»Das Paradox besteht darin, dass die Emanzipationsbewegungen gegen jede Form von symbolischer Herrschaft immerzu einer falschen Radikalität anheimfallen, die sie daran hindert, sich bei den Herrschenden jene Instrumente abzuholen, die für einen erfolgreichen Abschluss des Unterfangens der Befreiung unerlässlich wären.«
Pierre Bourdieu
Wenn im Folgenden versucht wird, zu ergründen, was das Dilemma der Identitätspolitik ist, warum es besteht und vor allem, wie es historisch zustande gekommen ist, wird zugrunde gelegt, dass es sich hierbei um ein Dilemma handelt, das auf die eine oder andere Weise in der politischen Linken in Erscheinung tritt. Es handelt sich hierbei nicht um eine politische Fraktion im engeren Sinne, die sich ein Programm gegeben hat und gegen andere Fraktionen steht. Dass die Identitätspolitik nicht mittels eines Manifests in die Welt getreten ist oder nur wenige sich explizit auf sie berufen, sollte nicht zu dem Fehlschluss bewegen, es gäbe sie eigentlich nicht. Oder zu dem skeptizistischen Allerweltsspruch ohne weiteren Erkenntnisgewinn, dass es die Identitätspolitik nicht gäbe, wohl aber Identitätspolitiken. Die Ideologiekritik wäre reichlich blind für ihren Gegenstand, wenn sie nur untersuchen würde, was sprachlich explizit ist. Deswegen hat sich in der kritischen Theorie ideologischer Formationen die Annahme durchgesetzt, dass man es mit einem Ensemble sprachlicher und nichtsprachlicher Äußerungen und Annahmen zu tun hat, die nicht unbedingt nach den Kriterien Kohärenz und Konsistenz verfasst sein müssen. Man sollte Ideologie nicht als schriftlich fixiertes System von Aussagen begreifen, sondern mithin als ein alltägliches Handeln oder unbewusste Bezugnahmen. Dieser Ansatz der Ideologiekritik dürfte auch für eine Annäherung an das Phänomen der Identitätspolitik tauglich sein, denn bevor man sich drängen lässt, vorab zu sagen, was man darunter verstehe – also einfach eine positivistische Definition zu formulieren, mit der man sich dann ein- oder eben uneinverstanden geben kann –, ist es weit vielversprechender, zu untersuchen, wie die vielfältig in Erscheinung tretende Identitätspolitik funktioniert, die sich zum Idealtypus der Politik einer akademisch geprägten Linken aufschwingt. Eine zugrundeliegende Annahme ist, dass sich der Status quo aus den Widersprüchen der Linken selbst entwickelt hat – wenn manche Annahmen der Identitätspolitik auch in missverständlicher Weise beispielsweise aus den USA in den deutschsprachigen Raum importiert wurden, ohne zu prüfen, inwieweit die gesellschaftliche Realität mit diesen Begriffen überhaupt angemessen begriffen werden kann. Wenn die Identitätspolitik sich aus den Widersprüchen der Linken entwickelt hat, bedeutet das aber auch, dass die Kritik der Identitätspolitik insoweit eine Selbstkritik darstellt, als die politische Linke idealerweise der Ort der interessierten Debatte und des intellektuellen Streits über die Analyse von Gesellschaft, ihre Kritik und die Beförderung der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation darstellt – was, seit den entscheidenden Einsichten über die Funktionsweise der modernen Gesellschaft von Marx, letztlich nicht weniger sein kann als die Emanzipation vom Kapitalverhältnis selbst.
Die heutige Identitätspolitik ist weitaus weniger theorieaffin als beispielsweise die Linke der sechziger und siebziger Jahre. Theoriearbeit war die Antwort auf die Veränderungen der Realität und die Verschiebungen des politischen Kräfteverhältnisses. Die große Theorieermüdung setzte dann ab Ende der siebziger Jahre ein und statt Dialektik war ein anderer Sound angesagt. Wenn die heutige Identitätspolitik vor allem ein Ensemble an Gesten ist, nicht an theoretischen Einsichten, hat das Vorläufer in den Widersprüchen der sogenannten Neuen Linken. Zum Repertoire der Gesten der Identitätspolitik gehören die kritische Intervention, das Sprechen als Repräsentant einer gesellschaftlichen Minderheit bzw. marginalisierten Gruppe, das sogenannte Markieren von Sprecherpositionen als Repräsentanten einer gesellschaftlichen Mehrheit bzw. Machtposition, das Sortieren der Sprecherpositionen nach privilegiert/marginalisiert sowie der weiteren Codes weiß/of colour, männlich/weiblich, heterosexuell/homosexuell, cis/trans/queer, außerdem der Modus des Sichtbarmachens von marginalisierten Positionen, was aber dann zu Problemen führen kann, wenn es mehr als eine solche Position gibt, weil dann nur die »marginalste« sichtbar sein soll, was wiederum zur Unsichtbarmachung anderer Positionen führen kann. Mit dem Paradigma der Sichtbarmachung geht eine bestimmte Sprachpolitik einher, deren Ideal die exakte Bezeichnung des Inexakten ist, der sich immer begrifflicher Bezeichnung entziehenden sinnlichen Mannigfaltigkeit, deren aufsehenerregende aktivistische Sprachmodellierung vor allem in verschiedenen Vorschlägen zum Gendern oder Entgendern von Sprache besteht (Binnen-I, Unterstrich, Sternchen, x-en, ecs-en). Verbunden ist das alles durch das Verwerfen des Universalismus und Betonung der Differenz. Im Einzelnen hat das oft den Charme von Verwaltungsvorgängen und so verwundert es kaum, dass der Erfolg der Identitätspolitik in den öffentlichen Verwaltungen, dem diversity management und der Einrichtung von mental wellbeing services liegt und die Anziehungskraft dieser Art von Politik kaum über den Kreis derer hinausgeht, die sich davon eine berufliche Perspektive versprechen. Mit dem Überhang des Gestischen geht auch die Betonung kommunikativer Performativität einher. Umverteilung ist nur noch vorstellbar im Rahmen der herrschenden Aufmerksamkeitsökonomie und ihrer immanenten Beschränkungen. Sowohl Theorie wie Praxis der Identitätspolitik kreisen um das Ideal der perfekten Kommunikationssituation, der von Diskriminierung und Macht befreiten Rede. Hier treten verschiedene Probleme auf: Setzt die konkrete Unterschiedlichkeit von Menschen immer ein Machtverhältnis voraus? Ist ein Machtverhältnis auch identisch mit einem Herrschaftsverhältnis? Ist das Ideal der Gleichheit dann nur unter Gleichartigen zu realisieren? Ist das nicht das Gegenteil des aufklärerischen Impetus, Gleichheit in der Unterschiedlichkeit herzustellen? Oder sollte der Reaktionäre Carl Schmitt doch Recht haben, wenn er schreibt: »Wer Menschheit sagt, will betrügen«? Aber wäre nicht ein Unterschied zwischen denen, die Gleichheit für realisiert und denen, die sie für realisierbar halten? Gibt es eine ideologische und eine unideologische Verwendung der Worte »gleich« und »ungleich«? Und wäre statt repräsentativer Gleichheit nicht die materielle dringlicher herzustellen? Zunächst gilt es festzuhalten, dass der zentrale Widerspruch, an dem sich das identitätspolitische Dilemma bildet, die Frage von Differenz und Gleichheit ist.
Zur Vorgeschichte der Identitätspolitik gehört die Geschichte der Neuen Linken. Damit verbunden ist auch die postmoderne Theoriebildung und was davon geblieben ist. Als zum Beispiel Roland Barthes den »Tod des Autors« verkündete, war das eine Übertreibung, um der idealistischen Vorstellung des Textproduzenten als eines Quasigottes, der seine subjektive Bedeutung in das tote Material einwebt, was anschließend von der Literaturkritik und dem Leser qua hermeneutischen Zirkel wieder zum Vorschein gebracht werden müsse, ein Ende zu bereiten. Der Tod des Autors war zunächst eine rhetorische Figur, auch um neue Leseerfahrungen zu ermöglichen. Das gilt auch für politische Texte; es geht ja nicht ausschließlich um Exegese, sondern auch um Gebrauch. Wenn man allerdings Barthes‘ Invektive gegen eine Form des verdinglichten Lesens und des idealistischen Literaturverständnisses selbst wieder verdinglicht, kommt man in das Dilemma, dass das Gegenteil des Unwahren ebenfalls unwahr wird – vor allem wenn das, was zunächst kritisiert wurde, historisch obsolet wird und verschwindet. (Was natürlich auch ein unschönes Licht auf die Methode solcher aufmerksamkeitsheischender Übertreibung im Bereich der Wissenschaft selbst wirft. Und nebenbei auch auf einige Hervorbringungen postmoderner Theoriebildung.) Den Tod des Autors verkünden heute zuallererst die Verleger und Autoren, deren pseudoartifizielle Produkte sich wie von Zufallsgeneratoren zusammengesetzt lesen. Dagegen sind Autorintention und Gestaltungswillen suspekt geworden. Mit den Texten der postmodernen Theorie verhält es sich ähnlich. Wo sie in ihren besten Momenten einst gegen verdinglichten Parteimarxismus, dem jede spontane Regung wie die revoltierenden Studenten und der wilde Generalstreik von 1968 in Frankreich per se suspekt war, wo sie gegen die große Erzählung des Liberalismus, die sich nicht einmal durch Faschismus, Nationalsozialismus und Auschwitz erschüttern ließ, wo sie gegen die allgemeine Proletarisierung als Voraussetzung von Befreiung spotteten oder die biederen Vorstellung von Befreiung selbst, bleiben sie unter veränderten Bedingungen nicht unmittelbar gleich wahr.
Zur theoretischen Reflexion und Revision nötigt zudem, dass der Kapitalismus (zumindest in den globalen Zentren) die Pseudomorphose zur postmodernen Utopie vollzogen hat. Charakterisiert ist dies durch die Abwesenheit einer ideologischen Erzählung, entleerte Bürgerlichkeit, hedonistische Zugeständnisse im Rahmen der durch Massenkredite ausgeweiteten Konsumgesellschaft, die Kulturalisierung des Sozialen, die Öffnung des Arbeitsmarktes bei gleichzeitigem Verlust der zentralen Funktion von Arbeit, ergo: allgemeine Verschlechterung der Bedingungen auf diesem selbst, und eine Ästhetisierung der Ich-AG-Existenzen.
Der Aufstand gegen die verwaltete Welt ist in den Verwaltungen angekommen. Und so hält sich die postmoderne Theorie als vulgarisierte scheinhaft am Leben. Aufgrund ihrer Vorliebe für Neologismen besteht sie vor allem in sehr distinktionsbasierten Sozialsystemen wacker, wie dem Kunst- und dem akademischen Betrieb, wo codifiziertes Bescheidwissen von zentraler Bedeutung ist – und so ist die Theorie zum Geschwätz herabgekommen. Für das, was einst wie der Parteimarxismus oder auch bürgerliche Ideologie der Postmoderne entgegengesetzt war, reicht es hingegen nicht einmal mehr zum Geschwätz. Der Marxismus fand sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion diskreditiert. Die bürgerliche Ideologie versucht schon nicht einmal mehr die bürgerliche Gesellschaft zu erklären, wie die neoliberalen Ökonomen auch freimütig zugeben, und hat sich völlig dem Irrationalismus überantwortet, rhetorisch bedient man sich dabei auch (aber nicht ausschließlich) postmodernen Versatzstücken. Der theoriemüde Teil der Neuen Linken nahm sowieso nur einen Teil der postmodernen Theorie überhaupt zur Kenntnis, verstand das wenig Verstandene als Absage an Theorie überhaupt und war eher der Politik der ersten Person zugeneigt. Die neue Entdeckung der Subjektivität und der Differenz folgte der unausgesprochenen Fokussierung des Parteimarxismus auf das zumeist männliche Industrieproletariat unter dem Banner der Gleichheit. Während die Politik der ersten Person im Kontext einer umfassend politisierten Gesellschaft zunächst eine Erweiterung dessen bedeutete, was politisch verändert werden sollte, zeigte sich alsbald eine romantische Wende. Der Ausspruch »Das Private ist politisch« war zweischneidig, er war radikal, als gesellschaftliche Veränderung im Horizont des Möglichen war, sobald dieser verschwand, wurde die erste Person zum Rückzugspunkt aller gesellschaftsverändernden Impulse. Und so verwundert es wenig, dass als Schrumpfform der Politik der ersten Person verschiedene Selbsttechniken von Yoga bis Gesprächskreis, von fairen Konsum bis Selbsterfahrungstrips übrig geblieben sind, die wiederum mit der Veränderung der Arbeitswelt der Mittelklasse wunderbar korrespondieren. Statt Gesellschaftsveränderung blieb Selbstveränderung, statt Politik Moral und statt Bestärkung im widerständigen Handeln gegenseitige Versicherung des vermeintlich hilflosen Opferstatus. Die heutige Identitätspolitik ist die neueste Erscheinungsform dieser Privatisierung und Moralisierung von Politik – sie verbindet eine zur moralischen Empörung herabgesunkene Habitusanalyse mit der zur selbstgerecht distinktiven Haltung verkommenen Politik der ersten Person und ausgeprägtem Opferauftritt.
Zum identitätspolitischen Dilemma gehören die Zerfallsprodukte der postmodernen Theorie und der Politik der ersten Person. Aus beiden ergibt sich die Abneigung gegen begriffliche Arbeit, ein Hang zum gestischen Aktivismus, jedoch alles romantisch gewendet – mit klagendem Ton, mit dem passiv-aggressivem Gestus des Beleidigt- und Zurückgesetztseins, mit einer stark vorgetragenen Besetzung des eigenen Selbst und dessen Grenzen, einer Unempfänglichkeit für Ambivalenzen und dem Spiel damit und einer deutlichen Fokussierung auf Schutzmaßnahmen gegen eine permanente als bedrohlich empfundene Mitwelt. Nicht, dass es für all das keine Gründe gäbe. Das Leben im Kapitalismus ist eine permanente Zurücksetzung. Die Frage ist, ob dies tauglich ist, eine Perspektive auf Emanzipation zu eröffnen und ob das im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Problemen, die eine solche Emanzipation zwangsläufig zu lösen anträte, überhaupt angemessen ist. Auch hier ist eine historische Perspektive lohnenswert. Denn Identitätspolitik ist in ihrem Kern Inklusions- und Anerkennungspolitik, mit dem Fokus auf repräsentativer Gerechtigkeit, weniger auf materieller Befreiung. Die Anerkennungstheorie sucht die interpersonale und kommunikative Vermittlung in der Dialektik von Herr und Knecht, die bei Hegel bekanntlich abbricht, was in der Alten Linken völlig zu Recht als Auftrag zur revolutionären Lösung dieser Angelegenheit begriffen wurde. Diese kommunikationstheoretische Wende, prominent eingeleitet von Jürgen Habermas, hat den postnazistischen Konsens der Sozialpartnerschaft in der BRD für den Normalfall der bürgerlichen Gesellschaft erklärt und die Zeit der Sozialingenieure ausgerufen, deren Expertenwissen im herrschaftsfreien Wissenschaftsdiskurs nun das Leben der Einzelnen verbessern sollte. Von der Existenz antagonistischer Konflikte im Kapitalismus wollte man nichts mehr wissen, stattdessen: Teilhabe, sozialer Zusammenhalt, Respekt. Während also die Anerkennungstheorie eine akademische Erfolgskarriere hinlegt, kündigte sich mit dem Ende von Bretton-Woods und der Ölkrise ein neuer, tiefgreifender Krisenzyklus des Kapitalismus an, nachdem der vorige nur wenige Jahrzehnte zuvor in zwei Weltkriegen und Völkermord geendet war. Die Anerkennungstheorie schöpfte ihre Annahmen aus der reichlich zweifelhaften Scheinstabilität der Nachkriegsgesellschaften und der Integra-tionskraft der Arbeit. Und gerade die wurde realiter doch einigermaßen in Frage gestellt. Die dauerhafte, staatlich verwaltete Arbeitslosigkeit ist keine industrielle Reservearmee mehr, dafür ist der Fortschritt in der Verwissenschaftlichung der Produktion durch Mikroelektronik und Robotik zu stark, sondern eine Ansammlung von Überflüssigen. Seitdem existiert das Schreckbild der völligen Überflüssigkeit, Merkmal einer irrationalen Gesellschaft, in der die Rationalisierung der Produktion zum Ausdruck archaischster Angst um die individuelle Existenz wird. Inklusion bedeutet unter solchen Bedingungen zwar das Fallen gesellschaftlicher Beschränkungen – bei gleichzeitiger Zerstörung von Gesellschaft schlechthin. Das warf auch ein anderes Licht auf bestimmte Begriffe. Dass Privilegien verallgemeinerbar sein könnten, verschwand aus dem politischen Bewusstsein. Privilegien sind dabei nicht als verbriefte Rechte zu verstehen, sondern als mit einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion verbundene Möglichkeiten zur Partizipation, Einfügen ins Vorgegebene unter der Drohung, aus diesem wieder herauszufallen. Was den Ausgeschlossenen widerfährt, bleibt denen, die noch eingeschlossen sind, nicht äußerlich. Auch die Normalität ist kein Privileg an sich, insoweit sie dem ebenso fragwürdigen Paradigma entspringt wie ihr Gegensatz, wie Marx am Beispiel der Krise und Freud an dem der Perversion zeigten. Im Horizont zu erreichender politischer Gleichheit erweckt das vermeintliche Privileg weniger Schrecken. Mit dem Versiegen der Gleichheitsutopie – selbst schon auf bloße Integration geschrumpft – entwickelte sich die Differenzutopie, der in Teilen aber schon der Verzicht auf die Utopie eingezeichnet war. Von Matriarchatskitsch über edle Wilde, die immer edler wurden, je weniger sie besaßen, bis hin zum authentischen, sich nicht entäußernden weiblichen Begehren – als ob nicht gerade das der Effekt patriarchaler Unterdrückung ist – reichte der Kultus der neu entdeckten Differenz, der sich auch von Beuteverzicht und Identifikation mit dem Aggressor speiste. Noch die heutige Sensibilität in Bezug auf Identitäten und Kulturen ist umgeben von dem Ruch des Jeder-bleibt-bei-sich, wenn es für alle nicht mehr reicht. Die Politik der Differenz hat aber auch die Augen dafür geöffnet, dass eine Integration unter den bestehenden Bedingungen keineswegs voraussetzungslos ist. Die Politik der Gleichheit hat eine immanente Beschränkung. Was jenseits der juristischen Gleichstellung liegt, ist die Ökonomie. Die gemeinsame Grenze von Gleichheits- und Differenzpolitik ist die ökonomische Vernutzbarkeit aller Menschen für das Kapital – wobei immer ein bestimmter Anteil überflüssig ist, was aber zunächst ökonomischen Gesetzen folgt, nicht diskursiven. Unter den herrschenden Produktionsverhältnissen hat das gegenwärtige Produktionsniveau Ausschuss zur Folge. Darauf reagiert alle reaktionäre Politik mit der Bekämpfung derer, die rausfallen. Alle emanzipatorische Politik hätte mit der der Bekämpfung des systemisch notwendigen Rausfallens zu antworten.
Die Identitätspolitik ist Ausdruck der Grenze, welche die Ökonomie für ein liberales Politikverständnis darstellt. Sie changiert zwischen Gleichheits- und Differenzpolitik. Einerseits wird jeder Essentialismus für überwunden und jegliche Kategorie für sozial konstruiert erklärt, andererseits gibt es die unüberwindliche Differenz, die »Andersheit des Anderen«. Ebenso können sowohl die Sichtbarmachung als auch die Unsichtbarmachung solcher Identitäten mit dem gleichen Furor für absolut falsch erklärt werden. Der Rückgriff auf die unveränderliche Identität – die trotz gegensätzlicher Beteuerungen doch zur Letztbegründung wird, weil es sich um vorgegebene und nicht erst zu schaffende (politische) Identitäten handelt – ist vor allem auch Ausdruck der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, Identitätspolitik in Zeiten der neoliberalen Verflüchtigung sozialer Identitäten zu betreiben. Der Queer- oder Postcolonial-Aktivismus – einstmals angetreten, nach Gleichheits- und Differenzpolitik etwas Neues zu schaffen – hat sich in großen Teilen in diesem Gegensatz so eingerichtet, dass situativ das eine oder das andere nicht verfochten wird, weder die Gleichheits- noch die Differenzpolitik, um aber am Ende den Widerspruch nicht zu fassen, sondern seine Benennung sprachpolitisch zu verbannen. Nun ist aber der Widerspruch zwischen Gleichheit und Ungleichheit objektiv, nicht der jeweiligen Methode geschuldet oder unter Veränderung epistemologischer Vorannahmen zu retouchieren. Die Unterschiedlichkeit der Individuen, das humane Apriori, das die Identitätspolitik so sehr zu dramatisieren sich gewöhnt hat, drängt zu einem politischen Universalismus, einer Veränderung der sozialen Beziehungen, der dieser Mannigfaltigkeit gerecht werden kann, ohne zu unterwerfen. Vor der Selbstveränderung der Individuen ist also nötig, ihren gesellschaftlichen Zusammenhang in der Weise zu verändern, dass sie nicht mehr in Abhängigkeit zum Kapital und damit in Konkurrenz stehen. Denn man sollte sich keine Illusionen machen: Die politische Entwicklung der Gesellschaft ist Resultat ihrer ökonomischen, nicht Ergebnis einer verfehlten linken Politik. Die verfehlte linke Politik besteht darin, dies nicht zu artikulieren und sich zugleich auf die vermeintlich noch sichere Position von marginalisierten Identitäten zu begeben und einen universalen politischen Anspruch aufzugeben – und das gerade in einer Situation, in der eine der zentralen Funktionen von Ideologie heute in der Verwandlung von (teil- und mitteilbaren) Interessen in (unteilbare) Identitäten besteht. Als Emanzipation ist hingegen der Prozess zu verstehen, der seine eigenen Voraussetzungen einzuholen sucht. Er setzt theoretisch Gleichheit voraus, er hat sie praktisch als soziale Freiheit zum Ziel – und macht dabei die Erfahrung von Differenz der individuellen Voraussetzungen. Emanzipation ist die (Selbst-)Bewegung des Widerspruchs zwischen Gleichheit und Differenz, sie bringt in dieser Bewegung Momente der Desidentifikation hervor, sie sind zugleich ihr Antrieb. Denn die identische Reproduktion des Sozialen ist ja die Katastrophe. Für die Frage der Emanzipation ist die Überwindung des sozialen Zwangs von Bedeutung. So verbinden sich individuelles Interesse mit einer universellen Dimension, die Freiheit des Einzelnen wird zur Bedingung der Freiheit aller – statt der Verabsolutierung des Partikularen der Identität. Emanzipation bezeichnet den ambivalenten und widersprüchlichen Prozess, der über das gemeinsame Interesse Einzelne verbindet. Nicht die Identität entscheidet, wer daran teilhat oder teilhaben kann, das Individuum trifft eine politische Entscheidung. Gründe finden die Einzelnen möglicherweise in dem Zwang, der von Identität ausgeht und in dem Wunsch, diesen zu überwinden. Nicht das Gegebene nur mittels marginalisierter Identitäten zu interpretieren, sondern im politischen Sinne zu verändern, wäre das Überschreiten der Grenze. Emanzipation setzt keine Identität voraus, sondern Interesse, um zur umfassenden Veränderung gesellschaftlicher Beziehungen zu kommen. Das identitätspolitische Dilemma ist Ausdruck dessen, was alles dem entgegensteht, was nötig wäre, um einem solchen Begriff von Emanzipation gerecht zu werden. Es ist die Klage über die Ohnmacht, die die Ohnmacht verstärkt, die Beschwörung der Identität, die die Identität unausweichlich erscheinen lässt, der Ruf nach Anerkennung, der die Unterwerfung verfestigt. Dieses Dilemma zu realisieren, könnte der erste Schritt der Überwindung sein.