1983 entstand »Das Adressbuch« von Sophie Calle, das sich wie fast alle ihre Arbeiten keinem Genre, nicht einmal einer bestimmten Kunstform zuordnen lässt. Seit den siebziger Jahren hatte Calle es sich zur Gewohnheit gemacht, ausgestattet mit einer kleinen Kamera und einem Notizbuch in Paris zufällig ausgewählte Passanten zu verfolgen. Die unfreiwilligen Stadtführer dienten ihr als Ankerungspunkte für Phantasien, Geschichten und akribisch protokollierte Detektivspiele. Calle hat aus der gezielten Verletzung der Privatsphäre, auch der eigenen, eine neue Kunstform gemacht, ließ sich durch ihre Mutter selbst von Detektiven beobachten oder trat eine Stelle als Zimmermädchen in einem Hotel an, um systematisch die Privatgegenstände der Gäste zu durchsuchen. »Das Adressbuch«, im vergangenen Jahr bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen, versammelt Kolumnen, die sie für Libération über einen Unbekannten schrieb: den Besitzer eines Adressen- und Telefonverzeichnisses, das sie eines Tages gefunden hatte. Sie kopierte das Buch, schickte das Original zurück an den Eigentümer und kontaktierte dann alle darin eingetragenen Personen, um sich von ihnen Erinnerungen und Erfahrungen über den Unbekannten mitteilen zu lassen. Manche lehnten ab, viele aber beantworteten anstandslos ihre Fragen und stellten so den Stoff bereit, der in den Kolumnen verarbeitet wurde.
»Das Adressbuch« ist weder Literatur noch Dokument, weder bildende Kunst noch Performance, sondern eine genuine, inkommensurable Form: Zeugnis und Reflexion einer Handlung, die der zur Phrase gewordenen Forderung, Kunst müsse Grenzen verletzen, noch einmal wahrhaft rücksichtslose Geltung verlieh, indem sie Kunst auch im juristischen Sinn als Tat begriffen hat. Diese Tat, die in den Kolumnen nicht auf-, sondern ihnen vorausging, erinnert an eine im Alltag der Menschen gründlich verdrängte Sehnsucht: zu verschwinden im Leben der anderen, die man niemals kennenlernen wird; einfach in die Welt irgendeines Fremden überzuwechseln, um das Gehäuse der eigenen Identität abzustreifen; aber auch die Regeln und Verhaltensweisen, mit denen die Menschen um sich permanent Trennlinien ziehen, im zweckfreien Affront zu durchbrechen. Der Besitzer des Adressbuchs, der später gegen Calle klagte, hatte richtig verstanden, dass es ihr darum ging, Kunst erneut und gegen die damals schon herrschende Transgressionsmode tatsächlich als Übergriff zu verstehen, als unbotmäßige Einmischung in das Leben der Menschen, denen sie, sofern sie ihren eigenen Anspruch ernst nimmt, zu nahe treten muss, damit sie sie etwas angeht.
Auch genuin literarische Formen sind einmal entstanden in außerliterarischen Zusammenhängen, aus denen sie in die Literatur importiert, mit deren Formen vermittelt und zu etwas Neuem verfugt wurden. Die gesamte literarische Moderne lässt sich unter diesem Aspekt begreifen; als konzentrierter Versuch der Literatur, das ihr Ferne, der Sprache Ähnliche, aber in Sprache nicht Aufgehende in sich aufzunehmen und als Fremdes zu reflektieren. Die Form von Prosa, die Marcel Prousts »A la Recherche du Temps perdu« entwickelt, sucht die stummen Schichten somatischer Erfahrung im Subjekt, die durch Geschmack, Geruch oder Geräusch revoziert werden, im sprachlichen Ausdruck zur Geltung zu bringen. Auch hier klingt im Titel der detektivische Impuls solcher Arbeit an. Der Autor muß gleichsam immer bereit sein, seinen Gegenstand in genau dem Moment, in dem er sich zeigt, zu erwischen, und seine ganze Konzentration darauf verwenden, dem nie gänzlich verfügbaren, immer widerstehenden Objekt auf die Schliche zu kommen, indem er dessen Eigenständigkeit anerkennt. Deshalb entwickelte sich die Detektivgeschichte als populäre Seitenform der ästhetischen Moderne. Beiden gemeinsam war ein neues Bewusstsein um den Vorrang des Objekts, das im Fall der Literatur nicht einfach die Sprache als Material ist, sondern als originäre Ausdrucksform des Sprachfernen, dessen, was sich ihr notwendig entzieht.
Montage und Collage als literarische Verfahrensweisen adaptieren daher nicht einfach Techniken der bildenden Kunst, der Fotografie oder des Films, sondern versuchen im Modus der Sprache das gleiche, was zur gleichen Zeit in ihrer je eigenen Form die anderen Künste anstrebten: ihre eigene, nur immanente Logik aufzubrechen, indem sie das ihnen Ferne, die Bruchstücke des Wirklichen, das in der ästhetischen Form nie aufgeht, dieser anähneln und in sie einwandern lassen. Daher sind Montage und Collage, anders als es ein schaler Kunstunterricht noch immer lehrt, keine inzwischen historisch gewordenen Mittel der sich immer weiter entwickelnden Künste, sondern ästhetische Denkformen, die sich der eigenen Dynamik gemäß notwendig selbst erneuern. Der jüngst verstorbene Ror Wolf hat in seinem Werk alle entwickelten Formen der literarischen Moderne von Proust über Kafka bis Beckett mit bildnerischen Techniken des Surrealismus und mit trivialen Formen des Abenteuer- und Detektivromans verknüpft, nicht, um die Künste intermedial zu dezentrieren oder sie der lustigen Unvernunft auszuliefern, sondern um sie als allgültiges Archiv menschlicher Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten ernst zu nehmen. Seine ab 1983 erschienene »Enzyklopädie für unerschrockene Leser«, eine ganz buchstäblich zusammengefugte und -geklebte Fragmentesammlung menschlichen Redens und Schwätzens in der Tradition von Karl Kraus’ »Dritter Walpurgisnacht«, verdeutlicht den universalistischen Anspruch, den die Technik des Zusammenstückens schon immer hatte.
Solche Technik erschöpft sich keineswegs darin, die vermeintlich geschlossenen und damit irgendwie autoritären literarischen Gattungen der Lyrik, der Prosa und des Dramas auf Öffentlichkeit, Kollektivität usw. hin zu öffnen. Vielmehr dient sie mindestens ebenso der Aufschließung intimer, stummer, im Somatischen verschlossener Erfahrungsdimensionen des Subjekts, die wiederum auf dessen Wirklichkeit verweisen. Friederike Mayröcker etwa verfolgt mit der von ihr geschaffenen Form der »Magischen Blätter« so etwas wie ein spontanes und dennoch geübtes, unsystematisch-systematisches Sich-selbst-Ertappen, mit dem der Autor den Gedanken, die er hat, ohne um sie zu wissen, und den Gefühlen, die unter habitualisierten Formen des Fühlens verschüttet sind, auf die Spur zu kommen sucht. Auch hier erweist sich das Notizbuch, als loses Kompendium von Einfällen, Merksätzen, Plänen und Phantasien, als angemessene Ausdrucksform. Herta Müller wiederum stellt in ihren um die Jahrtausendwende entstandenen Text-Bild-Collagen wie »Im Haarknoten wohnt eine Dame« oder »Die blassen Herren mit den Mokkatassen« lyrische Texte aus Reproduktionen ausgeschnittener Buchstaben und Wörter zusammen, die dabei eine figurative Dimension gewinnen und mit Zeichnungen und Kritzeleien ornamentiert sind. Das lässt teilweise an Kinderkunst denken, erinnert aber auch an Erpresserbriefe oder Kassiber, also an klandestine und anonyme Kommunikationsformen, die die Notwendigkeit voraussetzen, sich anders als über die üblichen Medien zu verständigen. Techniken der Collage, des Fragments und des Kompendiums dienen so als Aufbewahrungsorte privativer, voröffentlicher, im Vorsprachlichen verbleibender, aber gerade dadurch das Allgemeine vertretender Impulse. Diese sind nichts Irreales, Imaginäres, sondern Teile der Erfahrungswirklichkeit, die in jenem Alltagsvollzug, der sich Realität nennt, durch die Maschen fallen. Der ästhetische Impuls zielt darauf, solche Wirklichkeitsteile zu erhaschen und im eigenen Formengewebe einzufangen, ohne sie kommensurabel zu machen.
Es spricht einiges dafür, den Unterschied zwischen der Sphäre des Gesellschaftlichen und des Ästhetischen weniger in der Differenz zwischen Repräsentation und Nicht-Repräsentation zu sehen als in der Intention des ästhetischen Ausdrucks, seinen Gegenstand, der die Wirklichkeit ist, zu erwischen, statt nur darzustellen, ihn einzufangen, statt ihn zu bestimmen und festzunageln. In seiner 2012 erschienen Studie »Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik« entwickelt der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer, anders als der instrumentalistische Untertitel erwarten lässt, den Gedanken, dass das lyrische Sprechen in der Moderne zum letzten verbliebenen Aufbewahrungsort einer Kommunikativität geworden ist, die in der Gegenwart keinen Ort mehr hat. Gerade weil die Lyrik in der Form von Zaubersprüchen, Rhapsodien, Epen usw. einmal kollektive menschliche Ausdrucksform sui generis war, wurde sie demnach in der Moderne mehr und mehr die privilegierte Form hermetischer, verrätselter, antikommunikativer Rede, die in ihrer Selbstabdichtung gegen die Mitteilung das kommunikative Potential menschlicher Sprache als Unbrauchbares bewahrt.
Zu einem solchen Gedächtnisort wird Dichtung nicht aufgrund der Intentionen der Dichter oder des Publikums, sondern hinter dem Rücken derer, durch deren Produktion und Rezeption die literarischen Formen sich konstituieren. Literatur, authentische Kunst überhaupt, wäre, nimmt man diesen Gedanken ernst, das einzige in freier Tätigkeit und reflektierter Spontaneität entstandene Menschheitsgedächtnis, weil darin all jene Erfahrungen, Affekte, Gefühle und Wirklichkeitsspuren bewahrt bleiben, die in den Medien gesellschaftlicher und historischer Selbstvergewisserung (von Museen über Lexika bis zur approbierten und daher schlechten Kunst) lediglich gesammelt, gefiltert, benannt, klassifiziert und repräsentiert sind. Je mehr der Kunstbetrieb unter dem Vorzeichen zivilgesellschaftlichen Engagements, politischer Meinung und ästhetischer Manipulation selbst nur noch der kollektiven Selbstvergewisserung von Gruppen und Institutionen dient, umso labiler wird die Fähigkeit der ästhetischen Sphäre, einzufangen, was die Gesellschaft nur ordnet, kommentiert oder propagiert. Wenn Literatur wie in Mayröckers »Magischen Blättern« erneut zu dem privativen Notat und Gekritzel zu werden scheint, aus dem sie einmal hervorging, so bezeugt das, wie eng der Raum mittlerweile geworden ist, in dem die freie Geste des Einzelnen, die sich nicht nur dem Allgemeinen, sondern dem Einzelnen selbst entzieht, artikuliert und gespürt werden kann.