Anders, als es angesichts eines kulturalistischen, islamsensiblen und zuverlässig antizionistischen Postfeminismus erscheinen mag, und anders, als es sich manche Ronja-von-Rönne-Groupies wünschen, war die Frauenbewegung in Deutschland nicht weniger als in anderen westeuropäischen Staaten ein Bewegungselement der bürgerlichen Gesellschaft, auf deren immanente Widersprüche sie reagierte – in Deutschland allerdings sehr viel später als in Großbritannien oder Frankreich.
Während die Verfassung der Weimarer Republik noch formulierte: »Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«, hält erst das Grundgesetz uneingeschränkt fest: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.«
Erst in später Folge dieser Reformulierung, vor nicht einmal 60 Jahren – in dem am 1. Juli 1958 vom Bundestag verabschiedeten »Gesetz zur Gleichberechtigung von Mann und Frau« –, wurden Bestimmungen festgeschrieben, die heute gerade Postfeministinnen so selbstverständlich finden, dass sie lieber über Sprachgenderungen, heteronormatives Spielzeug und strukturellen Alltagssexismus diskutieren. Zu jenen Bestimmungen gehören: die Abschaffung des Letztentscheidungsrechts des Mannes in Eheangelegenheiten; die Definition der Ehe als Zugewinngemeinschaft, d. h. Das Verfügungsrecht der Frau über das von ihr in die Ehe eingebrachte Vermögen; das Recht der Frau, ohne Zustimmung des Ehemannes erwerbstätig zu sein; die Beschränkung väterlicher Vorrechte bei der Erziehung; das Recht der Frau, ihren Geburtsnamen als Namenszusatz (mittlerweile auch als Namen) zu tragen.
Viele dieser Rechte sind in den folgenden Jahrzehnten erweitert und neu gefasst worden, mit durchaus widersprüchlichen Ergebnissen. So ist durch Anpassungen des Sorge- und Familienrechts in logischer Konsequenz der die »Keimzelle« der Kleinfamilie immer gründlicher aushöhlenden Durchsetzung des Kapitalverhältnisses aus dem Recht der Ehefrau auf Erwerbstätigkeit de facto eine vom ökonomischen Selbsterhalt diktierte Notwendigkeit geworden. Angesichts der Erosion der Kleinfamilie durch geschlechterübergreifende Subsumtion der Individuen unters Kapitalverhältnis erscheint die Privilegierung der Frau im Sorgerecht als institutionalisiertes Schmarotzertum, weshalb auch durch Ehe vom Arbeitsmarkt lange Zeit ausgeschlossenen Frauen für den Fall der Scheidung mittlerweile zugemutet wird, ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern.
Verspätete Emanzipation
Die Frau lernte durch die Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit, worüber ihre familienpolitisch fixierte Unmündigkeit sie hinwegtäuschte: dass die falsche Gesellschaft in ihr vermeintliches Gegenteil hineinwirkt, und dass Ehe und Familie, wenngleich sie zweifellos mehr sind als Agenturen der Gesellschaft, weil sie Fähigkeiten bewahren, die jener Gesellschaft immer auch entgegenstehen und über sie hinausweisen, einem doch keine Mittel an die Hand geben, sich vom gesellschaftlichen Zwang gleichsam freizukaufen. Die aus der Abhängigkeit in der Ehe oft genug resultierende Entmündigung der Kinder durch das nach innen gestaute mütterliche Herrschaftsbedürfnis kann durch die Modernisierung des Sorge- und Unterhaltsrechts gebrochen werden; mitunter um den Preis, dass der in seiner gesellschaftlichen Macht kastrierte Vater nach der Scheidung seine Wut über das liquidierte Privileg erst recht, und mit behördlicher Billigung, an Frau und Kindern auslässt.
Weitere Institutionalisierungen der Gleichberechtigung von Mann und Frau ließen noch länger auf sich warten. Die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigung in der Ehe als »sexuelle Nötigung« ist in der Bundesrepublik erst seit 1974 möglich; seit 1997 ist der Tatbestand der Vergewaltigung nicht mehr als nur »außerehelich« definiert, so dass sexuelle Gewalt in der Ehe seither überhaupt erst als »Vergewaltigung« (statt als »Nötigung«) strafrechtlich verfolgt werden kann. Dass die bürgerliche Revolution in Deutschland eine verspätete und gescheiterte war und ein zugleich ökonomisch wie politisch unabhängiges Bürgertum sich dort nie wirklich herausbilden konnte, hat in solch verzögerter Entwicklung bei der Durchsetzung juristischer und politischer Gleichstellung der Geschlechter seine Korrespondenz. Trotzdem handelte es sich hierbei um keine bloße Verzögerung. Vielmehr verschmolzen Archaismus und Fortschritt in der deutschen Gesellschaft auch auf dem Gebiet der Geschlechterpolitik in barbarischer Weise: Wie der Nationalsozialismus Frauen keineswegs nur auf ihre Rolle als Hausfrauen und Mütter zurückpfiff, sondern einen nationalchauvinistischen Feminismus hervorbrachte und, bei strikter Wahrung der Rassenschranke, Promiskuität und sexuelle Libertinage auch für Frauen in bislang ungekanntem Ausmaß ermöglicht hat, so verschränkte er auf allen Gebieten der Geschlechter- und Familienpolitik Modernität und Regression: Abtreibung wurde im Namen der Volksdemographie illegalisiert und zur Verhütung »erbkranken Nachwuchses« ermöglicht, ja propagiert und notfalls erzwungen; Mittel zur Schwangerschaftsverhütung wurden demographisch verpönt und sexualpolitisch empfohlen; Gynäkologie und Sexualmedizin brachten, den Prinzipien von Eugenik und Selektion unterworfen, kühnere Erfindungen und Neuerungen als früher hervor.
Diese Vorgeschichte, die bis heute fortwirkt, hat den regressiven Zug, der bereits die Zweite Frauenbewegung in der Bundesrepublik prägte und der in der erfahrungslos-autoritären Indoktrinationspraxis der Genderideologen zu sich selbst kommt, wesentlich mitbestimmt. Während etwa in Frankreich der Universalismus der Frauenbewegung, der über die politisch in Anspruch genommene Geschlechteridentität hinaus ganz republikanisch aufs Individuum zielte, das sich durch kein Geschlecht bestimmt und in keiner Identität aufgeht, in den Schriften von Elisabeth Badinter, Claude Habib, Catherine Millet und anderen französischen Feministinnen lebendig blieb, sind in Deutschland Versuche, die Frauenbewegung nicht als antibürgerliche und männerfeindliche Veranstaltung, sondern als Teil der bürgerlichen Emanzipation zu verstehen, immer randständig geblieben. Und während Poststrukturalismus und Dekonstruktion, obgleich theoriegeschichtlich dort entsprungen, in Frankreich zeitgeschichtlich weniger Bedeutung haben, konnten sie wegen des voluntaristischen Zugs der deutschen Frauenbewegung hierzulande zu sich selbst gebracht werden, lange bevor sie, vermittelt über die angloamerikanischen Länder, im gesamten Westen vorherrschend wurden.
Sprache und Gesellschaft
In der Zweiten Frauenbewegung in Deutschland haben sich am frühesten jene Züge ausgeprägt, die heutige Gendertheorien auf groteske Weise auszeichnen. Dies sind vor allem ein sich selbst als identitätskritisch halluzinierender Identitätsfetischismus, der sich heute nur eben nicht auf die »weibliche Identität«, sondern, vermeintlich pluralistisch, auf disperse Geschlechteridentitäten kapriziert, sowie eine charakteristische Verlagerung des Interesses von gesellschaftskonstituierten Formen von Herrschaft auf die Sprache als vermeintlich umfassendem Konstituens von Gesellschaft, Herrschaft und Geschlecht. Der Identitätsfetischismus äußerte sich in den siebziger Jahren in der Beschwörung eines unhistorisch aufgefassten »weiblichen Schreibens«, einer »weiblichen Ästhetik« und ähnlicher Substantialismen, die bereits damals u. a. von Silvia Bovenschen kritisiert wurden, aber trotzdem zur pseudotheoretischen Legitimation einer ganzen Sparte weiblicher Befindlichkeits- und Selbsterfahrungsliteratur wurden. Eines der frühesten Zeugnisse für die Verlagerung des feministischen Interesses von Ökonomie und Gesellschaft auf die Sphäre der Sprache und für die damit einhergehende feministische »Sprachkritik« ist die 1984 erschienene Studie Das Deutsche als Männersprache der Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch, die mit der Linguistin Senta Trömel-Plötz als Begründerin einer feministischen Linguistik gilt. Die zu Puschs 70. Geburtstag erschienene Festschrift trägt den im guten wie schlechten Sinne treffenden Titel Die Sprachwandlerin. Im guten Sinne, weil Pusch sich von akademischen Cyborgs wie Lann Hornscheidt dadurch unterscheidet, dass sie Sprache nicht als gestalt- und substanzloses Instrument zwecks Zurechthunzung der Wirklichkeit nach Maßgabe des eigenen Größenwahns missversteht, sondern als Ausdrucksform von Gesellschaft zu entziffern sucht. Im schlechten Sinn, weil schon bei ihr Erkenntnisse über den Zusammenhang von Sprache, Gesellschaft und Geschlecht durch die erfahrungsresistente frauenpolitische Willkür des Zugriffs meist eher verhindert als ermöglicht werden. Vor allem aber ist bei Pusch, deren Interventionen das heute altbackene Binnen-I seine Beliebtheit in den Achtzigern verdankte, angelegt, was heutige Gendersprachpolitik bis zur Selbstkarikatur betreibt: der Versuch, Gesellschaft qua sprachlicher Flurbegradigung zu verändern und das soziale Verhältnis, statt es zu verstehen und zu kritisieren, als spracherzeugt aufzufassen und damit zu irrealisieren.
Erhellend ist Puschs Buch dort, wo sie sprachgeschichtliche und grammatische Eigentümlichkeiten des Deutschen wirklich entfaltet, statt sie nur als Beweise für eine patriarchalisch-androzentrische Kontamination der Sprache in Dienst zu nehmen. Beispiele dafür sind die Bewusstmachung der sprachgeschichtlichen Abkunft von Metaphern;
die Frage, warum bei Worten wie »Herr«, »Fürst«, »Hund« die weibliche Form die abgeleitete ist, während bei »Witwe«, »Katze«, »Gans« die männliche abgeleitet wird, so dass der »Herr« auf substantiellere Weise männlich erscheint als etwa der Witwer, der im Grunde eine abgeleitete Witwe ist; oder die Beobachtung, dass es zwar zu den Bezeichnungen »Mann« und »Herr« eine weibliche Entsprechung gibt (»Frau«, »Dame«), aber keine männliche zu »Weib«. Wenn man sich die Grenzen einer solchen Betrachtung sowie die Tatsache bewusst hält, dass zwischen sozial- und sprachgeschichtlichen Entwicklungen kein Ableitungszusammenhang besteht, kann eine solche geschlechterpolitische Deutung von Sprach- und Grammatikgeschichte ergiebig sein, etwa indem sie bewusst macht, dass »Weib« nicht nur keine männliche Entsprechung hat, sondern selbst sächlich ist, und dass sich in dieser Tatsache die erniedrigende, die Frau auf die Gattungssphäre reduzierende Verwendung des Wortes in der Geschlechtermetaphysik des 19. Jahrhunderts fortschreibt. Leider sind solche sozialgeschichtlichen Einsichten bei Pusch bereits Ausnahmen. Schule gemacht haben nicht solche Beispiele aus ihrem Buch, die den Konnex von Sprache und Gesellschaft aufschließen, sondern solche, die ihn im Namen feministischer Sprachpolitik verunklaren und verleugnen, wie die falsche Behauptung, das deutsche »man« habe irgendetwas mit dem »Mann« (und nicht mit dem geschlechtertranszendierenden französischen »on« und englischen »one«) zu tun. Den Hauptteil ihres Buches widmet Pusch dem Unterfangen, die deutsche Sprache durch Binnen-I und sonstige Demontagen der Maskulinguistik zu renovieren, was zu Vorschlägen der Art führt, die in der politischen Geschichte auf Universalismus zielende »Brüderlichkeit« durch die aus dem Orkus der Friedensbewegung geschöpfte »Mitmenschlichkeit« zu ersetzen.
Fichte und die Geburt der Genderpolitik
Es wäre eine Überlegung wert, inwiefern sich die feministische Fetischisierung der Verbindung von Herrschaft und Sprache, wie sie sich hier bereits andeutet, als auf das Terrain der Geschlechterpolitik projizierter Reflex der spezifisch deutschen Tradition der Sprachreinigung im Dienste nationaler Einigkeit verstehen lässt. Jedenfalls waren es nicht Jungdeutsche, Einwanderer, Arbeiter oder Frauen, sondern Nationalchauvinisten, die in Deutschland zuerst auf die Idee gekommen sind, durch Tilgung »fremder« oder »unreiner« Worte und amtlich dekretierte Sprachnormen den Nationalstaat politisch zu festigen und die Gesellschaft zu entludern; ein Vorhaben, das in unmittelbarem Zusammenhang stand mit der »Verbesserung« der Juden, aus der im Kaiserreich bald nach deren juristischer und politischer Gleichstellung der Wunsch nach deren Unterwerfung, gar nach Vernichtung erwuchs. Vielen der im Umfeld des 1885 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachvereins versammelten Sprachreiniger, zu denen auch nationalkonservative Juden wie der Philologe Eduard Engel gehörten, galten Fremdwörter als »Juden« der Sprache. Das Ziel ihrer »Verdeutschung« stand in engem Zusammenhang mit dem Ideal einer »Überwindung« des Judentums, weniger durch Assimilation an den Nationalstaat als durch Subsumtion unter den Primat des »Vaterlandes«.
Ein Kennzeichen des neuen, jede Möglichkeit der Assimilation leugnenden, tendenziell schon auf Vernichtung zielenden Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert, wie er sich etwa bei Heinrich von Treitschke bahnbrach, war die paranoide Suche nach Spuren der vermeintlich untilgbaren Andersheit der Juden gerade in deren Sprache. Der Versuch der Gendersprachpolitik, eine restlos »geschlechtergerechte« Sprache zu schaffen, aus der alle Spuren sexistisch-androzentrisch-eurozentrischer Dominanz getilgt wären, erscheint in seiner integralen paranoiden Endlosigkeit wie ein spiegelbildliches Gegenprojekt zu jener Sprachreinigung: Antinational, antikolonialistisch, antipatriarchalisch und antirassistisch, gleicht es seinem Gegenbild im Exorzismus schlimmer Worte, in seinem sprachphilosophisch camouflierten Sexualekel, im angemaßten Sprachbeamtentum, das die Sprache nicht den Sprechenden und Schreibenden überlassen will, sondern ein lückenloses Verkehrssystem für sie erlässt, in seiner Staatsgläubigkeit und in der Neigung seiner Protagonisten zum Antisemitismus bis aufs Haar. Der Habitus, die Idiosynkrasie und die Verfolgungssucht wurden nur politisch korrekt aufpoliert: Wo die Sprachreiniger bei jedem nebbich mit dem Ausschluss aus dem Kulturraum drohten, halten sich die Genderpolitiker bei jedem Neger kreischend die Ohren zu.
Dass die Gewohnheit, Menschen, die studieren, als »Studierende« statt als »Studenten« zu bezeichnen, historisch überhaupt nicht von Feministinnen, sondern von Johann Gottlieb Fichte, dem Erfinder des »geschlossenen Handelsstaates« stammt, der auf diese Weise die produktiv-schaffende statt reflexiv-zersetzende Arbeit deutscher Jungakademiker unterstreichen wollte, ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend.
Nicht weil er mit Marx, Freud und Adorno zu den Lieblingen antideutscher Kritik gehört, sondern weil es sich durch die skizzierte historische Konstellation aufdrängt, lässt sich an der Sprachkritik von Karl Kraus veranschaulichen, was solche falsche, auf Bemächtigung statt auf Erkenntnis zielende Sprachkritik verdrängt. Auch Kraus könnte als von jüdischem Selbsthass getriebener Sprachreiniger in der Tradition von Eduard Engel durchgehen: Er verabscheute das »Mauscheln«, vertrat ein Ideal sprachlicher Reinheit, das mit dem strikten Einhalten grammatischer und syntaktischer Regeln und einer Aversion gegen Jargon einherging, und im gleichsam juristischen, nämlich rechtsprechenden Gestus seines Schreibens und Urteilens mag man einen Nachklang des Sprachbeamtentums des 19. Jahrhunderts ausmachen. Dennoch, und das macht einen Unterschied ums Ganze, war er in jeder seiner sprachlichen Innervationen ein deutschsprachiger, kein deutscher Schriftsteller. Dass die österreichische Literatur, ähnlich wie die pragerdeutsche, zwar deutschsprachig, aber nicht deutsch ist, dürfte für ihre singuläre Ausdruckskraft bis heute entscheidend sein, während die deutsche Literatur stets nur dort Weltliteratur wurde, wo sie nicht deutsch blieb, sondern deutschsprachig wurde: Das Deutschsprachige lässt das Deutsche hinter sich. Begünstigt, wenn auch nicht hervorgebracht – denn ein solches Hinaustreiben der Nationalsprache über sich selbst ist nur möglich vermittelt durchs Subjekt – wurde dieser Prozess durch die Lebens- und Sprechbedingungen des Vielvölkerstaats, unter denen es selbstverständlicher, aber auch notwendiger als im sich seiner selbst durch Sprachhomogenität versichernden deutschen Nationalstaat war, in der Sprache immer auch außerhalb ihrer zu sein, sich sprechend und schreibend reflexiv zu ihr ins Verhältnis zu setzen. Der mimetische Impuls aller Sprache, ihre bei aller Vermittlung und Sublimierung nie abreißende Bindung an die Leiberfahrung, wurden auf diese Weise als selbstverständliches Moment alltäglichen Sprechens und Schreibens bewahrt. In der Tradition des kritischen Volksstücks, im Vortragsstil des österreichischen Kabaretts, in der nie nur mit, sondern an und in der Sprache arbeitenden österreichischen literarischen Moderne, finden sich bis heute idiomatische Spuren davon.
Kraus und die Entschändlichung der Sprache
Die Konstellation von Sprache, Recht und Geschlecht, die sich im Werk von Kraus eröffnet, weist trotz der frauenfeindlichen Aussagen, die sich in seinen Schriften so reichlich wie judenfeindliche finden lassen, weit über Kraus‘ Zeit und wohl auch über das hinaus, was sich als Kraus‘ Haltung zur »Frauenfrage« seinen Texten an fixierbaren Aussagen entnehmen lässt. Die in dem Band Sittlichkeit und Kriminalität versammelten Kommentare zu zeitgenössischen Prozessen gegen Prostituierte und andere als sexuell verkommen Verurteilte sprechen scharf wie keine anderen Publikationen ihrer Zeit die Komplementarität zwischen der Erniedrigung der Frau in der Ehe und in der Prostitution aus und bieten die vignettenhafte Charakteristik eines Alltags, der die qua Rechtsprechung zur Verkörperung der Schande erklärte Hure stellvertretend für die Schande der Gesellschaft büßen lässt, die sich zugleich an ihr schadlos hält. Humanität regt sich in einer solchen Gesellschaft Kraus zufolge nur dort, wo die Hure, aber auch der Freier, das frühreife Mädchen, der Pädophile, der Sexualverbrecher, dem Strafgericht jener Gesellschaft, die sie selbst hervorgebracht hat, nicht mehr hilflos ausgeliefert wären, sondern der Widerspruch gelöst würde, der sich in ihnen verkörpert. Das impliziert freilich keine Verharmlosung der Prostitution als »Sexarbeit« oder gar »sexuelle Dienstleistung«; dass die freie Menschheit, so wenig sich positiv über sie aussagen lässt, jedenfalls keine Prostitution kennen würde, dass diese vielmehr selbst Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist, das abgeschafft gehört, blieb Kraus stets bewusst. Er hat nur – und diese Kleinigkeit hat ihn damals in den Augen vieler selbst als pervers erscheinen lassen – darauf beharrt, dass jenes Verhältnis nicht durch Exorzismus der Prostitution aus der Gesellschaft abgeschafft oder auch nur gebessert, sondern vertieft und perpetuiert wird.
Diesen fortschrittlichen Impulsen steht in Kraus‘ Werk eine Reihe von Aussagen gegenüber, die ganz im Geiste des nicht nur von ihm verehrten Otto Weininger die Geschlechtermetaphysik von der Substanzlosigkeit, Oberflächlichkeit und Körperlichkeit der Frau zu wiederholen scheinen, die erst durch den männlichen Geist, und immer nur für ihn, zum Leben und zur Sprache gebracht werden könne: »Den Inhalt einer Frau erfasst man bald. Aber bis man zur Oberfläche vordringt!« – »Die Frau ist da, damit der Mann durch sie klug werde.« – »Der Mann ist der Anlass der Lust, das Weib die Ursache des Geistes.« – »Ich stehe immer unter dem starken Einfluss dessen, was ich von einer Frau denke.« Solche Äußerungen, die sich nicht zufällig vor allem in Kraus‘ Aphorismen finden (weshalb der Aphorismus bis heute die privilegierte Form der Misogynie ist, wäre ein interessantes Thema für eine sprach- und geschlechterkritische Studie), lassen sich jederzeit problemlos als Herrenwitze anbringen, ihren immanenten Stellenwert bei Kraus erfasst man aber erst, wenn man in den Blick nimmt, dass Kraus, wann immer über »die Frau« oder »das Weib« spricht, auch über die Sprache redet, die er selbst als Weib imaginiert. Ein Epigramm mit dem Titel »Die Sprache« lautet: »Mit heißem Herzen und Hirne / naht‘ ich ihr Nacht für Nacht. / Sie war eine dreiste Dirne, / die ich zur Jungfrau gemacht.« Schlechte feministische Sprachkritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie schon diese Metapher nicht gelten lässt, sondern sie sogleich zum Ausdruck einer misogynen Weltanschauung erklärt und damit verstanden zu haben glaubt. Erkenntnis fängt demgegenüber damit an, nach dem Bild zu fragen, dass hier entworfen wird, und zu überlegen, was in ihm denn gesagt ist. Zum einen stellt das Epigramm den Autor in seinem Verhältnis zur Sprache (und »Verhältnis« ist hier im erotischen, nicht allein im sozialen Sinn gemeint), als Gegenzuhälter vor: Während der Zuhälter in der populären Imagination derjenige ist, der aus Jungfrauen Dirnen macht und unschuldige Mädchen in schlechte Gesellschaft bringt, verwandelt der Autor die als Dirne vorgefundene Sprache in eine Jungfrau. Jungfrausein ist in diesem Bild nicht der natürliche oder ursprüngliche Zustand, der durch die korrumpierende Gesellschaft verloren geht, sondern Ziel der Arbeit an der Sprache, die nicht auf Entjungferung, sondern gleichsam auf Entschändlichung zielt. Anders als bei der Figur des Zuhälters ist das Verhältnis des Autors zur Sprache kein geschäftliches, sondern ein intimes: Seine Zeit ist die Nacht, in der er sich der Sprache mit »heißem Herzen und Hirne« nähert. Seine ganze Konzentration gilt der Aufgabe, nicht eine verschüttete Reinheit wiederherzustellen, sondern die Sprache, die er als Dirne vorfindet, überhaupt erst zum reinen Ausdruck ihres Gehalts werden zu lassen. Das Verhältnis zur Sprache ist eines der Liebe, aber der illegitimen, gleichsam rechtlich nicht sanktionierten, und damit ein Verhältnis im vollen Wortsinn: Wer der Sprache gerecht werden will, muss mit ihr fremdgehen, durch Ehe würde er sie sich oder sich ihr unterwerfen – während die meisten Menschen heute aus den gelegentlichen Begegnungen mit ihr ähnlich verkatert hervorgehen, wie sie nach misslungenen Abenden auf der Couch des beliebigen Nächsten aufwachen.
Um zu sehen, wie prägend die Imagination der Sprache als Frau und die Auffassung von Autorschaft als Affäre mit der Sprache für Kraus ist, muss man die zitierten Aphorismen nur noch einmal unter diesem Aspekt lesen. Nicht nur sind sie in sich selbst sprachkritisch, Kontrafakturen eingeschliffener Denkbilder und Redeweisen: Nicht die Oberfläche ist das, was man bald erfasst, sondern der Inhalt, während man zur Oberfläche erst vordringen muss; nicht aus etwas soll man klug werden, sondern durch es; und aus dem Klischee, dass jeder große Mann unter dem Einfluss einer starken Frau stehe, wird der Einfluss, den das Denken über eine Frau auf den Mann ausübt. Vor allem aber wird dabei über die Sprache selbst gesprochen: Nicht der oberflächlichen Wirklichkeit literarische Tiefgründelei entgegenzusetzen, sondern die Oberfläche zu ergründen, ist die Maxime von Kraus‘ Sprachkritik.
Die Imagination der Sprache als Frau und der Autorschaft als Liaison mit der Sprache wiederholt nicht das organizistische Klischee von der Frau als Natur, die vom Mann mit Geist beseelt, und von der Sprache als Leib, der vom Geist befruchtet werden müsse, sondern die Beziehung zwischen Logos und Eros, Geist und Leib, ihr mimetisches Verhältnis, wird als konstitutiv für die Sprache begriffen. Das Erste ist bei Kraus immer die Sprachgestalt, der bis in ihre äußerste Nuancierung zu folgen ist, damit sie über sich hinausgetrieben und Erkenntnis werden kann. Deshalb erniedrigen seine Aphorismen, anders als der Herrenwitz, Sprache nicht zum Mittel chauvinistischer Auftrumpferei, sondern folgen auch dort, wo die Aussageebene als misogyn aufgefasst werden kann, keinem vorweg festgelegten Zweck, sondern der Sprachform – und die ist für Kraus weder »männlich« noch »weiblich«, sondern mimetisch, und weist über die Dualität hinaus.
Universalismus und Rechtsprechung
Deshalb spricht die Sprache, wie sie bei Kraus gedacht ist, als rechtsprechende, immer auch gegen die bornierte Männlichkeit; ihr Verhältnis zur Geschlechtsidentität bleibt, gerade weil sich Eros und Logos in ihr versöhnen, ein negatives: »Ich bin nicht für die Frauen, sondern gegen die Männer.« Den Unterschied von sozialer und natürlicher Geschlechtsidentität hat auch Kraus schon gekannt, ohne freilich diese jener als deren »Konstruktion« zu subsumieren. Stattdessen hat er beide gegeneinander in Anschlag gebracht, um den Widerspruch, auf den die Differenz verweist, als der Abschaffung wert zu überführen – den Widerspruch wohlgemerkt, nicht die Differenz.
So kann der notorische Gegner der Frauenbewegung ein in seiner Schärfe von der Frauenbewegung selbst nicht übertroffenes Plädoyer für die Erwerbstätigkeit der Frauen formulieren: »Jedes Frauenzimmer, das vom Weg des Geschlechts in den männlichen Beruf abirrt, ist im Weiblichen echter, im Männlichen kultivierter als die Horde von Schwächlingen, die es im aufgeschnappten Tonfall neuer Erkenntnisse begrinsen und die darin nur den eigenen Misswachs erleben. Das Frauenzimmer, das Psychologie studiert, hat am Geschlecht weniger gefehlt als der Psycholog, der ein Frauenzimmer ist, am Beruf.« Um nicht vollends am Geschlecht zu fehlen, in dem die Erinnerung der Individuen an die erste Natur fortlebt, müssen die Individuen vom Weg des Geschlechts abirren, in dem sich der Fluch der ersten Natur reproduziert. In der rechtsprechenden Sprache, die die korrumpierte vorgefundene Sprache bannt, um den gesellschaftlichen Bann von ihr zu nehmen, ist dieser Widerspruch sprachlich aufgehoben und damit die Versöh nung auch der Geschlechter antizipiert. »Frauenzimmer« war in der Sprache der Aufklärer ein Ehrentitel, Name für die Frauen, die sich durch Bildung, Selbstaufklärung und Beruf aus der auch selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien trachteten. Erst später wurde es zu einer versächlichenden, abwertenden Bezeichnung für lästige Frauen. Kraus verwendet das Wort abwertend für lästige Männer und verleiht ihm als Bezeichnung für Frauen seine Dignität zurück. Darin führt er vor, dass keine Sprache jemals »Männersprache« war, sowenig wie irgendeine, am wenigsten die rechtsprechende Sprache »geschlechtergerecht« werden kann, weil sie stets auf Universalität zielt: Das Recht suspendiert die Gerechtigkeit, die nur das Unrecht verewigt. Als reflektierte Mimesis weist alle Sprache über das Geschlecht, das freilich in ihr zum Ausdruck kommt, hinaus wie der sublimierte Trieb. Wer in diesem Sinne spricht, hat keinen Sprechort, aber den Ort der Erkenntnis in der Sprache gefunden.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung aus:
Magnus Klaue, Die Antiquiertheit des Sexus. Kindheit – Sprache – Geschlecht, XS-Verlag, 2017