»gesine: wie haben sie die wahnsinnigen freß-szenen gedreht, waren die sehr teuer?
chytilova: ich sage ihnen was, sie fragen so ähnlich wie ein mensch, den es im staatsparlament gegeben hat.«1
Die Regisseurin Věra Chytilová (1929 – 2014) gilt als eine der prominentesten Vertreterinnen der Tschechoslowakischen Neuen Welle, einer Bewegung, die in der Nachkriegszeit die Filmlandschaft des Landes prägte und international für Furore sorgte. Bevor Chytilová ihr Filmstudium absolvierte, arbeitete sie als Klappe, Scriptgirl und Regieassistentin bei den Barrandov-Studios, der staatlichen Filmproduktion der Tschechoslowakei, bei der sie nach ihrem Diplom auch als Regisseurin angestellt war. 1957 wurde sie – trotz ausbleibender Empfehlung der Barrandov-Studios – an der staatlichen Filmschule FAMU in Prag angenommen. Zu der Zeit, als Chytilová dort studierte, war das kulturelle Klima des Landes einerseits geprägt von den Vorboten des Prager Frühlings, gleichzeitig herrschte jedoch rigorose Handhabe der staatlichen Behörden über die Filmproduktion. So mussten beispielsweise Drehbücher von oberster Hand genehmigt werden. Dies galt auch für das Buch von Chytilovás meistrezipiertem Film Sedmikrásky (der bezaubernde deutsche Synchrontitel lautet Tausendschönchen), der nicht nur für internationales Aufsehen, sondern auch für Unruhe bei den Hütern der Nation sorgte.
Nonkonformismus...
Die Erzählung des Films lässt sich eigentlich in einem Satz zusammenfassen: Weil die Welt verdorben ist, beschließen die adoleszenten Protagonistinnen Marie I (Jitka Cerhová) und Marie II (Ivana Karbanová) so zu sein wie die Welt. So weit, so ungezogen. Worin die Verkommenheit der Welt, mit der sich die Maries anlegen, besteht, wird nun über die Länge des Films unter phantasievoller Ausreizung der filmischen Mittel auf allen Ebenen dargelegt. Vorgestellt werden die beiden Maries als hölzerne Marionetten, mechanisch wirkende Bewegungen werden auf der Tonebene von einem Knarzen untermauert2 – es lässt darauf schließen, dass sich die Unheilstifterinnen noch in der Aufwärmphase befinden. Spätestens, als die Einsermarie die Zweiermarie wortwörtlich von der Anfangs- in die nächste Filmsequenz watscht, kommt Leben in das Geschehen. Es ist der Beginn einer Tour de Force und Farce, in der sich zwei junge Frauen alles nehmen, was ihnen zum Vergnügen gereicht: Essenseinladungen alter (verheirateter) Herren, die nicht mit den in Aussicht gestellten körperlichen Gegenleistungen quittiert werden, das Recht auf Langeweile bezüglich feuriger Liebesbekundungen eines jugendlichen Verehrers, das Ausleben einer ausgeprägten Zerstörungswut, die sich sowohl gegen leblose als auch lebendige Objekte – und vor allem gegen Essen – richtet. Die bild/sprachlichen Formen, in denen die Maries ihre Schneise der moralischen Verwüstung ziehen, sind reich. Sie nehmen Anklang am Slapstick des frühen Kinos, setzen schillernde Farbaufnahmen unvermittelt gegen poetische Schwarz/Weiß-Bilder, zersetzen geordnete Sprache dadaistisch in Nonsens. Das alles wird begleitet von störrischen Sounds und erfrischend nerviger Musik. Die finale Sequenz des Films besteht aus einer opulent inszenierten Essensorgie. Diese mündet in eine Essensschlacht, die gekrönt wird von einem Defilee, in dem die Maries auf Pfenningabsätzen die auf dem meterlangen Tisch drapierten Speisen zertrampeln. Skandal!
In den von Ko-Autorin und Ausstatterin Ester Krumbachová3 vor Phantasie überbordenden Räumen spielen sich Szenen ab, die einen ebenso poetischen wie humorigen Angriff auf das Patriarchat verüben – manchmal wenig subtil, beispielweise, wenn die Maries phallische Symbole wie Gurken und Würstchen der Schere opfern. Jedenfalls immer brachial in Form des Filmschnitts, der die losen Handlungen in ein virtuoses Staccato übersetzt, das eine klassische Rollenverteilung in aktive Cowboys/Ritter/Chefs und passive Eyecandies/Jungfrauen in Nöten/Untergebene nicht komplett umkehrt, aber ordentlich durcheinanderwirbelt. Die beiden Zerstörerinnen schauen weder nach vorn noch zurück, gegenwärtige Erscheinungen sind sie. In ihrer wunderbaren Unstetigkeit zwingen sie uns, immer wieder neu Position zu beziehen, sie anziehend und abstoßend zu finden, sich mit ihnen zu identifizieren (Notiz der Autorin: ja!) oder ihre Vorgangsweise abzulehnen (Notiz der Autorin: naja), ihnen jedoch keinesfalls gleichgültig gegenüber zu treten.
...und die Folgen
Dieses Flirren and Bedeutungen hat 1967, nachdem der Film veröffentlicht wurde, auch die tschechoslowakischen Behörden nervös gemacht.
So brachte der Abgeordnete Jaroslav Pružinec am 17. Mai 1967 in der Nationalversammlung eine von 21 Mitstreitern unterstützte Anfrage gegen die Finanzierung von Chytilovás Film ein. Der Haupttenor des An- und Vorwurfs lautete tatsächlich: Geldverschwendung in Form staatlicher Förderung, da Sedmikrásky ein Leben vorzeigen würde, das die »ehrlichen Arbeiter, Bauern und Intellektuellen« des tschechoslowakischen Staates unmöglich führen wollten.4 Die Maries als demoralisierende Rolemodels sind Pružinec und Co. ein Dorn im Auge. Dies ist insofern bemerkenswert, als das Drehbuch – wie bereits erwähnt – von den staatlichen Behörden genehmigt worden war. In einem Gespräch mit der Zeitschrift Frauen & Film aus dem Jahr 1978 antwortet Chytilová auf die Frage, ob es eine »spezifische Zensur« für Regisseurinnen in der Tschechoslowakei gäbe: »es gibt keine zensur in der tschechoslowakei: man erhält geld zum drehen nur, wenn das drehbuch angenommen worden ist.«5 Bestechende und krude Logik. Dass ein Film, der von den zuständigen Stellen bereits abgesegnet wurde, eine bis zu seinem Aufführungsverbot reichende Negativreaktion hervorruft, liegt – und das sagt Chytilová in Gesprächen6 immer wieder – offensichtlich im Umstand begründet, dass sich eine Handlung nie so niederschreiben lässt, wie sie sich im Prozess des Drehens entwickeln wird. Hier steht die Phantasielosigkeit der Filmbehördebeamten gegen das kreative Potential der Künstlerin.
Der Kulturminister, die Zuständigen für Kultur innerhalb der Nationalversammlung und die Volkskontrolle werden also von Pružinec aufgefordert, die Verantwortlichen – und das betrifft neben Regisseurin und Stab auch die Produktionsstätte Barrandov – zur Rechenschaft zu ziehen und die Ausstrahlung des Filmes zu verbieten – mit Erfolg. 1969 stellt Chytilová ihren Film Ovoce Stromu Rajskych Jime/The Fruit of Paradise – eine tschechoslowakisch-belgische Koproduktion – fertig, danach herrscht eine sechsjährige »Arbeitspause«; auch bereits approbierte Drehbücher können nicht realisiert werden. So wie die beiden Protagonistinnen von Sedmikrásky zum Schluss des Films aller Beteuerungen, wieder gut werden zu wollen, zum Trotz bestraft werden – ein Luster kracht auf sie herab –, erfährt Chytilová die sie vorerst zum Schweigen bringende Wucht der Zensur. Es wird ihr aufgrund der staatlich vorangetriebenen Diffamierung verunmöglicht, zu drehen und ausländische Festivals zu besuchen, auf denen ihre Filme gefeiert werden.
Sechs Jahre nach der Fertigstellung von Sedmikrásky empfiehlt eine staatliche Kommission den Barrandov-Studios, den Arbeitsvertrag Chytilovás aufzulösen – ihre Filme seien zu experimentell, zu pessimistisch und zu elitär.7 1975 platzt Chytilová, die für ihr wehrhaftes Wesen berühmt berüchtigt gewesen zu sein scheint, endgültig der Kragen: sie schreibt einen Brief an den damaligen Staatspräsidenten Gustáv Husák.8 In diesem Schreiben weist sie unter Aufzählung zahlreicher Fallbeispiele nachdrücklich auf die Diskriminierung ihrer Person hin und beteuert, dass Sedmikrásky von jeher als Kritik an der Verschwendungssucht und Rücksichtlosigkeit der Protagonistinnen zu lesen sei. Eine Interpretation, die die Maries als Verräterinnen der kommunistischen Ideale ausweist – und die von Apparatschiks wie Pružinec nie anerkannt werden konnte, zu bestechend ist die künstlerische Raserei, mit der Chytilová in alle möglichen Richtungen ausschert und sowohl den moralinsauren Obrigkeiten als auch den spießigen Ich-und-Dus den zersplitterten Spiegel vorhält. Oder der Pružinec war wirklich so ein Idiot zu glauben, dass die Streiche der Maries keine metaphorische Reichweite beinhalten.
Im Abspann des Films wird vor Found-Footage-Bildern, die Bombeneinschläge zeigen und unterlegt sind mit dem Sound von Gewehrschüssen, in den Lettern einer mechanischen Schreibmaschine eine Botschaft auf die Leinwand geklopft, sie lautet: »Dieser Film ist allen gewidmet, denen ein zertrampelter Salatkopf zur Quelle der Entrüstung gereicht.«9 Gut gebrüllt, Löwin Chytilová!
Der angesprochene Film Sedmikrásky findet sich zur Gänze unter: https://www.youtube.com/watch?v=qKyIXYwaLuc