Symbolische Wahrung des Scheins

Günther Jacob zur Dramaturgie des politischen Skandals.

Es gehört zu den gängigen offiziellen Selbstdarstellungen, »Wirtschaft« und »Staat« seien grundsätzlich rationale und transparente Veranstaltungen, und Grundstücks-, Finanz- und Immobiliengeschäfte zwischen Staat und einflussreichen Investoren daher frei von »unlauteren« Absprachen. Es gehört zugleich zum pragmatischen Zynismus vieler Staatsbürger, denen die Mittel zu Geschäften im großen Stil fehlen (denen die Nützlichkeit von Beziehungen aber durchaus vertraut ist), »die da oben« machten in Wirklichkeit gerade was sie wollen und begünstigten sich schamlos gegenseitig. Auf dieser Konstellation beruht die Dramaturgie des politischen Skandals. Um einen »Skandal« handelt es sich offenbar dann, wenn bekannt wird, was alle erwartet hatten. Es geht dabei also um die symbolische Wahrung des Scheins. In jedem Skandal werden die Grenzen des »informellen« politischen Handelns neu ausgelotet. Und die Angst vor einem Skandal nötigt Politiker, wenigsten den Anschein zu wahren, dass alles »mit rechten Dingen« zu geht. Darauf kommt es in einer Gesellschaft, die ihre geschäftlichen Transaktionen nach bestimmten vertraglichen Regeln abwickeln MUSS, durchaus an. Dass »Connections« dabei eine wichtige Ressource sind, ist allgemein anerkannt. Gegen die Hartherzigkeit vieler Korruptionsgegner muss daran erinnert werden, dass allein »Beziehungen« für Ausgegrenzte und Verfolgte oftmals die einzige Chance waren und sind. In der sozialen Wirklichkeit kommen sie allerdings erst in Verbindung mit realem Kapital und mit realer Macht so richtig zum Tragen. Die Grenze der Ausnutzung »guter Beziehungen« wird dabei üblicherweise durch normative Regeln und durch einen öffentlichen Diskurs gezogen, der in allzu offensichtlicher Klüngelwirtschaft eine Verletzung dieser Normen sieht, die schlimmstenfalls in krimineller Korruption enden kann. Der staatsbürgerliche Diskurs ist dabei auch durch die Sorge bestimmt, dass, wenn Politik und »Investoren« großzügig öffentliche Mittel verschieben, das allgemein anerkannte »Leistungsprinzip« gerade von jenen »Eliten« unterlaufen wird, die ständig behaupten, durch mehr »Leistung« könnten alle jederzeit ihre Lage verbessern. Hinzu kommt, dass durch Absprachen »hinter den Kulissen« der ohnehin wackelige Glaube an die Möglichkeiten »demokratischer Mitwirkung« und angeblich erwünschter »Bürgerbeteiligung« zu sehr erschüttert wird. Der Staatsbürger, der alle vier Jahre stolz darauf ist, mit seiner »Stimme« am großen Rad der Politik mitzudrehen, möchte sich diese Illusion nur ungern nehmen lassen. Diskutiert wird das Thema daher lieber an ausländischen Beispielen: »Die Parteien decken sich gegenseitig und sorgen dafür, daß keine Details an die Öffentlichkeit kommen« (FAZ-Bericht über Indien, 20.5.07).

»Beziehungen« sind also ein Moment jeder Tauschbeziehung, und Klientelismus (»Beziehungen« im größeren Maßstab) ist zu jedem Zeipunkt ein Moment »informeller« Politikmacherei. Erst in der Gestalt justiziabler Korruption wird daraus eine »problematische Grauzone«. Die Dramatisierung bestimmter »informeller« Absprachen, z.B. von Grundstücksgeschäften zwischen Staat und Privaten, gelingt allerdings nur unter bestimmten Bedingungen: Da der Übergang von »normalen« zu sanktionsfähigen Formen des Klientelismus grundsätzlich fließend ist, kommt ein »Skandal« nur zustande, wenn sich z.B. eine Partei damit profilieren kann (bzw. WILL) oder wenn eine einflußreiche konkurrierende Firma daraus einen materiellen Vorteil ziehen kann. Ein politischer Skandal ist nicht zu erwarten, wenn bei bevorstehenden Wahlen schon vorab bestimmte Koalitions-Optionen abgesprochen sind.

Wenn in noch nicht entschiedenen Konstellationen die Konkurrenz um die politische Macht offensiv ausgetragen wird, kommt es zeitweise zu aggressiven Wahlkämpfen, in denen sich die Parteien wechselseitig »Filz« und korrupte Praktiken vorwerfen. Auf der Suche nach skandalisierbaren Themen ist ihnen dann jeder reaktionäre Stoff willkommen – von der »Bettlerplage« in der Innenstadt bis zur »Überfremdung«. Auch für die angeblich ausufernde Kriminalität machen sich Parteien dann gerne gegenseitig verantwortlich. In solchen Zeiten gelangen die meisten »Affairen« in die Medien: Immobilenskandale, Bestechlichkeit von Beamten und Politikern, Aktienspekulationen von Staatsunternehmen.

Ganz anders ist es, wenn angesichts unklarer Mehrheitsverhältnisse schon vorab mögliche Koalitionen sondiert werden. Dann entsteht die Situation einer vollkommenen Geschlossenheit des politischen
Systems. Die Parteien schonen sich gegenseitig und die Medien gehen unter Berufung auf eben diese parteipolitische Geschlossenheit jedem potentiellen politischen »Skandal« von sich aus dem Weg. Solange sich in der Politik und in der Wirtschaft niemand findet, der aus Gründen der Konkurrenz eine bestimmte Maßnahme der Mehrheitspartei skandalisieren will, unternehmen sie nichts, was sie unter diesen Bedingungen nur selbst ins Abseits stellen würde. Sie brauchen eine sprechmächtige Instanz, die ihnen BESTÄTIGT, dass ein bestimmtes Ereignis ein Skandal IST. Wo dies nicht gegeben ist, behilft man sich daher mit Pseudoskandalen vom Kaliber »Hund beißt Mann«.

An die Stelle einer solchen Instanz kann unter Umständen noch der »empörte Steuerzahler« treten. Mit dieser fiktiven Figur kann ein virtueller Antagonismus zwischen »denen da oben« und dem »ehrlichen« Bürger konstruiert werden. Doch »der Steuerzahler« ist in Wirklichkeit ein Reaktionär. Er ist der Staatsbürger, der sich als letzte »ehrliche Haut« inszeniert, als der übervorteilte »Dumme«, der als letzter mit ehrlicher Arbeit und treuer Zahlungsmoral die Volksgemeinschaft aufrechterhält, während alle anderen nur an sich selbst denken. Der »Steuerzahler« ist der Untertan, der nur aufmuckt, um andere zu disziplinieren. Und er ist selbstverständlich ein Privatisierungsbefürworter und Befürworter von Haushaltskürzungen, weil er alles gut findet, was angeblich Steuern sparen hilft.