40 Jahre Entebbe

David Hellbrück bespricht einen neuen Sammelband mit Texten zur Flugzeugentführung von 1976, an dem sich der aktuelle Umgang mit linkem Antisemitismus zeigt.

Rechtzeitig zum 40. Jahrestag der Flugzeugentführung durch das Kommando Che Guevara erschien im Münsteraner Unrast-Verlag eine etwa 400 Seiten starke Investigativschrift gegen das angebliche »Selektionsnarrativ«. Wie der Titel, Legenden um Entebbe, bereits verrät, soll den ‚Legenden‘, die sich seither um Entebbe drehen, auf den Zahn gefühlt werden. Da die »außerinstitutionellen Linken«, zu denen sich auch der Herausgeber (Markus Mohr) rechnet, durch das »Establishment« politisch geächtet seien, will er das »Narrativ« aus einer linken Perspektive untersuchen. Dies sei entscheidend, denn daran ließe sich messen, ob die Neue Linke antisemitisch genannt werden kann oder nicht. Folgende Leitfrage wird an die Leserschaft gerichtet: »Kann Entebbe – wie vielfach behauptet – als ultimativer Beweis für den Antisemitismus der westdeutschen Linken gelten?« Zwar leugnen die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes nicht die Grausamkeit der Entführung, doch die terroristische Aktion wird – wie der Untertitel unschwer erkennen lässt – euphemistisch als »Akt der Luftpiraterie« tituliert. Hier drängt sich bereits der Eindruck auf, dass den Terroristen außerordentlich viel Sympathie entgegengebracht wird. Von der Beantwortung der oben genannten Frage hänge schließlich ab, ob der »Akt antisemitisch war oder eben nicht«, ob »Linksrevolutionäre« über zwanzig Jahre nach der militärischen Niederlage Deutschlands »genauso wie Nazis« handelten. Von einer Selektion, so Mohr, wäre aber erst dann zu sprechen, »wenn nachgewiesen werden kann, dass seitens der Luftpiraten eine vollständige Erfassung aller jüdischen Passagiere aus dem Flugzeug realisiert werden sollte und in Angriff genommen worden ist.« Entlang dieses Kriteriums soll der Neuen Linken attestiert werden, was bereits in der Einleitung suggeriert wird: dass sie nicht antisemitisch sein kann, weil sie es nicht sein darf.

Anhand zahlreicher Stellungnahmen, von denen der »orthodoxen Kommunisten« über Kassiber der Revolutionären Zellen (RZ) und anderen Splittergruppen der Neuen Linken in den 1970er Jahren, soll gezeigt werden, dass von einem antisemitischen »Akt« nicht die Rede sein kann. Bereits der permanente Verweis darauf, dass es sich um einen Akt handele – also ein für sich stehendes, isoliertes Ereignis, das mit nichts anderem in Verbindung gebracht werden kann –, lässt die naiv gestellten Fragen, die der Herausgeber an die Leserschaft richtet, zu Suggestivfragen verkommen. In der Einleitung schlägt Mohr denn auch vor, von der »Separation von Flugzeugpassagieren« zu sprechen, statt von einer Selektion – zu sehr wären damit die Assoziationen an die »Todesfabrik in Auschwitz« geweckt.

Dieses Buch soll trotz der akademischen Akribie, mit der man den Fußnotenapparat bestückt, keinem wissenschaftlichen Zweck dienen. Vielmehr soll der vorliegende Band laut Mohr, »einen reflektiert-freien Beitrag zu dem spätestens seit dem 30. Januar 1933 zwischen Deutschen und Juden gestörten Verhältnis leisten.« Und hier spricht er mehr oder minder unfreiwillig ein Körnchen Wahrheit aus. Denn frei von Reflexion ist bereits dieser Satz, unterstellt Mohr hier, fern jeder Erkenntnis und ganz geschichtslos, dass die Juden mit den Deutschen irgendein freiwillig-gestörtes Verhältnis eingegangen wären – etwa gleich einem Vertrag, der die Juden zur Verfolgung und schließlich Vernichtung durch die deutsche Volksgemeinschaft bestimmte und in Übereinkunft zweier ‚Willenserklärungen‘ geschlossen wurde.
 
Was in der Einleitung nur apodiktisch behauptet wird, wird im ersten Beitrag Unternehmen Entebbe. Quellenkritische Perspektiven auf eine Flugzeugentführung von Alexander Sedlmaier und Freia Anders werden argumentativ eingeholt. Die beiden Autoren versuchen durch die stipulierte Trennung von Antisemitismus, der die »Kategorien von Rasse oder Religion« erfüllen müsse, und der »Israelkritik« oder dem »Anti-Zionismus«, die sich – aus der Perspektive der Autoren legitimerweise – gegen den israelischen Staat richten, zu beweisen, dass es sich bei der Selektion der Geiseln um keine antisemitische Aktion handelte. Indem eine »Aufteilung der Geiseln nach Staatsbürgerschaft vorgenommen wurde«, sei erwiesen, dass Antisemitismus nicht das Kriterium für die Selektion darstellte. An keiner Stelle wird erwähnt, dass damals schon die Selektion von Teilen der RZ als »bürgerliche Medienpropaganda« geleugnet wurde. Die gemeinsame Aktion der Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, PFLP) und der zwei Gründungsmitglieder (Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann) der RZ halten die beiden Autoren, vermutlich um ihr eigenes Gewissen zu entlasten, zwar für »moralisch fragwürdig« und es handelte sich auch um eine »politisch-moralische Problematik«, doch möchten sie gerade den Antizionismus nicht weiter ins Zentrum der Kritik rücken. Indem bestimmt wird, dass der Antisemitismus die Kriterien der »Rasse oder Religion« erfüllen müsse und sie hervorheben, dass auch jüdische Passagiere glücklicherweise aus der Geiselnahme entkommen konnten, wollen sie der Neuen Linken, die noch vor dem Sechstagekrieg durch eine israelsolidarische Grundhaltung gekennzeichnet war, attestieren, dass vom Antisemitismus der Neuen Linken keine Rede sein kann. Doch, dass der Antizionismus die Fortführung des Antisemitismus mit anderen Mitteln ist, oder anders ausgedrückt: die geopolitische Reproduktion des Antisemitismus (Initiative Sozialistisches Forum) darstellt, wird beständig umkurvt. Stattdessen kann ohne weitere Begründung einer ‚Israelkritik‘ das Wort geredet werden, die sich Seite an Seite mit dem sozialistischen Kampf gegen die israelische ‚Besatzungsmacht‘ wähnt. Der Antizionismus findet seine Rechtfertigung (nicht nur hier) qua existentia. Als aussagekräftiger Beleg dafür, dass es sich um keinen Antisemitismus gehandelt habe, führen die beiden Autoren die Tatsache an, dass die Geiseln gezwungen wurden, vorgedruckte Fragebögen (mit dem Briefkopf der PFLP) auszufüllen. Die Geiseln waren verpflichtet, ihren Namen, Geburtsjahr und -ort, Staatsangehörigkeit, Wohnort, Beruf sowie Abflug- oder Zielflughafen anzugeben. Über einen ugandischen Radiosender verkündete die PFLP, dass sie Idi Amins (der damalige ugandische Diktator) Vorschlag, alle nicht-israelischen Geiseln freizulassen, akzeptierten. Für die Autoren gilt dies als Beweis, dass nicht anhand von »Rasse oder Religion« unterschieden wurde. Auch sei fraglich, ob anhand der Beantwortung der Fragen entschieden wurde, wer das Terminal in Entebbe, nachdem die Terroristen die Landung des Passagierflugzeugs in Uganda erzwangen, verlassen durfte und wer zu bleiben gezwungen wurde. Doch ist die Frage völlig unerheblich, drückt sich gerade hier das antisemitische Ressentiment aus: Wer Jude ist, bestimmt nicht etwa das Subjekt selbst, sondern liegt stets in der Hand des Antisemiten. Die Betroffenen des Antisemitismus konnten sich der Selektion überhaupt nicht entziehen, jedes Verhalten, ein für oder wider, ist völlig gleichgültig; irrelevant für den Antisemiten, der seinem »gesellschaftlichen Wahn« (Gerhard Scheit) erliegt und sich gleichsam für ihn entscheidet. Keine Geisel konnte wissen, ob sie sich durch die Angabe einer anderen Nationalität als der Israelischen aus den Klauen der Geiselnehmer befreien konnte. Hingegen bestimmt die durch Selektion exerzierte Verfügungsgewalt der Geiselnehmer über Leben und Tod der Israelis. Die Terroristen spielen mit jener Allmacht, die in der pathischen Projektion der Antisemiten den Juden zugeschrieben wird. Hier findet sich seine Bestätigung, worauf Jean-Paul Sartre einmal so eindringlich hinwies: dass das Schicksal Jude zu sein, unabhängig von der persönlichen Entscheidung bestehe. Es ist der Antisemit, der darüber entscheidet, wer Jude zu sein hat und wer nicht. Geradezu zwanghaft, wie für die Linke üblich, wird ausgeblendet, dass Israel, der Staat der Juden, Zufluchtsstätte ist und sich gerade dadurch von anderen Nationalstaaten unterscheidet; letztlich ist Israel Garant dafür, dass Juden, auch jene in der Diaspora, zumindest nicht mehr ganz wehrlos verfolgt werden können. Dass entlang der israelischen Staatsangehörigkeit selektiert wurde, wer weiter in Geiselhaft auszuharren hat und damit der permanenten Tötungsbereitschaft der Geiselnehmer schutzlos unterstellt ist, darüber konnten die Geiseln selbst nicht entscheiden: Sie waren ihrem Schicksal, Jude oder auch Israeli zu sein – ob sie wollten oder nicht – ausgesetzt. Die Entführer entschieden, wer als politisches Faustpfand und – so die Logik jedes Geiselnehmers – auch für den Tod, etwa bei der Erstürmung einer anderen politischen Gewalt, bestimmt ist.1

Sekundiert werden die weiteren acht Beiträge eines Markus Mohr unter anderem durch einen Beitrag von Moishe Zuckermann, welcher der israelischen Politik die »Selbst-Viktimisierung« der Shoah als »hohle Ideologie« vorwirft. Dadurch könne Israel sich vom »Unrecht eigener brutaler Aggression und Gewaltanwendung« entlasten und gleichsam die »Palästinenser immer wieder als ‚Nazis‘» darstellen. Zudem wäre damit die »Okkupationspraxis und die selbstverschuldete [sic!] Gewalteskalation« gerechtfertigt, die »primär mit der Verblendung gegenüber dem unhaltbaren eigenen Handeln und der Harmonisierung von narzisstisch kränkenden Selbstwahrnehmungs-Dissonanzen zu tun« hätte. Beschreibt der Vorgang der Eskalation noch etwas äußerst Unklares, etwa ein mehr oder minder undurchsichtiges Wechselspiel, durch das mutmaßlich ein Konflikt zum Krieg eskalieren könnte, so stellt die »selbstverschuldete Eskalation« ein Oxymoron dar. Denn der Hinweis, dass etwas selbstverschuldet sei, schließt die Wechselseitigkeit aus. Der Vorwurf lautet: Der Staat der Juden trage selbst Schuld am Antisemitismus.

Ein Buch, das dennoch empfehlenswert ist, liefert es ausreichend Material für Kritik und lässt den Leser – im schlechtesten Sinn – in eine (sozialistische) Welt vergangener Tage eintauchen.


Markus Mohr (Hg.): Legenden um Entebbe.
Ein Akt der Luftpiraterie und seine Dimensionen in der politischen Diskussion.
Münster 2016, 400 Seiten, 19,80 Euro.

 

[1] Was die Entführer des Kommandos Che Guevara von ‚gewöhnlichen Entführern‘ unterscheidet, ist selbstredend das Moment der Selektion. Nur jene, die für Juden gehalten wurden, sollten dem möglichen Tod ausgesetzt werden.