Groll und der Dozent hatten auf einem Rastplatz an der Autostraße von Mauterndorf nach Tweng/Obertauern Halt gemacht. Sie warteten einen Regenschauer ab. Obertauern müsse man bei Sonnenschein sehen, hatte der Dozent gemeint. Ein Ballermann in den Tauern erfordere klare Sicht.
»Immerhin ist Obertauern unter den fünf größten Wintersportorten Österreichs, was die Besucherzahl anlangt. Wenn man die Vielzahl an häßlichen Betonklötzen, heimattümelnden Stuben und Halbbordellen betrachtet, fühlt man sich wie auf einem fremden Planeten.«
Groll kannte die verfeinerte Lebensart des Dozenten und dachte bei sich, daß es so schlimm schon nicht sein werde. Während die Regentropfen gegen die Windschutzscheibe prasselten, erzählte der Dozent von seinen Jugendjahren, als er mit Freunden vom Theresianum zu Wien einige Winter in Obertauern zum Schifahren war. St. Moritz war den Eltern der Kinder aus betuchten Familien zu weit entfernt gewesen, Zürs und Lech erschienen ihnen zu bieder, Kitzbühel wiederum zu proletarisch. Obertauern aber habe in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen modernen, aufregenden Schiurlaub in einer reinen Tourismusenklave geboten. Für Kinder aus einer Bildungsenklave schien das der geeignete Ort zu sein – der noch dazu den Vorzug hatte, von Wien nicht allzuweit entfernt zu sein. Sollte einem der Sprößlinge etwas zustoßen, wäre man als Familienoberhaupt mit dem großen Mercedes oder dem Familien-Jaguar rasch zur Stelle.
»Nicht nur das weiße Gold auf den Schipisten ist für diese Ecke der Tauern bestimmend, früher war es tatsächliches, physisches Gold, das hier gewonnen wurde. Das Tauerngold wurde durch Jahrhunderte abgebaut, wobei der wirtschaftliche Höhepunkt um 1550 erreicht wurde«, sagte der Dozent und zog ein paar eng beschriebene Manuskriptseiten aus seiner Aktentasche.
»Hier«, sagte er, »habe ich ein paar Notizen, die ich für einen Essay über die Rolle des Golds in der Finanz- und Vermögensgeschichte verwenden möchte. Wie Sie sicherlich wissen, empfiehlt es sich bei gesellschaftspolitisch relevanten Themen mit den materiellen Grundlagen der Fragestellung zu beginnen. In unserem Fall sind das die Geologie und die Tektonik.« Er legte die Blätter auf seine Knie, nahm das oberste Blatt hoch und sah Groll fragend an.
»Bitte«, sagte Groll. »Fahren Sie fort. Ich brenne darauf, meine Kenntnisse über Gold zu vertiefen.«
»Sie werden lachen«, meinte der Dozent. »‘Vertiefen‘ ist das richtige Wort. Ein Synonym für Abteufen. Die Gold- und Silberbaue bei Böckstein und im Raurisertal bei Kolm-Saigurn waren neben den Edelmetallvorkommen am Monte Rosa im Valle Anzasca, Piemont, Italien, die höchst gelegenen in Europa. Zur Blütezeit des Bergbaues wurden zehn Prozent des Gold-Weltvorkommens in Gastein und Rauris gewonnen.«
Groll nickte geduldig.
Der Dozent fuhr fort: »Bei Zell am Ziller wurde 1630 ein Goldfund gemacht, der den einträglichen Goldbergbau bei Hainzenberg übertraf. Nun flammte ein alter Streit zwischen Salzburg und Innsbruck wieder auf.«
»Drauf ham sie sich die Köpf eindroschen, die Bergdeppen, die ausgschamten«, ergänzte Groll.
»So ähnlich. Woher wissen Sie das?«
»Weil i die Bazi kenn, die narrischen. Ich hab Verwandte in Werfen im Pongau, und das ist auch ein ehemaliger Knappenort. In Mühlberg am Hochkönig, gleich um die Ecke von Werfen, wurde bis in die siebziger Kohle gefördert. Und der Mann, der als erster Schispringer die Hundertmeter-Marke übertroffen hatte, führte dort das Rupertihaus. Er hieß Bubi Bradl und war in seiner Jugend ein überzeugter Nazi«, sagte Groll und versuchte, trotz der Enge des Fahrersitzes einen Pullover überzustreifen. »Was is jetzt nacha mit dem Streit gwesn?«
Wenn er nicht aufhöre, verballhorntes Bayrisch zu reden, sage er kein Wort mehr, erwiderte der Dozent.
»Dös is kein Bayrisch, dös is Pongauerisch. Dös klingt sich aber fei gleich. Nur geübte Ohren möchten ein‘ Unterschied hören.«
»Im Jahr 1427 hätten Salzburg und Tirol eine Halbe-Halbe-Teilung der Zillertaler Bergbaugewinne vereinbart«, setzte der der Dozent fort. »Als die Tiroler den Gewinn für sich haben wollten, zerstörten Salzburger Knappen etliche Tiroler Schmelzanlagen im Raum von Zell am Ziller.«
»Dös is ja wie im Wilden Westen!« sagte Groll und gab den Kampf mit dem Pullover auf. Immerhin war es ihm gelungen, den Pullover zur Hälfte anzuziehen.
»Wir müssen bedenken, daß das Zillertal damals – genau bis 1803 – zum unabhängigen Erzbistum Salzburg gehörte. Aber die einzige befahrbare Strecke von Salzburg ins Zillertal führte durch bayerisches und tirolerisches Territorium.« Der Dozent half Groll, den Pullover ganz überzustreifen.
»Vergelts Gott«, sagte Groll. »Auf daß Sie nie nicht und neama eine heiße Milch verschütten möchten.«
Was das nun wieder heiße, fragte der Dozent.
»Keine Ahnung«, sagte Groll.
»Die Bergleit reden halt so. Wahrscheinlich reden die sovui Bledsinn, weil die damit die ständige Heidenangst wegen derer bledn Lawinen übertauchen.«
»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Dozent. Der Regen wurde stärker. Die Scheiben waren von innen angelaufen, die beiden sahen nicht mehr, was außerhalb des Wagens vorging. Der Dozent ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort. Die Salzburger hätten in ihrer mißlichen Lage einen kühnen Plan verwirklicht – eine innersalzburgische Verbindung von Salzburg ins Zillertal.
»Um 1630 baute man daher den dreißig Kilometer langen und unwegsamen Saumpfad über den Gerlospass zu einem befahrbaren Weg aus. Auf diesem könnte das Golderz von Hainzenberg über den Gerlospass zu den Großschmelzen in Mühlbach und Lend gekarrt werden. So entstand
die alte Gerlosstraße aus einer kriegerischen Auseinandersetzung wegen des Goldes.«
»Bravo«, sagte Groll. »Da werdens blöd gschaut haben, die rinnerten Inntaler.«
»In der Folge seien es drei Sippen von Großgewerken gewesen, die den Edelmetallbergbau in den Tauern kontrollierten. Monopole seien keine neue Erfindung« sagte der Dozent. »Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wurde von über 800 Kilogramm Gold und fast 3000 Kilo Silber berichtet, die während eines Jahrzehntes gefördert wurden! Da die Gewerken aber darauf verzichteten, neue Stollen abzuteufen und die vorhandenen Erzgänge irgendwann erschöpft waren, kam der Goldbergbau nach hundert Jahren zum Erliegen.«
»Ja, mei«, sagte Groll.
Der Dozent sah Groll streng an.
»Ich hab gedacht, man redet alldahier so«, sagte der zur Entschuldigung. »Integration is eine Bringschuld der Zuagrasten. Zumindest in Österreich. Also red ich halt bayrisch oder obertaurisch oder wie das da heißt. Ich will ja nicht in einem abgelegenen Asylantenheim verhungern und von Sebastian Kurz in Deutsch unterricht werden.«
Er lasse den notwendigen Ernst vermissen, erwiderte der Dozent streng. »Wir sind hier nicht in einem bayrischen Bierkrimi.«
»Dann eben fei net«, erwiderte Groll. »Jetzt tät i aber gern eine Brotzeit macha. Wo gibt’s denn da ein Biergartl, ein saubers?«
Der Dozent schüttelte den Kopf und klärte Groll darüber auf, daß es im 19. und 20. Jahrhundert Versuche gab, den Goldbergbau wieder aufzunehmen, ernsthafte Bemühungen habe es aber dann unter den Nazi gegeben.
»Ja, die Nazi-Bazi!« rief Groll. »Die ham halt überall a Remmidemmi gemacht, die verruckten. Die ham sogar die Berge missioniert.«
»Schon zwei Wochen nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde der Goldbergbau wieder aufgenommen«, erzählte der Dozent. »Aber vergeblich, die Stollen mußten zu tief abgeteuft werden, der Gewinn stand in keinem vertretbaren Verhältnis zu den Kosten.«
»Des war er bei den Nazi nie«, meinte Groll. »Außer beim Zahngold der armen KZ‘ler. Da habens ein Geschäft gemacht, die tapferen Preißen und die braunen Bayern und ihre depperten Nazihilfstruppen aus Tirol, Salzburg und Kärnten. Die vereinigten Bergnazi. Da hams den wehrlosen das Gold aus der Goschen geschlagen.«
Der Dozent nickte. Und er fuhr fort: »Das einzige, was die Nazi im Tauern-Bergbau zusammengebracht haben, war der sogenannte »Pasel-Stollen« in Gastein, benannt nach einem Referenten im damaligen Reichswirtschaftsministerium. Heute heißt er ‚Gasteiner Heilstollen‘ und dient als Radon-Therapiestation für Rheumakranke.«
»Gut, daß die Graberei vorbei is‘« sagte Groll.
»Sie werden lachen«, sagte der Dozent. »Seit 2006 führen eine Londoner und eine kanadische Firma Goldbohrungen im Lungau durch. Darüber hinaus werden aber auch Nebenprodukte wie Kupfer und Silber gewonnen. Die steigenden Rohstoff- und Goldpreise lassen schöne Profite erwarten. Der Salzburger Geologie-Papst Werner Paar glaubt zu wissen, daß ein Großteil des Goldes noch im Berg lagert. Und 2011 wurde mit Probebohrungen auf 1700 Meter Höhe im Rotgüldengebiet begonnen. Gearbeitet wird in zwei Schichten von 6 bis 22 Uhr. Die Bohrung soll bis in 300 Meter Tiefe geführt und das Gestein auf Silber, Kupfer, Blei und Zink untersucht werden.«
»Von mir aus«, sagte Groll. »Wann hört jetzt nacha der blede Regn auf?«
»In diesen Breiten hört der Regen niemals auf. Never ever, wenn Ihnen das etwas sagt«, erwiderte der Dozent.
»Aye Aye«, sagte Groll. »Dann wern mir halt a Runde schlaffa«. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloß die Augen.