»Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.« Karl Marx
Dem Ausland ist dieser Rechtsruck aufgefallen – damals schon beim präsidentiellen Kornblumenkandidaten und dessen schamloser NSDAP-Symbolik. Nur die heimische Öffentlichkeit geniert sich kein bisschen. Stattdessen, so scheint es, sehnt sie sich nach einer anachronistischen Volksgemeinschaft, nach mehr Deutsch und weniger Multikulti. Nichts ist ihr peinlich, auch kein Extremismus der Mitte, der genau darin Gestalt annimmt: in Härte, Hass und Hetze. Statusängste lassen ihr Denken in Kategorien von Blut und Boden, ein Denken nach Abstammungseinheit und Landeszugehörigkeit, neuerlich normal erscheinen. Woher man kommt, bestimmt plötzlich, wohin man gehen darf, insbesondere für Flüchtlinge. Überhaupt wird Freiheit kaum noch menschlich, sondern vorab rechtlich verstanden, außer im Fall der verfassungsmäßig verankerten Menschenrechtskonvention, denn da wiederum neigt die rechte Wählerschaft zur Rechtsenthebung, kurz, zu Gesetzlosigkeit und Willkür.
Die österreichischen Zustände befinden sich unter jeglichem Niveau und insoweit im Trend der Zeit. Der derbe, strenge, raue Ton der Tagespolitik dreht ständig seine Runde, aber in einer selbstinszenierten Erregtheit, die andere allemal erschrecken mag. Europa selbst, längst Festung nach innen wie nach außen, rückt nach rechts. Die Verinnerlichung übergeordneter Mächte im Leben ist hier weitgehend abgeschlossen, im zivilgesellschaftlichen Aktivismus nicht minder als in der rechten Scheinmobilisierung gegen das Establishment. Die ganze weiße Welt, von Australien bis Angloamerika, tickt soziopolitisch rechts. Daran lässt sich schwerlich rütteln. Das heißt, dass die weitgehend machtlosen Massen kein Problem mehr haben mit Fremdenfeindlichkeit und Führerfantasien, mit Marktvorgaben und Machtkonzentration, mit systemkonformen Mythen und Autoritäten. Im Gegenteil, die meisten meinen weiterhin, globale Einbahnen doch noch zu nationalen Pfaden ausstampfen zu können, und geben daher auf jede soziale Frage eine ethnische Antwort. Dass die Massenmedien dabei als Meinungsmacher und Mitschuldige auftreten, steht im Raum wie ein Mief, den man überall riechen, aber nicht sehen kann.
Auch in der Alpenrepublik also wünscht man sich überschaubare Verhältnisse und sozusagen einen Triumph des Willens, starke Männer und schnelle Lösungen – konsumtiv, nein, kindisch gedacht: Kapitalismus ohne Kehrseiten und Konsequenzen. Der Verdruss mit dem Politikgeschäft, sprich, mit seiner bürokratischen Undurchsichtigkeit, Unbeweglichkeit und systemischen Flickschusterei, ist immens. Die Politik, durch ihre Kollaboration zwischen Staat und Kapital, Regierung und Banken, hält ja notorisch nicht, was sie verspricht. Ihre uneingelösten Versprechen sind, zumindest in ihren Augen, allenfalls Kavaliersdelikte. Darum schielen die Menschen mit ihren Hoffnungen, übrigens wie bei allen falschen Übertragungen, auf Ausweichmöglichkeiten ohne viel Aufwand, auf flotte Flucht vor der Wirklichkeit und auf erstmals schmerzlose Ersatzobjekte. Politisch setzen sie auf institutionell geduldete Ideen und herrschaftstechnisch genehme Illusionen, auf Sonnyboys der Oberschicht und reiche Pseudorebellen, die allerlei Veränderungen ankündigen, um dann, wie gehabt, den Sesseltausch der Macht zu vollziehen. Diese schizoide Massenhaltung innerhalb der Formaldemokratie, dass Schafe sich ihre Leitwölfe selber wählen und ungeduldig auf das politische Diner warten, bei dem sie ökonomisch verspeist werden, tut fast schon weh, vor allem denen, die ungern in der Herde leben.
Die kommende rechte Regierung hat in Oberösterreich, wo sie ein Pilotprojekt ihrer Zusammenarbeit betreibt, seit geraumer Zeit begonnen, den Kahlschlag von Sozialleistungen und Kulturförderungen in die Tat umzusetzen. Exempel werden statuiert und vollendete Tatsachen geschaffen. Daran wird, bei aller Sympathie, auch die neu eröffnete »Schule des Ungehorsams« in der Linzer Tabakfabrik nichts ändern. Die Rechten und ihre burschenschaftliche Akademikermischpoche kehren Schritt für Schritt, aber in zeitgerechter Camouflage zu ihren weltanschaulichen Wurzeln zurück. Mit anderen Worten, der ideologische Angriff auf die Arbeiterkammer seitens der frischen Personalunion FPÖVP passt perfekt ins Schema: Gewerkschaften und Arbeitsrechte müssten weg, so oder so, und die Staatsgrenzen wären für Schutzsuchende auf der Flucht restlos zu schließen. Die Mehrheit ist damit einverstanden. Der zivilisatorische Rückfall dieser Wahlhaltung wird allerdings nicht als solcher wahrgenommen. Zum Teil hängt es mit einer verbreiteten ökonomischen und geopolitischen Ignoranz zusammen. Fragen über Fragen: Wie können die Massen der Lohnabhängigen nur eine Fremdidentität bezüglich ihrer eigenen Interessen annehmen? Hat die mediale Eliminierung gesellschaftlicher Alternativen sie in den Fatalismus eines pyramidalen Lebenskonzepts getrieben? Erleben sie die Sachzwänge der Profitmacherei und des Erwerbszwangs letztendlich als eine Art Naturgesetz? Glauben sie wirklich, es gäbe keine Monopolisierung, keine Kriegswirtschaft, keinen Imperialismus mehr? Wissen sie denn nicht, dass den Flüchtlingswellen eine Zerstörung ihrer Regionen, Städte, Schulen und Häuser vorangegangen ist? Leistungsdenken und Wirtschaftsegoismus haben konsequent den Blick zu einem Korridor verengt, an dessen Ende die allgemeine Entsolidarisierung wartet.
Auch der klassische, linke Hinweis auf ein »falsches Bewusstsein« bleibt in dieser Hinsicht mehr Beschreibung als Erklärung, leider. Handelt es sich vielleicht um einen kulturellen Futterneid? Wo wäre, massenpsychologisch gesprochen, der eigentliche Deprivationsmoment?! Nicht einmal, wenn man alles zusammenzählte – sagen wir: den Analphabetismus fast einer Million Einwohner nebst rasanter Technologisierung, die imperiale Vergan-genheit des kaiserlichen Österreichs und eines knapp zwölfjährigen Tausendjährigen Reichs mit Drang nach Osten, den germanischen Katholi-zismus samt unerbittlicher Gegenreformation, den provinziellen Nationa-lismus der Berge und Täler sowie die neoliberale Sozialpartnerschaft und Bankokratie europaweit –, nicht einmal dann könnte man mühelos erklären, warum man hierzulande, in einem kleinen Land großer Komplexe, seine Identität offenbar rechts sucht, wo die Mitte wohnt. Diejenigen, die nun um ihre materiellen Privilegien fürchten, deuten diesen möglichen Verlust als eine unverdiente Entrechtung, als eine Art Strafe und Anlass, die eine oder andere rechte Partei zu wählen, zwecks autoritärem Arrangement. Selbstverständlich ist ihnen in so einem Fall egal, dass die Volkspartei eine austrofaschistische und die sogenannten Freiheitlichen eine nationalsozialistische Vergangenheit haben. Sie wissen es zweifellos, und insgeheim ist ihnen jede Ähnlichkeit und auch jedes Mittel recht. Ihr Nationalstolz macht sie wörtlich zu nützlichen Idioten für ihre nationale Bourgeoisie. Was sie hingegen definitiv nicht wissen, ist, wie Ernest Gellner betont hat, dass es der Nationalismus selbst sei, »der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt«, oder, wie Eric Hobsbawm das Ganze benennt, dass es dabei um »erfundene Traditionen« geht, so authentisch wie das Lederhosenfest im Wiener Prater, nützlich allein zum Bierverkauf in Strömen und nebenher zur Regermanisierung des Volksbewusstseins.
Zuwanderung und Mindestsicherung sind, wie gesagt, im Fokus des Wahlkampfes der beiden siegreichen, rechten Lager gestanden und haben diesen in ungeahnte Höhen geistiger Niedrigkeit gepeitscht. Nach allen Regeln der Marketingkunst und dabei im Übermaß hat man den Fremden und den Armen zunächst »Sozialmissbrauch« unterstellt. Diese würden sich, so der blau-türkise Grundtenor, an der Allgemeinheit bereichern – bei unglaublichen 0,7 % des für sie aufgewendeten, gesamtstaatlichen Sozialbudgets. Wunderlicher Weise hat diese Unverhältnismäßigkeit im Urteil für einen Wahlsieg dennoch gereicht und die Info sich im Wahlkampf irgendwie verdünnt und verlaufen. Großbetriebe wie KTM, Zara, BASF, Amazon, OMV, Starbucks, IKEA, Telekom Austria und Konsorten werden jedenfalls von den Wahlberechtigten nicht desselben Vergehens beschuldigt. Die ebenso dreiste wie legale Steuervermeidung und, mehr noch, die parallele Steuerflucht in Millionenhöhe regt niemanden im Land so sehr auf, dass daraus eine gesellschaftliche Debatte entstehen könnte über die penible Praxis eines – Pardon! – Klassenkampfs von oben. Bereits der Begriff, ursprünglich aus der Linken und jetzt etwas verwaist, löst Denkblockaden aus und bezeugt dadurch, wie beeinflusst man allerorts vom Mantra des Marktes sein muss. Zu tief sitzt der Antikommunismus, laut Thomas Mann »Grundtorheit des 20. Jahrhunderts«, der jahrzehntelang unausgesetzt Erziehungs- und Überzeugungsarbeit geleistet hat, bis heute, und morgen wahrscheinlich immer noch. Demzufolge seien die Reichen an der Macht prinzipiell gut und die Armen auch ohne Macht schlecht, unter Umständen gefährlich und darum ohnehin verdächtig. Und aus ebendiesem Grund, denn nichts davon ist Zufall, hat sich der antifaschistische Konsens nach und nach verflüchtigt. Ergo die rechte Schwerpunksetzung: Nation vor Menschheit, Elite vor Masse, Eigentum vor Person, Recht vor Gerechtigkeit, Unrecht im Gesetz, Kraft vor Klugheit, Macht über alles.
Abseits seiner demokratischen Lippenbekenntnisse hat der Staatsapparat lange genug einen solchen Geist genährt, erprobt und in die Wege geleitet. Allein, aus seinem Funktionsprinzip ist ein Ungeist erwachsen, einer wie folgt: Wer sich beugt und anpasst, wird verschont, doch wer sich beschwert oder gar wehrt, wird untergehen. So funktioniert jede hierarchische Gesellschaft, auch eine demokratische mit linker Wählerschaft etwa. Insoweit haftet der rechten Gesinnung eine gewisse Stimmigkeit an, das Bestehende in all seiner Falschheit zu bejahen, indem man es bis zum bitteren Ende verfolgt, am besten in menschenfeindlicher Reinform. Was bleibt, sind kalte Staatsräson und hitziger Nationalmythos, abgegriffener Personenkult und mehrheitstaugliche Heuchelei, kurz, lauter leere Hinweise auf irgendwelche Werte, die auch noch christlich sein sollen und demokratisch obendrein. Derweil tummeln sich die Mittelmeerleichen an der europäischen Peripherie und die Arbeits- und Mittellosen vor den Arbeitsämtern und schäbigen Notquartieren. Unter vielen Wählerinnen und Wählern hat sich anscheinend noch nicht herumgesprochen, dass es auf dem Planeten Erde eine gemeinsame Spezies namens Mensch gibt, die alle Ecken und Enden der Welt bewohnt und seinerseits leben will, meistens ohne Genehmigung.