Unter den populären literarischen Genres dürfte Fantasy bei aufgeklärten Lesern wahrscheinlich den schlechtesten Ruf genießen. Über Gothic und Horror finden Psychoanalytiker immer etwas Schlaues zu sagen; und Science Fiction müssen Linke einfach schon deswegen gut finden, weil es da um Maschinen und Zukunft geht und also um Utopie (oder, noch besser, um furchtbar kritische Dystopien). Fantasy aber ist so peinlich wie sein musikalisches Pendant, der Heavy Metal. Beides richtet sich, so der allgemeine Konsens, an in der Pubertät steckengebliebene Jungmänner, die harte, rauhe Kerle in Leder brauchen, um auszuagieren, was ihnen ansonsten versagt bliebe. Ob nun Gitarrensolo auf der zwischen die Beine geklemmten Stratocaster oder der edle Ritter, der die Jungfrau aus den Klauen des Bösewichts befreit, beides riecht allzu deutlich nach Masturbationsphantasie, und die bliebe doch bitte lieber im stillen Kämmerchen.
In der Tat fällt es auf Anhieb schwer, eine Gattung ernst zu nehmen, in der es Elfen, Zwerge und kleine, gutmütige flauschige Wesen gibt und tapfere Helden beständig die Welt vor zauberischen Erzhalunken retten. Allerdings ist die Kritik dann auch danach. Von löblichen Ausnahmen abgesehen, fällt ihr selten mehr ein als das gute alte Eskapismus-Verdikt. In seinem großen Fantasy-Verriss in der Zeitschrift konkret etwa geißelte Kay Sokolowsky die Tolkiens & co. dafür, sie würden ihren Lesern Figuren anbieten, auf die sie, zur Freude der Herrschenden, die Wut übers reale Elend richten könnten. Nun ist zwar fraglich, ob das wirklich wer tut, auf die Mieterhöhung mit »Sauron, der Schuft« zu reagieren; aber wenn doch, würde es allemal einen zivilisatorischen Fortschritt bedeuten, wenn lieber Orks und Goblins gehasst werden als Juden, Ausländer oder »Amerika«. Und überhaupt, wie schon Altmeister Tolkien sagte: Wer hat was gegen Flucht, wenn nicht der Wächter?
Vielleicht aber ist ohnehin mehr an Fantasy, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sokolowsky selbst nimmt von seinem Verdikt George R. R. Martins A Song of Ice and Fire (dt.: Ein Lied von Eis und Feuer) explizit aus, und damit ist er nicht alleine. Martins geplante Heptalogie, von der bislang fünf Bände erschienen sind, und die auf ihnen basierende HBO-Fernsehserie Game of Thrones wurden von der Kritik gefeiert, das Genre neu zu definieren, gar in den Rang großer Literatur zu erheben. Daraus spricht, wie Ned Vizzini in Beyond the Wall schreibt, zweifellos auch das Legitimationsbedürfnis gutbürgerlicher Kritiker: Wenn sie so etwas Anrüchigem ihre Anerkennung schon nicht versagen können, dann soll es doch bitte nicht wirklich bloß Fantasy sein. ASOIAF, wie das in Fankreisen übliche Kürzel lautet, aber ist, wie ein Blick aufs Setting verrät, ganz zweifellos genau das.
Die Handlung spielt in einer dem europäischen Mittelalter nachempfundenen Welt namens Westeros, in der, einige Jahre vor Beginn der Handlung, ein Bündnis mehrerer der mächtigsten Adelsfamilien das alte Herrschergeschlecht gestürzt und durch einen neuen König ersetzt hat. Die langsame Erosion jenes Bündnisses mündet schließlich in einen veritablen Erbfolgekrieg nach Vorbild der britischen Rosenkriege. Um die Häuser, die sich als Antipoden gegenüberstehen (das eine, die Lannisters, klassisch machtbesessen, das andere, die Starks, mehr nach dem Motto ›mäßig reich aber ehrlich‹), und deren zahlreiche Mitglieder gruppiert sich ein Großteil der Handlung. Parallel dazu erzählt wird die Geschichte der letzten lebenden Nachfahrin des gestürzten Königs, die sich, als Teenager von dreizehn Jahren, im überseeischen Exil daran macht, ihre abgeschlachtete Familie zu rächen und den Thron eines Landes zurückzuerobern, in das sie nie zuvor einen Fuß gesetzt hat. Ein weiterer Handlungsstrang schließlich spielt an der Mauer, einer gigantischen, vor Tausenden von Jahren im äußersten Norden errichteten Eisbarriere, die nicht nur vor den dahinter lebenden räuberischen Stammesverbänden schützt, sondern auch (was freilich kaum einer in Westeros mehr ahnt) vor den so genannten Anderen – einer rätselhaften Rasse von Eiswesen, die die von ihnen Getöteten als Zombies wieder zum Leben erwecken können.
Bemerkenswert für einen Fantasy-Roman ist dabei, wie sehr das Übernatürliche, das sonst im Zentrum steht, bei Martin nur an den äußersten Rändern auftaucht, in entfernten Regionen und Legenden aus der Vorzeit. Die Drachen, mit denen einst Westeros erobert wurde (weil deren Feuerkraft, recht prosaisch, auf die mittelalterlichen Ritterarmeen wie der Abwurf einer Atombombe wirkte) sind längst ausgestorben, und für die aufgeklärten Eliten des Königreichs erscheinen seither Geschichten über Monster, Zauberei und Prophezeiungen bloß als belächelnswerter Aberglaube. Die Triebkraft der Handlung bilden nicht metaphysische Verheißungen, sondern das Spiel um die Macht, und was dabei zu erwarten steht, weiß die Leserin spätestens, wenn Jaime Lannister, der Schwager des Königs, den neunjährigen Sohn der Starks aus einem Turmfenster stößt, nachdem dieser ihn beim Ehebruch mit seiner Zwillingsschwester, der Königin, überrascht hat.
Für Martins Stil hat man, basierend auf Szenen wie dieser, das schöne Etikett »gritty realism« gefunden (das mit »rauher Realismus« nur äußerst unzureichend übersetzt ist). Es zielt auf zweierlei: Zum einen auf die fleischliche Drastik, die quer zur üblichen Keuschheit des Genres steht. Perversionen werden so explizit geschildert wie abgeschlagene Glieder, und der Krieg ist nicht bloß ein heroisches Geschehen, sondern lässt en masse an Leib und Seele verstümmelte Menschen zurück. Zum anderen aber darauf, dass der Sieg der Guten eben nicht vorab garantiert ist – weswegen sich niemand sicher sein kann, ob der archetypische weiße Ritter wirklich das nächste Kapitel überlebt.
Deswegen, und weil Martin auch seinen Schurken menschliche Züge verleiht, wird gerne betont, Martin subvertiere die manichäische Zweiteilung in ›gut‹ und ›böse‹, wie sie die Fantasy üblicherweise prägt. Das freilich ist nicht im Sinne eines moralischen Relativismus zu verstehen. Ganz zweifellos kommen so eindeutig gute wie (weitaus zahlreicher) eindeutig grauenvolle Akte vor, und wenn die ersteren nicht automatisch zum Erfolg führen, sind damit die letzteren noch lange nicht vom Autor vindiziert; auch die Schurken scheitern schließlich mit ihren ausgefeilten Intrigen regelmäßig an der Unberechenbarkeit der Welt. Moral ist vielmehr vor allem deshalb problematisch, weil sie noch in ihren höchsten Tugenden – Ehre, Loyalität, Schutz der Schwachen – zugleich Signum der Herrschaft ist. Für das ritterliche Handeln ihrer Fürsten zahlen den Preis vor allem die, die über keinerlei Entscheidungsgewalt verfügen. Fest steht daher nur: Westeros ist in der Regel kein guter Ort für gutes Leben.
Fraglich ist ohnehin, wie weit man mit dem Topos der Subversion kommt. Genausogut und besser ließe sich sagen, Martin führe vor, welches Potential in dem Genre steckt. Das besteht nicht zuletzt in der Resurrektion einer eigentlich unmöglich gewordenen Gattung: des Epos. Fantasy lebt vom Vorrang der Außen- über die Innenwelt, von dessen Reichtum und Stimmigkeit; von genau jener sinnhaften Totalität, die das Epos, im schroffen Gegensatz zum Roman, seit jeher besang. Die seitenlangen Beschreibungen der Schiffe in der Ilias, der Kleider im Nibelungenlied finden daher in Martins detaillierten Schilderungen von Waffen und Rüstungen, Wappen und Festessen ihren Widerhall. Kein anderes Genre, in dem Fans zu Unterhaltungszwecken ausführliche Appendices mit geschichtlichen Daten und Stammbäumen studieren würden, und die A Song of Ice and Fire gewidmeten Websites diskutieren den Stoff nicht bloß in Hinblick auf unaufgelöste Rätsel und zukünftige Plotpoints, sondern auch auf die Soziologie von Westeros. (Einige solcher Essays hat die elaborierteste dieser Fanseiten, Tower of the Hand, jüngst sogar als e-book erscheinen lassen.)
Die Übermacht des Faktischen wird bei Martin gerade auch in der Gestaltung seiner Figuren thematisch. Dass die Protagonisten, aus deren Sicht er die Geschichte erzählt, allesamt dem Adel angehören, gehört dazu: Subjektivität, heißt das, ist ein Privileg. Und nicht einmal das führt weit. Die Handlungsfähigkeit aller Figuren wird beständig relativiert von der Objektivität, der sie unterworfen sind: den Zwängen von Alter, Familie, Status und Geschlecht, den Hinterlassenschaften der toten Geschlechter. Jede einzelne Figur wird so quasi als behavioristisches Experiment entworfen, als Modellfall biographischer Wahrheit: Wie gelingt es Frauen, auch unter ultrapatriarchalen Verhältnissen ein Minimum an Macht zu behaupten – durch Übererfüllung ihrer Geschlechterrolle oder in der Rebellion dagegen? Was geschieht, wenn man einen verzogenen präpubertären Bengel mit unbeschränkter Macht ausstattet? Wieviel an Spott und Verachtung schluckt man als missgestalteter Krüppel, von seiner Familie, von deren Macht und Reichtum man vollkommen abhängig ist? Wozu sind, ganz allgemein gesprochen, Menschen im Guten wie im Bösen fähig?
Man könnte denken, dass die Konzentration aufs Stoffliche, die Fantasy kennzeichnet, der Verfilmung entgegenkommt. Aber es ist kein Zufall, dass erst mit Jacksons Lord of the Rings ein erfolgreicher Fantasyfilm entstand. Fabelwesen sind aufwendig und teuer. Auch Game of Thrones, der Fernsehserie zu A Song of Ice and Fire (dessen jeweilige Staffeln bislang grob einem Band entsprechen), sind die budgetären Zwänge anzumerken. Die Macher müssen sich auf, an der Vorlage gemessen, wenige, dafür aber umso eindrücklichere Schlösser, Schlachten oder magische Wesen beschränken. Schwerer wiegt freilich, was am Epos selbst der Visualisierung widerstrebt. Ein Buch hat Raum für die Aufspaltung in zahllose Handlungsstränge, für geographische und ökonomische Daten, für die individuellen wie kollektiven Geschichten; ein Film, selbst eine Serie, pro Szene nur wenige Minuten. Vieles muss daher vereinfacht, verschmolzen oder weggelassen werden. Nichts aber schadet einem Epos mehr als Diminuierung.
Groß ist die Serie daher da, wo ihr die epische Grandezza gelingt; oder aber, wo sie am Kleinen ihre Substanz findet – in den intimen Interaktionen der fast durch die Bank hervorragenden Schauspieler. Wofür sie hingegen noch keine überzeugende Lösung gefunden hat, ist der Rahmen, in den die vielen Einzelnen eingespannt sind: eben das Lied, das der Buchtitel nennt. Denkbar, dass es im Medium des Fernsehens dafür auch keine gibt. Das sollte freilich niemanden vom Gucken abhalten: am besten noch vor der Lektüre. Denn um ein Epos zu lesen, weiß man eh am besten schon vorher, wie es ausgeht.