Der Dozent hatte Groll zu einer Ausfahrt eingeladen. Das war eine seltene Geste des Privatsoziologen, denn er besaß kein Auto und war auf [das] Grolls angewiesen. Groll wollte Näheres über das Ziel des Ausflugs wissen, der Dozent hatte aber nur geheimnisvoll gelächelt. Groll werde den Ausflug nicht bereuen, sagte er auf der Anreise, als sie zwischen Judenau und Böheimkirchen in Grolls klapprigem Renault 5 dahinzuckelten. Kurz vor St. Christophen ließ der Dozent mit der Aussage aufhorchen, er werde Groll einen tiefen Blick in das österreichische Herz tun lassen. Er bitte um andere Metaphern, hatte Groll erwidert, medizinische seien von Übel. Es wäre ihm lieber, würde der Dozent seine Sinnbilder aus der Militärwissenschaft oder, besser noch, aus der Binnenschiffahrt beziehen. Ärgerlich antwortete der Dozent in bestem Soziologendeutsch, Groll werde sich in Kürze mit dem ästhetischen und historischen Fundament – sozusagen der prozessierenden Substanz – des Landes konfrontiert sehen. Da sei er neugierig, antwortete Groll, dem bedeutenden Lyriker und Dramatiker Heinz R. Unger zufolge sei das Fundament ja die Grundlage jeglicher Basis. Als der Dozent protestieren wollte, unterbrach Groll, das sei kein Unsinn, sondern große Dichtung. Der Autor lege diese Worte in einem seiner Stücke einem Kommunalpolitiker in den Mund. Und tatsächlich sei dieser Mann mit diesem Satz schon bei seinem ersten Auftritt hinlänglich charakterisiert. Der Dozent wiegte nachdenklich den Kopf.
Wenig später waren die beiden in der Zweitausendseelengemeinde Kirchstetten an der Westautobahn auf den Dorfstraßen unterwegs. Groll hatte seinen Wagen am Josef-Weinheber-Platz abgestellt, in dessen Nähe sich auch das Gemeindeamt befand. Als Groll der einmündenden Josef-Weinheber-Gasse und eines Hinweisschilds »Josef-Weinheber-Museum« und »Josef- Weinheber-Gedenkstätte« gewahr wurde, ahnte er Schlimmes.
Daß dem Lyriker Weinheber in Kirchstetten in einer recht umfassenden Art und Weise gedacht wird, spreche für die Wertschätzung, die die Kirchstettner ihrem großen Sohn seit Jahrzehnten entgegenbrächten und zähle sohin zur österreichischen Realverfassung, sagte der Dozent, der sich ein wenig umgesehen hatte. Daß sich aber nirgendwo ein Hinweis auf die Hitler-Verehrung und die mannigfachen Liebedienereien des Dichterfürsten für die NS-Mörderbande finde[1], reihe die Marktgemeinde Kirchstetten ans zivilisatorische Ende der heimischen Provinz. Da seien andere Gemeinden im Umgang mit ihren braunen Söhnen und Töchtern schon weiter.
Immerhin werde die Ortschaft von der meistbefahrenen Autobahn Mitteleuropas auf das vortrefflichste in zwei Teile zerschnitten, sagte Groll ein paar hundert Meter weiter, als die sie den sechsspurigen Highway auf einer Brücke überquerten. Daß auch die Brücke den Namen des Dichterfürsten führte, überraschte nicht. Der Ortsteil auf der anderen Seite der Autobahn trug den Namen Hinterholz. Der Kabarettist und Philanthrop Roland Düringer habe der Gegend mit dem Film »Hinterholz 8« ein Denkmal gesetzt, sagte Groll. Ihm sage der Film nichts, hatte der Dozent gemeint, es werde sich wohl schwerlich um eine herausragende Kulturleistung gehandelt haben. Groll gratulierte Groll seinem Freund zu dessen Schulzeit im Theresianum und dem dort erworbenen elitären Kulturbegriff. Für ihn, den Vorstandbewohner in prekären Verhältnissen, gelte indes: besser ein halblustiger Düringer-Film denn Hitler-Lob in der Staatsoper, in welcher Weinheber zu seinem fünfzigsten Geburtstag im Jahr 1941 aus der Hand von Propagandaminister Joseph Goebbels den Grillparzer-Preis entgegennahm und als »berühmtester Lyriker Deutschlands« gefeiert wurde. Der legendäre Mime Raoul Aslan ließ es sich nicht nehmen, zu diesem Anlaß eine Ode vorzutragen, in welcher Weinheber die deutsche Sprache verherrlichte, indem er die deutschen Urbegriffe Schicksal, Gesetz, Auftrag, unbedingte Hingabe, Beichtstuhl der Welt, Selbstaufopferung und Vorsehung durch die Mangel seines Talents drehte.
»Auch der größte Schauspieler der damaligen Zeit, der mit seinen dämonischen und antisemitischen Juden-Darstellungen wie im berüchtigten Veit-Harlan-Film ‚Jud Süß‘ aus dem Jahr 1940 von sich reden machte, Werner Krauss, war ein beliebter Weinheber-Rezitator«, sagte der Dozent.
Groll bremste den Rollstuhl ein. Der Dozent blieb stehen und fuhr fort:
»Wußten Sie, daß der junge Schauspieler Oskar Bschließmayer den Schauspieler Krauss so sehr verehrte, daß er dessen Vornamen als Nachnamen annahm und daß dieser Oskar Werner gemeinsam mit Paula Wessely, Attila Hörbiger und Richard Eybner ebenfalls zu den prominentesten Weinheber-Rezitatoren zählte – mit Ausnahme des jungen Oskar Werner allesamt begeisterte Parteigänger der Nazi?«
Groll schüttelte den Kopf. Er wisse aber, daß Weinheber nach harten Jahren in einem Mödlinger Waisenhaus die damals fortschrittlichste Bildungsstätte für Angehörige der niederen Stände besucht hatte – das Ottakringer Volksheim, die heutige Volkshochschule Ottakring am Ludo-Hartmann- Platz. »Die besten sozialistischen Dozenten und Pädagogen, Schriftsteller und Künstler von Karl Kraus, Fritz Hochwälder und Alfons Petzold abwärts gastierten dort. Die Sprachbehandlung von Karl Kraus, dessen Vorlesungen Weinheber besuchte, übte auf den jungen Lyriker großen Einfluß aus.«
Woher Groll das wisse, fragte der Dozent erstaunt. Er habe sich vor langer Zeit eines biografischen Zufalls wegen mit Weinheber und den Folgen beschäftigt, erwiderte Groll. In wenigen Augenblicken werde er den Dozenten in die Zusammenhänge einweihen.
Sie bewegten sich den Hinterholz-Hügel bergauf, als es zu steil wurde, half der Dozent seinem Freund und leistete Schubhilfe. Unterhalb eines kleinen Wäldchens fand sich ein grüngestrichenes Haus. Am Lattenzaun war eine Tafel befestigt, die das Antlitz eines älteren Mannes mit wettergegerbten Zügen zeigte.
»Dies ist mein Dichterfürst von Kirchstetten, und außerhalb Österreichs teilt man meine Meinung«, sagte Groll. »Wystan Hugh Auden, einer der größten angelsächsischen Lyriker, verbrachte von 1957 bis zu seinem Tod 1973 in Kirchstetten seine Sommer, oft besucht von seinem Freund und Schriftstellerkollegen Christopher Isherwood. Auden machte in London und im Oxford der zwanziger Jahre als Linker von sich reden, ging dann auf seiten der Republikaner in den Spanischen Bürgerkrieg und galt jahrelang als Anwärter für den Literaturnobelpreis. Nicht zuletzt sein großes Poem »Das Zeitalter der Angst« (The age of anxiety), das psychoanalytische Züge trägt und als erstes großes literarisches Werk sich mit dem Holocaust beschäftigt, führte ihn in den Parnass der englischsprachigen Lyrik, zu William Butler Yeats, Percy Bisshe Shelley, Walt Whitman und Dylan Thomas.«
Er frage sich, wie der große Engländer mit den Weinheber-Jüngern zurechtgekommen sei, meinte der Dozent. »Die Sprachbarriere erwies sich als hilfreich«, erwiderte Groll. Auden lebte nicht zurückgezogen, gern fuhr er mit seinem VW-Käfer in den Ort. Immer wieder tauchte er in einem der drei Wirtshäuser von Kirchstetten auf, trank große Mengen Wein – diese Vorliebe teilte er mit Weinheber – und aß Schinkenbrote. Wenn er den Eindruck hatte, an einen braunen Zeitgenossen geraten zu sein, vermochte er die Sprache seines Gegenübers partout nicht zu verstehen. Da er erst Mitte der fünfziger Jahre nach Kirchstetten kam, blieb ihm die Bekanntschaft mit Weinheber erspart, welcher sich zu Kriegsende, als die Rote Armee im Anmarsch war, eine tödliche Portion Morphium verpasst hatte.«
»Und die biografische Zufälligkeit?« wollte der Dozent wissen.
Groll lächelte. »Hier ist sie. Der Mann meiner ehemaligen Deutsch-Professorin wuchs in Kirchstetten auf, die Welt der Bücher und des alternden Dichters faszinierte ihn. Noch heute sind die beiden Kurzmanns profunde Kenner und Liebhaber von Audens Literatur. Daß das Land Niederösterreich das heruntergekommene Haus behutsam zu einer würdevollen Erinnerungsstätte ausgebaut hat, zählt zu den erfreulichsten Entwicklungen in der Marktgemeinde.«
Der Dozent und Groll kehrten um und gingen zurück Richtung Ortszentrum, als Groll plötzlich anhielt.
»Kirchstetten ist an Gedenkstätten nicht arm. Dennoch fehlt eine besonders wichtige.«
»Ich höre.«
»Bis in die dreißiger Jahre lebte in Kirchstetten eine Gruppe von Lovara-Roma. Unter ihnen befanden sich, wie in dieser Volksgruppe üblich, viele Pferdehändler. Schon im sogenannten Ständestaat wurden die Lovara von den Austrofaschisten penibel erfaßt und registriert. Die Nazi bedankten sich für die Vorarbeit und verschleppten die Kirchstettner Lovara ins burgenländische Lager Lackenbach und in die Konzentrationslager. Nur sehr wenige überlebten den von Weinheber besungenen NS-Staat. Seit Jahren versucht nun eine in Wien lebende Angehörige von Überlebenden, die Künstlerin, Filmemacherin und Aktivistin Marika Schmiedt, das Andenken an ihre Vorfahren öffentlich zu machen. In Linz wurde sie dabei auf skandalöse Weise von einer ungarischen Orbán-Parteigängerin behindert und vernadert, die Polizei entfernte die legalerweise an einem Baustellenzaun in der Altstadt affichierten Arbeiten, wobei sie einige auch zerstörte. Nunmehr wollte die Künstlerin im Herbst 2015 in Kirchstetten eine für sieben Tage anberaumte Gedenkausstellung, bestehend aus einem Dreieckständer und einigen bedruckten Planen, im Ortskern zeigen. In ihrem Schreiben an den Bürgermeister führt sie unter anderem aus« – Groll kramte einige Blätter aus dem Rollstuhlnetz hervor – »ich zitiere: ‚Die in Kirchstetten wohnhaften Roma und Sinti wurden im August 1943 nach Auschwitz deportiert. Im Akt ersichtlich ist auch die enge Zusammenarbeit zwischen der Lokalbehörde in Kirchstetten, der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, den Gemeinden Neulengbach und … dem Polizeiapparat. Die Unterlagen dokumentieren überdies, daß die Dienststellen in Kirchstetten über den Verbleib der Kirchstettner Lovara Bescheid wußten. Dafür sprechen die in den 1940er Jahren hinzugefügten Ergänzungen wie Randbemerkungen zum Transport ins Konzentrationslager, Korrespondenzen mit der KZ-Kommandantur Buchenwald, Einträge zu Verwandtschaftsverhältnissen oder Vermerke zum Tod im Lager. Die Aufarbeitung der besonderen Rolle, die Kirch-stetten bei der Umsetzung des Nationalsozialismus spielte, und die maßgebliche Beteiligung am Roma-Holocaust werden in der offiziellen Selbstdarstellung der ‚Dichtergemeinde‘ mit keinem Wort erwähnt.‘«
»Bravo! Ein guter Brief«, rief der Dozent. »Wie hat der Bürgermeister reagiert?«
Groll reichte seinem Freund die Blätter, der las mit vor Erregung zitternder Stimme:
»‚Sehr geehrte Frau Schmiedt! … Es wird leider nicht möglich sein, diese Kunstinstallation so zu verwirklichen. … Ich habe meine Gedanken und Bedenken im beigefügten Brief an Sie zu Papier gebracht und bitte Sie, diese zur Kenntnis zu nehmen. … Mit freundlichen Grüßen aus dem schönen Kirchstetten, Bürgermeister Horsak.‘ Der Dozent überflog den Text und hielt dann inne. »Hier! In dem Brief wird der Bürgermeister deutlicher, die Anrede fällt nicht mehr höflich aus: ‚Werte Frau Schmiedt! Ich darf dieser schönen, lebenswerten Marktgemeinde seit 2010 als Bürgermeister vorstehen, möchte mich aber strikt gegen die Titulierung »dunkles Kapitel der Ortsgeschichte«, oder »die besondere Rolle, die Kirchstetten bei der Umsetzung des Nationalsozialismus sowie der maßgeblichen Beteiligung am Holocaust der Roma spielte«, verwahren.
Fast jede Stadt, Gemeinde oder Ortschaft in fast ganz Europa war Ort solcher Gräueltaten und es waren viel zu viele daran beteiligt. Aber jetzt unser Kirchstetten als besonderes Beispiel herauszupicken und quasi nach 70 Jahren neuerlich an den Pranger zu stellen, dagegen verwehre ich mich als Gemeindeoberhaupt vehement. (Was für ein verheerendes Deutsch, rief der Dozent, oben schreibt er es richtig, hier schreibt er es falsch, offensichtlich kennt er den Unterschied von verwehren und verwahren nicht. Man kann einen Zutritt verwehren aber gegen einen Vorwurf kann man sich nur verwahren. Aber es kommt noch schlimmer!) Wir sind eine Dichtergemeinde und sind stolz darauf, Heimat für Kultur in all ihren Facetten und in ihrem breiten Spektrum zu sein. Josef Weinheber, als weltweit anerkannter Lyriker und Poet, gehört da genauso dazu wie W. H. Auden, der Maler Karl Mayerhofer, unser Kirchenchor, die Trachtenmusikkapelle, unsere Mundartdichterin Rosa Dorn[2] u.v.m. Ich werde Ihr Schreiben mit dem Titel ‚Futschikato – die verschwundenen Roma und Sinti aus Kirchstetten und der Fall Weinheber‘ selbstverständlich dem gesamten Gemeinderat zur Kenntnis bringen und auch an die Bezirkshauptmannschaft weiterleiten und verbleibe mit freundlichen Grüßen aus unserem schönen Kirchstetten.‘«
Der Brief könnte aus dem Skript zu einem Düringer-Film stammen, feixte Groll.
Der Dozent setzte fort: »Auf ein Antwortschreiben der Künstlerin findet der Bürgermeister folgende Worte: ‚…Es sind nun aber doch schon 70 Jahre seit diesen grauenvollen Jahren vergangen und in Kirchstetten besteht die hier lebende Bevölkerung zu mehr als 95% aus Folgegenerationen. Man soll zwar nie vergessen und schon gar nicht völlig verdrängen, aber die heutigen Generationen sind sehr wohl der Ansicht, daß die Vergangenheit ruhen soll, da sie ja auch keinerlei Schuld an diesen unwürdigen Geschehnissen haben. Allgemeiner Tenor: Erinnerung ja, aber es muß auch einmal Schluß sein mit Aufarbeitung und Auseinandersetzung. Bürgermeister Paul Horsak.‘«
»Ich verstehe nun, wieso Josef Weinheber, dem die Verkörperung des ‚gemütlichen Österreichers‘ nachgesagt wurde – sozusagen als Vorläufer des ‚Herrn Karl‘ – sich in diesem schönen Kirchstetten so wohl fühlte«, sagte Groll und beschleunigte den Rollstuhl. Am Gemeindeamt stoppte er und erklärte, vor dem Eingang ein Plakat anbringen zu wollen. »Es sollte zehn Meter lang sein und die erste Strophe von Wystan Hugh Audens ‚Funeral Blues‘ enthalten:
‚Stop all the clocks, cut off the telephone,
Prevent the dog from barking with a juicy bone,
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin, let the mourners come.‘«
Als sie im Wagen aus der Gemeinde rollten, schlug Groll den Besuch eines Cafés in Tulln vor. Zum Espresso würden dort vorzügliche Schinkenbrote serviert. Der Dozent hatte keinen Einwand.