Sie sehen das völlig anders

Corey Gil-Shuster betreibt seit mehreren Jahren in Israel ein Videoprojekt, bei dem er Interviews zum israelisch-palästinensischen Konflikt führt. Claus Harringer hat ihn via E-Mail und Skype dazu befragt.

Versorgerin: Sie sind als kanadischer Jude in Ottawa aufgewachsen, dann nach Israel gezogen und wurden 1995 israelischer Staatsbürger – also nur wenige Jahre nach der ersten Intifada und kurz nach den Osloer Abkommen. Was war Ihre Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts in Kanada? Hat sie sich nach dem Umzug nach Israel fundamental geändert und wenn ja, in welcher Hinsicht?

Gil-Shuster: Meine Wahrnehmung des Konflikts, bevor ich nach Israel kam – und auch noch einige Jahre, als ich bereits hier lebte – war, dass ich nicht verstand, worum es dabei tatsächlich ging. Ich wusste, dass Israelis Frieden wollen (das sagen sie zumindest) und Araber_innen keinen Frieden wollen. Aber als Kanadier konnte ich das nicht glauben. Wie kann jemand nur KEINEN Frieden wollen? Es musste Rassismus oder Vereinfachung sein, was Juden/Jüdinnen in Kanada und Israel dazu brachten, zu glauben, dass Araber_innen keinen Frieden wollten. Wenn sie nur wüssten, wer wir sind, würden sie uns mögen. Als ich schon in Israel lebte, lernte ich auch nicht wirklich viel über den Konflikt selbst. Ich musste die Sprache lernen, sowie Kultur, Gesellschaft und Mentalität kennenlernen. Ich las Zeitungen auf Englisch und einige Bücher über den Konflikt, um ihn zu verstehen, aber da gab es einfach so viele Elemente, die für mich als Kanadier nicht zusammenpassten und keinen Sinn ergaben. Ich war mit einem Israeli verheiratet und verbrachte viel Zeit mit seiner Familie. Sobald es einen Terrorangriff gab, sprachen sie über die Palästinenser_innen. Abgesehen davon wurden sie kaum erwähnt. Die Familie meines Mannes hat palästinensische Verwandte in Gaza und selbst über die wurde selten gesprochen. Manchmal hörte ich, was Leute über den Konflikt mit den Palästinenser_innen denken, meist aber wird darüber nicht geredet. Dann adoptierten wir ein Kind und zur selben Zeit brach die zweite Intifada aus. Wir entschieden uns, Israel zu verlassen – ich war zu gestresst von der täglichen Gewalt. Wir gingen nach Kanada und ich entschied mich, ein Masterstudium in Konfliktstudien zu beginnen, um zu verstehen, was ich in Israel erlebt hatte und was die Palästinenser_innen wollten.

Versorgerin: Wann und wie kam die Idee zum »Ask-Projekt«? Was waren die Beweggründe und worum geht es dabei?

Gil-Shuster: 2010 gingen wir nach Israel zurück, wo ich eine Zeit lang keine Arbeit fand. Ich unterhielt mich online mit Außenstehenden über den israelisch-palästinensischen Konflikt via Facebook und andere Medien. Leute stellten Behauptungen über Israelis auf, die in nichts mit dem übereinstimmten, was ich erlebt oder gehört hatte. Dabei verwiesen sie immer auf irgendein Youtube-Video oder einen Artikel, um ihre Aussagen zu stützen. Irgendwann hatte ich wirklich genug von den verrückten Behauptungen Außenstehender über Israelis und erklärte einer dieser Personen, dass sie sich komplett täuschte. Sie antwortete: »Was? Willst du die Israelis einzeln nacheinander befragen?« Ich dachte darüber nach und sagte, dass ich eine Videokamera hätte und sie mir nur eine Frage geben müsste, damit ich losgehe, um Leute zu bitten, sie zu beantworten. Niemand gab mir eine Frage. Es dauerte einen weiteren Monat, bis jemand schließlich eine Behauptung aufstellte und zustimmte, dass ich sie in eine Frage umwandle.1 Ich denke, das Studium von Konflikttheorien änderte meine Sicht auf den Konflikt. Es rückte das, was passierte, in die richtige Perspektive und gab mir Erklärungen, die ich zuvor nicht hatte – vor allem bezüglich der israelischen Seite. Dann begann ich in den palästinensischen Gebieten der Westbank zu filmen und das half, etwas Licht darauf zu werfen, was Palästinenser_innen denken und glauben. Bedauerlicherweise sah ich viel mehr Hass, Paranoia und Fehlinformation auf palästinensischer, als auf israelischer Seite. Das änderte meine Sicht auf Palästinenser_innen stark – zu hören, dass sie Jüdinnen und Juden töten wollen und lächeln, während sie das sagten, als sei das völlig nachvollziehbar, bestürzte mich. Meine Beweggründe waren und sind, die Wahrheit zu finden. Was Menschen denken, was sie glauben, was für Beweise sie für diese Überzeugungen haben, ob ich sie darin herausfordern kann, usw.

Versorgerin: Bei den Fragen, die sowohl an Israelis, als auch an Palästinenser_innen gestellt wurden: Was waren die aufschlussreichsten Erfahrungen?

Gil-Shuster: Ich kenne das israelische Narrativ viel besser – deshalb gibt es für mich nicht viel, was mich überrascht. Bei Palästinenser_innen ist das anders: Oft stelle ich fest, dass sie den Konflikt völlig anders sehen, als ich – nicht nur, weil ich auf der israelischen Seite lebe, sondern auch, weil ich als Kanadier eine Art kanadische Wahrnehmung auf Werte habe. Sie sehen die Situation völlig anders und erwarten, dass sie alle anderen auch so sehen – was aber auf beide Seiten zutrifft. Auf palästinensischer Seite geht es stark um die Erwartung, dass alle anderen verstehen sollen, warum sie mit Gewalt reagieren.

Versorgerin: Sie haben eine Menge sehr verschiedener Leute befragt – haben Sie Unterschiede in den Antworten bezüglich Religion, Geschlecht, Alter usw. gefunden?

Gil-Shuster: Ein klein wenig – sie sind gering, aber es gibt einige Unterschiede. Auf palästinensischer Seite tendieren ältere Menschen dazu, etwas konservativer zu sein. Ich würde sagen, dass alle von ihnen – Männer und Frauen jeglichen Alters – stark vom Islam beeinflusst sind.
So weit, dass es auch für Menschen, die in ihrem eigenen Leben ziemlich säkular – wenn auch nicht atheistisch – sind, das öffentlich nur schwer sagen oder auch nur andeuten können, weil es kulturell nicht erlaubt ist. Es ist – verglichen etwa mit Jordanien oder dem Libanon – immer noch eine recht konservative Gesellschaft. Ich bemerke keinen großen Unterschied zwischen dem, was Männer und Frauen sagen – überhaupt nicht. Tatsächlich sagen Frauen manchmal die extremeren und brutaleren Dinge über Israelis. Ich finde das ein wenig schockierend, aber
das tun sie.
Ich bemerke Unterschiede zwischen Menschen, die in Städten und solchen, die in Dörfern leben – das ist eine weitere Spaltung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Von Leuten, die in Städten leben, wird generell angenommen, dass sie gebildeter sind und einer höheren Schicht angehören (oder wie auch immer man das fassen will) und von Leuten in Dörfern, dass sie tendenziell weniger gebildet sind. Ich habe festgestellt, dass Menschen mit geringerer Bildung interessanterweise viel offener gegenüber Israelis oder der Idee Israels sind, weil sie einen Vorteil darin sehen, mit israelischem Geld umzugehen, für Israelis zu arbeiten, oder – im Falle älterer Menschen – sie über jahrelange Erfahrung verfügen. Menschen, die eher in Ramallah leben und der intellektuellen Schicht angehören, neigen dazu, in ihren Ansichten über Israelis viel extremer zu sein. Sie sind viel häufiger gegen sie, weigern sich, sie zu treffen oder irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben. Das ist der einzige auffällige Unterschied, den ich bemerkt habe.

Versorgerin: Wenn Sie Personen interviewen, haben Sie wahrscheinlich ein Bild im Kopf, wie Sie diese im politischen Spektrum verorten würden. Versuchen Sie, das zu mischen und möglichst breit abzubilden? War es auf palästinensischer Seite schwieriger, ein breiteres Spektrum zu versammeln?

Gil-Shuster: Zunächst muss ich sagen, dass es auf palästinensischer Seite kein wirklich breites politisches Spektrum gibt. Einer der Interviewten sagte in einem Video (und danach ergab es Sinn, wie sich alle verhielten), dass es grundsätzlich zwei Seinsweisen gäbe: Da ist die Seite von Fatah und Palästinensischer Autonomiebehörde, die offen für Verhandlungen mit Israel ist und die der Hamas (und anderer Gruppen), wo die einzige Art, mit der Sache umzugehen, der gewaltsame Kampf gegen Israel ist. Und alle haben einen Fuß in jeder dieser beiden Welten. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sie vielleicht ein bisschen mehr auf der einen Seite, als auf der anderen stehen, aber irgendwie warten sie alle ab, welche am Ende erfolgreicher ist, um sich dann für sie zu entscheiden.

Versorgerin: Auf israelischer Seite gibt es zwischen schwarz und weiß mehr Grautöne?

Gil-Shuster: Ja, zumindest öffentlich. Ich bekomme von Leuten auf beiden Seiten den Eindruck, dass sie über den Konflikt nicht wirklich nachdenken. Sie hören bestimmte Dinge, sie sprechen sie nach – aber sie denken nicht wirklich viel. Aber es gibt mehr Grau-Optionen auf israelischer Seite, das sicherlich. Auch generell gibt es auf israelischer Seite mehr Möglichkeiten, beide Seiten zu sehen – wohingegen die palästinensische Seite kulturell mehr auf Schwarz und Weiß fokussiert ist.

Versorgerin: Zum Abschluss möchte ich fragen, wonach Sie die Leute für die Beantwortung der Fragen auswählen.

Gil-Shuster: Für gewöhnlich suche ich nach Menschen, die nach dem aussehen, was ich »Mainstream« nenne – Leute, die zu »Tel Aviv« oder religiös wirken, ignoriere ich meist absichtlich, weil sie nicht den Durchschnitt darstellen. Die Religiösen und Ultraorthodoxen machen lediglich 10% aus und dann gibt es die Leute, die eine Kippa tragen und nach Siedler aussehen – das sind auch 10-15%. Es hängt auch von der Frage ab: Bei einigen möchte ich tatsächlich ihre Ansicht habe, weil ich sie für interessant halte. Nach Personen, die auf bestimmte Weise wirken, halte ich nur dann gezielt Ausschau, wenn ich etwa beispielsweise zufällig eine Menge rechtsgerichtete Antworten bekommen habe, ich aber weiß, dass es eine große Minderheit gibt, die anders denkt. Dann versuche ich, jemanden zu finden, der/die danach aussieht. Nur um das auszugleichen. Aber das ist recht selten – in 90 % der Fälle sind das völlig durchschnittlich wirkende Leute, bei denen ich nicht weiß, was sie sagen werden. Auf palästinensischer Seite ist es meist die Übersetzerin, die sie auswählt. Wir wissen aber nicht, was sie sagen werden. Und wenn wir dann am Befragen sind, versuchen wir, jemanden auf der Straße anzusprechen, andere auf Universitäten und wieder andere in Geschäften – einfach an unterschiedlichen Plätzen.


Corey Gil-Shuster arbeitet zur Zeit an der Entwicklung einer allgemeineren YouTube-Videoserie über den israelisch-palästinensischen Konflikt, die sich mit dem Verhältnis von beweisgestützten Fakten und Wahrnehmungen beschäftigt.



Zur ausführlicheren englischen Fassung des Interviews

 

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Das »Ask Project«

Bei seinem »Ask Project« fordert Corey Gil-Shuster Menschen weltweit auf, Fragen zum israelisch-palästinensischen Konflikt zu übermitteln. Diese werden dann israelischen Jüdinnen/Juden, israelischen Araber_innen, oder Palästinenser_innen gestellt. Die hebräischen und arabischen Antworten sind mit englischen Untertiteln versehen und inhaltlich ungeschnitten zu sehen. Zweimal pro Woche werden neue Beiträge hochgeladen.

Zu finden sind die zwischen 5 und 20 Minuten langen Videos unter: https://www.youtube.com/user/coreygilshuster. Dort gibt es auch einen Link, über den das Projekt finanziell unterstützt werden kann.

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[1] Dieses erste Video findet sich unter https://youtu.be/g8PTOnH9k2k