter und seine schwangere Tochter gebeugt hatte, wurden 17 Plastikgeschosse chirurgisch aus seinem Rücken entfernt.
Während in vielen Staaten Osteuropas die Polizei gegenüber Roma keinerlei Hemmungen mehr zeigt, scheinen größere Polizeiaktionen in Westeuropa vergleichsweise weniger gewalttätig zu sein. Hier herrschen bloß systematisch entwürdigende Behandlung, Zerstörung und Enteignung des Eigentums vor. Die Vertreibungsaktionen laufen alle nach einem ähnlichen Schema ab: Die Roma werden – meist ohne Vorwarnung – aufgefordert, ihre Unterkünfte zu verlassen. Vielfach wird ihnen keine oder ungenügend Zeit geboten, ihr Eigentum zu retten, oft werden Unterkünfte mitsamt Möbeln, Kleidung und persönlichen Wertgegenständen kurzerhand von Bulldozern niedergewalzt. Viele der betroffenen Roma werden obdachlos, oft sind ganze Familien gezwungen, auf der Straße zu leben. In anderen Fällen werden Roma leerstehende Gebäude oder Grund weit außerhalb der Stadt angeboten. In der Regel haben diese alternativen Unterkünfte keine Verkehrsanbindung, keine adäquaten sanitären Einrichtungen oder Heizung. In mehreren dokumentierten Fällen wurden Roma auch neben Müllhalden oder aufgelassenen chemischen Industrieanlagen untergebracht.
Die dokumentierten, haarsträubenden Fälle von Polizeigewalt gegen Roma im Rahmen von Razzien und Vertreibungen stellen offensichtlich nur einen Teil der tatsächlichen Übergriffe dar. Zieht man auch die Masse der Polizeiübergriffe durch einzelne Polizisten, Fälle von Folter und tägliche Schikane in Betracht, ergibt sich ein Muster einer umfassenden und radikalen Entrechtung einer Minderheit in Europa.
Der Blog Verfolgung der Roma in Europa widmet sich der Diskussion und Dokumentation der Situation der Roma in Europa. Obwohl relativ gut dokumentiert, ist die tatsächlichen Dimension der Repression und Gewalt gegen Roma in Europa der Öffentlichkeit kaum bekannt. Es ist ein Kapitel europäischer Geschichte, das es noch zu schreiben gilt. Basierend auf Berichten und Meldungen von NGOs und Medien komme ich zum Schluss, dass die Situation der Roma in Europa mit Begriffen wie Diskriminierung, Übergriff oder Ausgrenzung nicht adäquat beschrieben ist. Roma in Europa werden nicht allein in bestimmten sozialen Bereichen benachteiligt, sondern systematisch isoliert, degradiert und entrechtet. So werden sie vogelfrei und zum Ziel von Gewalt durch zivile und legale Akteure. Der entsprechende Begriff lautet: Verfolgung.