Die Frage, ob und wie Popkultur subversiv sein kann, ist ein Dauerbrenner unter musikaffinen linken Sozial- und Geisteswissenschafter*innen. Ein klassisches Forschungsanliegen kreist um die Formierung von Szenen, die abseits von musikalischen Mainstreams operieren und dort potentiell mehrheitsgesellschaftskritische Werte ausbilden und verhandeln: wie grenzen sich sogenannte Subkulturen von etablierteren Strukturen ab, wie interagieren sie mit diesen, welche politischen Anliegen werden verfolgt, und mit welcher Wirkung tragen subkulturelle Akteur*innen ihre Agenden in einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs? Traditionell fokussieren Arbeiten aus dem Cultural-Studies-Umfeld dabei auf das Soziale: gefragt wird weniger nach den musikalischen Qualitäten der im Subfeld zirkulierenden Produktionen, sondern nach der Bedeutung, die sich Akteur*innen im gemeinsamen Produzieren und Rezipieren von szeneüblicher Musik erschließen. Eher neu ist die Frage nach dem Wirken von Affekt und Materialität und nach der Rolle des Körperlichen in diesen Prozessen: wie kann die konkrete sonische Beschaffenheit der in einer bestimmten Szene bevorzugten musikalischen Genres - zum Beispiel die ihnen typischen Lautstärken, Tempi, Beats, Klangfarben - in den Akteur*innen Empfindungen auslösen, die mit den gemeinsam verfolgten Anliegen korrespondieren?
Die Kulturanthropologin und Musikjournalistin Bianca Ludewig stellt sich in ihrer kürzlich in der Schriftenreihe des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien erschienenen Masterarbeit der nicht unerheblichen Aufgabe, die klassische Frage nach dem politischen Veränderungswillen über die Analyse von sonischer Materialität aufzuknacken. Ihre Ausgangsthese ist, dass sich Szenen, die sich wesentlich über extremen Sound definieren, sich auch auf einer sehr unmittelbaren körperlich-viszeralen Ebene verwirklichen und vermitteln, und dadurch (politische) Inhalte auf andere Weisen transportiert werden können als über sprachliche Narrative (denen sich, so ihre Kritik, die sozialwissenschaftlich fokussierten Kulturwissenschaften bisher hauptsächlich widmeten). Ludewig wählt mit Gabber und Breakcore hierfür zwei Szenen, die sich aufgrund ihrer brutalen Soundqualitäten ausgezeichnet für eine sonisch-materielle Herangehensweise eignen. Anhand von Hörprotokollen, Feldnotizen und Interviews mit (ausschließlich männlichen*) DJs und Produzenten zeigt sie, dass sich beide Styles nicht nur über extreme Geschwindigkeit realisieren, sondern auch erst über eine das viszerale Erleben betonende Präsentationsweise zu ihrer idealen Entfaltung kommen: Parties finden üblicherweise in sehr stark abgedunkelten Räumen, unter hochfrequentem Einsatz von sehr kontrastreichen, stark auf das Nervensystem wirkenden Lichteffekten wie Stroboskop, und mit sehr laut über äußerst kraftvolle Verstärker und mächtige Boxen abgespielten Tracks statt. Diese Erlebniswelt beschreibt Ludewig als „apokalyptisch«: es handle sich um „Klänge, die wehtun« (55), welche die Hörenden und Tanzenden nicht trösten und beruhigen, sondern sie vielmehr an die Grenzen des körperlich Aushaltbaren und damit aus ihrer Komfortzone hinauspushen sollen. Das politische Potential, das die Autorin darin ausgedrückt sieht, ist eines der Erneuerung durch Zerstörung. Die extremen sonischen Signaturen von Gabber und Breakcore spiegeln den katastrophalen Zustand der bestehenden Welt, die menschliche Subjekte bedrückt und bedroht. Anstatt sich aber in reparative Utopien zu flüchten (wie etwa in den rave hedonism der Berliner Loveparade, der im Buch immer wieder als grundlegende Abgrenzungsfolie für die beforschten härteren Technoszenen dient), richten Gabber und Breakcore Blicke, Ohren und den gesamten empfindenden Körper auf eine sensorische Brutalität, die der in der bestehenden Welt herrschenden gleicht. In der Hingabe an die Brutalität und der Suche nach immer weiteren Grenzüberschreitungen drückt sich für Ludewig eine akzelerationistische Grundstimmung der Szeneakteur*innen aus: der Untergang der aktuellen, vom Kapitalismus ohnehin beinahe schon vollständig verwüsteten Welt soll unterstützt und beschleunigt werden, damit aus den Trümmern etwas Neues entstehen kann. In den letzten beiden Kapiteln ihres Buches - die den ethnografischen und meines Erachtens nach gelungensten Teil der Arbeit ausmachen - widmet sich die Autorin der Umsetzung dieser Grundstimmung in Momenten des praktischen Protests, und analysiert die Beteiligung von Gabber- und Breakcore-Kollektiven an aktivistischen Initiativen gegen die während der 2010er Jahre rasend voranschreitende Gentrifizierung der Stadt, vor allem anhand der Fuckparade, einer seit 1997 jährlich abgehaltenen Demonstration gegen die Kommerzialisierung von Musik- und Kulturarbeit. Es gehört zu den besonderen Stärken der Arbeit, dass an dieser Stelle auch die Widersprüchlichkeiten des zuvor mit viel Engagement herausgearbeiteten, im Gabber und Breakcore verorteten sonisch-materiellen politischen Potential zur Sprache kommen. Wie viele sich hauptsächlich über die Musik definierende, und sich deshalb als grundsätzlich politisch undogmatisch begreifende Szenen ziehen Berliner Gabber- und Breakcorekollektive unter anderem auch Akteur*innen an, die sich als ‚unpolitisch‘ (heißt in diesen Fällen so gut wie immer: =rechts) bezeichnen, und die die links positionierten Protagonist*innen zur Auseinandersetzung mit Antifeminismus, Hass gegen Zuwanderung, Antisemitismus usw. in den eigenen, vermeintlich progressiven Erlebniswelten zwingen. Auch wenn Ludewig dahingehende Szenekonflikte eher beschreibt als analysiert, wird doch deutlich, dass auch Gabber und Breakcore das Los vieler Szenen teilt, deren Hauptanliegen die ästhetische Transgression ist: Tabubruch und Grenzüberschreitung um ihrer selbst willen öffnen Tür und Tor für Euro-Macker-Selbstverwirklichung, wenn sie komplett inhaltsoffen und nicht von einer Reflexion der eigenen spezifischen Verortung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft (und den damit einhergehenden Privilegien) begleitet sind.
Dass die Arbeit stellenweise überladen wirkt, ist zwei besonderen Umständen geschuldet. Zum einen ist es ein kollaterales Produkt der enormen Stemmarbeit, die Ludewig mit ihrer Masterarbeit leistet: da es sich bei Gabber und Breakcore um akademisch unterbeforschte Gebiete handelt, macht sie es sich im ersten Teil des Buches zur Aufgabe, einen möglichst umfangreichen Überblick über beide Szenen in ganz Europa zu liefern. Dass die titelgebende Frage nach „Utopie und Apokalypse in der Popmusik« dabei streckenweise ins Hintertreffen gerät, ist nachvollziehbar. Zum zweiten ergibt sich der Eindruck aus der eigenwilligen Methode der Autorin, „zu schreiben, wie ein DJ auflegt« (10): eine Fülle von Theorien zum Sonischen, zum Utopisch/Apokalyptischen, zum Politischen, zum Verhältnis von hörendem Subjekt und Technologie werden nacheinander eingespielt und teilweise ineinander gemixt, aber letztlich nicht zu einem der Arbeit eigenen Instrumentarium zusammengesetzt. Dabei bleibt manchmal unklar, wie Ludewig die von ihr versammelten theoretischen Konzepte genau auf ihren Forschungsgegenstand bezieht. Diese Vorgehensweise hat zum einen den von der Autorin beabsichtigten Effekt, dass ich als Lesende der Einladung folgen muss, „auch selber Gedanken [zu] entwickeln« (10). Als stark durch akademische Konventionen konditionierte Leserin drängt sich mir zum anderen allerdings auch der Wunsch auf, Ludewigs Gedanken deutlicher ausformuliert zu sehen, vor allem in Bezug auf Fragen, die im unkommentierten Mix problematisch erscheinen können. Gerne hätte ich zum Beispiel mehr darüber erfahren, wie die in der Arbeit zentralen Begriffe des Black Atlantic (Gilroy) und der Sonic Fiction (Eshun), die sich wesentlich aus der Kritik an Weißer Supremacy und kolonialer Aneignung speisen, in Korrespondenz mit europäischen Musikszenen verwendet werden können, die sich (meinem Eindruck nach) nicht immer bewusst mit ihrer Verflochtenheit mit Rassismen und kolonialen Machtstrukturen auseinandersetzen. Auch die Frage nach den Geschlechterverhältnissen in Verschränkung mit dem politischen Potential der ästhetischen Formen Gabber/Breakcore hätte mich - die sich lang und mit im Nachhinein eher unbefriedigenden Ergebnissen an einem ähnlich problematischen, männlich* dominierten und über ästhetische ‚Transgression‘ definierten Feld, dem Exploitationfilm, die akademischen Zähne ausgebissen hat - sehr interessiert.
Zum Ende aber die unbedingte Leseempfehlung: Utopie und Apokalypse ist eine extrem erhellende, methodologisch innovative Studie über musikalische Subszenen, denen bislang kaum akademische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Für Szene-Zaungäste wie mich besonders attraktiv: die Genretabellen und Playlist am Ende des Bandes, die nun endlich Licht in die Verwirrung gebracht hat, die sich vor 20 Jahren in mir als jugendliche Stadtwerkstatt-Besucherin von aufkeimenden Hardcore-Techno-Veranstaltungen ob der Verästelung der angebotenen DJ-Styles breitgemacht und festgesetzt hat. Und das ist von Bedeutung.
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Bianca Ludewig: Utopie und Apokalypse in der Popmusik. Gabber und Breakcore in Berlin. Wien: Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie 2018