Als ich 2013 zu studieren begann, hatte ich bereits eine Vorahnung, dass die Ausbildung in diesem Institut mit meiner sozialen und politischen Position stark verbunden sein wird. Mich motivierte die Tatsache, dass ich bald in der Lage sein würde aus dem Fach heraus eine »legitime« Kritik zu formulieren und eine neue Perspektive auf das Erforschen von Roma durch anthropologische Methoden zu entwickeln. Dies wollte ich tun, indem ich problematische Herangehensweisen oder rassistische Annahmen sichtbar mache. Doch gerade das, was ich als meine Vorteile betrachtete, meine Sozialisation und meine Positionierung, werden als Nachteile bewertet. Dies wird markiert durch die Aussagen wie, ich sei unwissenschaftlich. Letztlich erlangte ich dadurch Kenntnisse über die Erhöhung weißen Wissens, die Aufrechterhaltung von Macht und die Abwertung von »Anderem« Wissen.
»Sie haben alles aufgeschrieben, aber von nichts gewusst«
Der Titel »Sie haben alles aufgeschrieben, aber von nichts gewusst.« (Seybold 2005: 20) ist von Melanie Spitta (1946-2005), Filmemacherin, Bürgerrechtlerin und Publizistin. Sie realisierte Ende der 1980er Jahre mit der Regisseurin Katrin Seybold das Filmprojekt »Das falsche Wort. Wiedergutmachung an Zigeunern in Deutschland?«. Robert Ritter und Eva Justin untersuchten 1938 die Großfamilie von Melanie Spitta. Kurz danach floh die Familie aus Deutschland nach Belgien, dennoch überlebten nur wenige Auschwitz. Am Anfang von »DAS FALSCHE WORT« sagt Melanie Spitta: »Dafür habt ihr Deutschen Mut aufgebracht. Aber dafür einzustehen, wie diese Morde zustande gekommen sind und zugelassen wurden, fehlte den meisten von euch der Mut«. Durch ihre Recherchearbeit, Filmprojekte und Engagement, wurden Dokumente, Fotos und Videomaterial der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die im Verborgenen gehalten werden sollten1.
Nach der Sendung des Films im deutschen Fernsehen schrieb Hermann Arnold einen empörten Brief an den damaligen Intendanten des ZDF Dieter Stolte. Er war in der Nachkriegszeit ein Gefängnispsychiater und Medizinalrat im Gesundheitsamt Landau und Sachverständiger für »Zigeunerfragen« beim Bundesfamilienministerium2 (Seybold 2005: 8). In dem Brief beschuldigte er die Filmemacherinnen der Verleumdung. Am Ende des Films schloss Melanie Spitta folgendes Fazit über die Rasseforscher_innen und die Polizei: »Sie haben alles aufgeschrieben, aber von nichts gewusst« (Seybold 2005: 20). Die Konklusion verdeutlicht die Widersprüchlichkeit der Argumentation nichts über einen Völkermord gewusst zu haben, obwohl sie die wissenschaftlichen Grundlagen geschaffen hatten.
Reaktionen
Ende der 1950er Jahre hatten einige Sinti mit Prof. Siegmund Wolf versucht Eva Justin vor Gericht zu bringen. Hermann Arnold wurde dazu als Sachverständiger vernommen und schrieb dies an den ehemaligen Kriminalinspektor bei der Reichszentrale für das Zigeunerunwesen, Josef Eichberger, damals bereits wieder Leiter der Bayerischen Landfahrerzentrale (Seybold 2005: 10-11):
»Gegen Fräulein Dr. Justin scheint man zu intrigieren. Ich bin der Meinung, daß das ein riesen Unsinn ist, denn man kann nicht aus den Verhältnissen von 1958 heraus Dinge erörtern, die im Jahre 1940 geschehen sind. Schließlich ist die Zeit auch ein versöhnender Faktor und wenn über eine dumme Sache endlich Gras gewachsen ist, sollte man nicht einem Esel erlauben, es wieder wegzufressen« (Seybold 2005: 11).
Für Hermann Arnold ist eine Kritik zu formulieren oder eine Intrige zu stellen gleichwertig. Notwendige Schritte für die Aufarbeitung der Verbrechen stempelt er als heimtückisch ab. Die Zeit versteht er als etwas, in der das Schweigen und Verdrängen ausgeübt wird und Vergangenheit nicht bewältigt werden kann. Das Vergasen und Verbrennen von Millionen von Menschen titulierte er als »dumme Sache«, über die endlich Gras gewachsen sei. In dem Zusammenhang ist zu fragen, ob das Gras als ein Symbol für den deutschen Wohlstand, das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit zu verstehen ist, das nicht wieder vernichtet werden soll.
Im politischen Strom der Zeit schwimmen
Bei dem BA-Abschlusskolloquium im Sommersemester 2017 erhielt ich das Feedback, ich sei unwissenschaftlich und moralisierend. Besonders problematisch war der Kommentar, dass der damalige Rasse-Konzept-Gedanke für die ehemalige Zeit üblich gewesen sein soll. Dieses Argument »das ist üblich für die Zeit« ist eine eurozentrische Sichtweise. Dadurch werden subalterne3 Positionen delegitimiert. Es macht die sozial-politischen Positionen unsichtbar, welche von Rassismus betroffen sind und diejenigen, die sich im Widerstand befanden.
Eben dieses Argument des gängigen Rasse-Konzept-Gedankens für die damalige Zeit benutzte Hermann Arnold, um die Rassenforscher_innen vor Gericht schuldfrei zu sprechen:
»Justin ist in den letzten Jahren wiederholt das Ziel publizistischer Angriffe gewesen, doch sind alle gerichtlichen und disziplinarischen Untersuchungsverfahren als ergebnislos eingestellt worden. Dies dürfte Beweis genug sein, daß Ritter und seine Mitarbeiter sich keiner Verbrechen schuldig gemacht haben. Sie sind im politischen Strom ihrer Zeit mitgeschwommen, mit oder gegen ihren Willen. Wer wollte heute darüber richten?« (Arnold 1965: 294).
Darüber hinaus rechtfertigte er die »Zigeunerforschung« damit, dass Robert Ritters »erbgeschichtliche Forschungsrichtung zu dieser Zeit ausgesprochen aktuell«4 war und propagiert in seinem Buch »Die Zigeuner5« die Lehren Robert Ritters. Anschließend bedankt er sich für die »wertvolle Informationen«, die der Nachlass von Robert Ritter lieferte, den er als »greisen Nestor der Romani-Philologie« bezeichnete (Arnold 1965: 196).
Reaktionen II
Seltsamerweise bin ich die Einzige im Klassenverband, bei der eine moralische Haltung kritisiert wurde. Als der Knochenfund von 2014 bei der Universitätsbibliothek6 angeführt wurde, sollte die Präsentation langsam beendet werden. In dem Essay von Sara Ahmed »Feminist Killjoys« (2010) beschrieb die Autorin, dass die Feministin, als diejenige betrachtet wird, die Probleme macht und den Frieden stört. Darüber zu sprechen wird damit gleichgesetzt ein Problem zu verursachen und nicht damit das Problem zu erklären (Ahmed 2010: 7-9). Die kritischen Interventionen innerhalb der Anthropologie in den USA seit den späten 1960er Jahren, welche eine Krise im Fach selber auslösten und danach zu einer Neuausrichtung führten sind ein gutes Beispiel für konstruktive Kritik. Im Bezug auf die Geschichte der »Zigeunerforschung« herrscht eine historische und politische Apathie vor. Daraus folgt, dass keinerlei Wissen zur (Verfolgungs-)Geschichte der Menschen existiert, deren Kultur und soziales Leben aber weiterhin im
Fach erforscht werden.