Der 5-Jahresplan des Schlafes

Konstantin Melnikows „SONnaia SONata“ oder der kollektive Schlaf für Produktion und Gesellschaft.

Wie ein ermüdeter, transparenter Riesenvogel mit weiten, erschlafften Schwingen scheint das monumentale Schlafhaus „SONnaia SONata“1 (Sonate des Schlafs) des bedeutenden sowjetischen Avantgarde-Architekten der postrevolutionären Zeit Konstantin Melnikow (1890-1974) in seinem Entwurf einer „Grünen Stadt“ gelandet zu sein. Melnikows Projekt war gedacht als Wettbewerbsbeitrag (1929) für eine Stadt der Erholung in der Nähe Moskaus, die rund 100.000 Arbeitern Platz hätte bieten sollen. In Melnikows Entwurf umgaben 12 identische Schlafhäuser das Zentrum der kreisförmigen Idealstadt, die in engem Bezug zur Natur stand und von Grünflächen durchzogen war. 

Die „Grüne Stadt“ entstand in direktem Bezug zum ersten, 1928 beschlossenen 5-Jahresplan, der eine extreme Steigerung der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion in der Sowjetunion zum Ziel hatte und vor allem für die Arbeiterklasse eine enorme Belastung bedeutete. Entsprechend der gesellschaftlichen Doktrin der Zeit ließen sich die wirtschaftlichen Ziele nur durch den Zusammenhalt des Kollektivs und seiner funktionalen Optimierung erreichen. Das Individuum musste in das Kollektiv eingepasst werden, der Einzelne wurde Teil einer gigantischen Maschinerie, in der die industriell-maschinellen Abläufe den Lebensrhythmus dominierten. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine wurden unter dem Stichwort des „Neuen Menschen“ in den 1920er-Jahren wenn nicht negiert so doch zumindest in Frage gestellt.

Melnikows Entwurf für ein Schlafhaus soll in diesem Beitrag exemplarisch für einige wesentliche Überlegungen und Ideen stehen, die mit dem Phänomen des Schlafs in der Moderne verbunden sind. Dabei wird deutlich, dass der Schlaf und seine Rolle für Individuum und Gesellschaft in vielerlei Hinsicht problematisch bis widersprüchlich konnotiert sind.

Ziehen wir uns heute zum Schlafen zurück, ist dies in unserem Verständnis ein höchst individueller, ja intimer Akt. Für die meisten stellt die Schlafphase häufig die einzige Zeit des Tages ohne soziale Interaktion dar, wobei auch hier die Grenze zwischen Wachsein und Schlaf durch die Nutzung virtueller Medien mehr und mehr verschwimmt. Trotz der positiven Wirkung des Schlafs wird dieser als widersprüchlich wahrgenommen: phänomenologisch gibt es eine Nähe zum Tod, während des Schlafs verlieren wir scheinbar die Kontrolle, die Sinne arbeiten gar nicht oder nur eingeschränkt. Spielt das Außen nur noch eine untergeordnete Rolle, so ist der Schlaf zugleich Schauplatz eines autonomen seelischen Geschehens, das höchst individuell geprägt ist. Die Handlungsbreite des Traums reicht vom alltäglichen Geschehen bis zu absurd-surrealen Momenten. Gleiches gilt für die traumhaft imaginierten Räume, die den Handlungsrahmen unserer Träume abgeben. Wie kaum ein anderes Phänomen repräsentiert der Traum ein dem Äußeren enthobenes seelisches Innen. Die Räume (Schlafzimmer), die wir für dafür bereithalten, sind ebenfalls die privatesten, am besten abgeschotteten der Wohnung.

Der scheinbar intentionslose Schlaf gilt als Gegenpol zum aktiven Wachsein und seiner Leistungspotentiale. Bis zum Beginn der Industrialisierung bestimmte der Tag-Nacht-Wechsel ganz wesentlich den täglichen Zyklus der Schlaf- und Wachphasen (Ruhe- und Arbeitsphasen). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden diese scheinbar natürlichen Gegebenheiten durch eine Vielzahl von neuen Bedingungen empfindlich gestört. Den wichtigsten Faktor bildete die Erfindung und der bald flächendeckende Einsatz künstlicher Beleuchtung. Diese machte nicht nur den Lebensraum (zunächst v.a. die Stadt) zu jeder Tageszeit sicher, nutzbar und öffnete ihn unlimitiert für alle möglichen Formen des schlafraubenden Vergnügens. Die beleuchtete Fabrikhalle gestattete Produktion auch in der Nacht. Ein Traum der Unternehmer schien wahr zu werden: die effiziente, durchgehende Nutzung der investierten Produktionsmittel. Nur der Mensch spielte noch nicht ganz mit: der Arbeiter brauchte Ruhephasen, musste sich schlafend erholen. Kein Wunder also, dass die Schlafforschung in den Hochzeiten der Industrialisierung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bestrebt war, die Notwendigkeit des Schlafs der Arbeiter in Frage zu stellen bzw. Wege zu finden, diese zu reduzieren. Am Schlafbedürfnis bürgerlicher, geistig tätiger Personen bestand dagegen keinerlei Zweifel, da sie im Gegensatz zu den fast vegetativ ablaufenden, monotonen Arbeitsabläufen des Maschinenproletariats wirklich anstrengende Gedankenarbeit leisteten. Das Hirn bedurfte der Erholung, die Hände nicht.

Vor allem Industrie und Militär träumten am Beginn der Moderne (eigentlich bis heute) vom optimierten Menschen, der kaum noch Ruhephasen braucht und entsprechend länger in die Produktion oder den Kampf eingebunden werden konnte. Vorstellungen, die aktuell wieder zum Kanon einer weitgehend liberalisierten und entgrenzten Ideologie der Produktion von Waren, Dienst- und Kreativleistungen gehören.

Den Schlaf zu marginalisieren oder gar auszuschalten gelang jedoch nicht. Unsägliche Schlafbedingungen gehörten zu den prekären Lebensumständen des Proletariats, die so negativ waren, dass sie auf Dauer die Produktivität der Arbeiter gefährdeten. Gegengesteuert wurde durch eine sukzessive hygienische und soziale Verbesserung der Wohnbedingungen, wozu auch die Schlafhygiene gehörte. Ging es nach 1900 nicht mehr um die möglichst weitgehende Reduzierung des Schlafs, so befasste man sich nun intensiv mit der Erforschung und Beseitigung von Schlafstörungen. Auch hierbei spielt bis heute weniger philanthropische Sorge um den Mitmenschen als die Aufrechterhaltung von psychischer und physischer Leistungskraft die Hauptrolle. Die entsprechenden Statistiken der Krankenkassen geben darüber beredt Auskunft.

Zurück zu Melnikow: Der Architekt war ein großer Verehrer des Schlafs. Für ihn stellt der Schlaf eine ebenso elementare Lebensbedingung wie das Essen oder das Atmen dar. Das Schlafzimmer in seinem berühmten Moskauer Wohnhaus gehört zu den Ikonen dieser Raumgattung in der Moderne. Die hier zelebrierte Privatheit fand allerdings eine radikale bauliche Antithese im Hotelentwurf für die „Grüne Stadt“. Dieser wollte nicht weniger als die totale Kollektivierung, Kontrolle und Steuerung des Schlafs, um dessen individuellen, unbewussten und anarchischen Charakter in den Griff zu bekommen. Im Eigensinn des Schlafs lag offensichtlich eine Gefahr für die sowjetische Gesellschaft.

Melnikows „SONnaia SONata“ war kein Schlafhaus im traditionellen Sinni, sondern glich eher einem großen Schlaflabor. An einen zentralen, transparenten Empfangstrakt, der der Vorbereitung auf den Schlaf dienen sollte, schlossen die beiden nach außen leicht geneigten, zweigeschossigen Schlaftrakte an. Auch sie waren völlig transparent, eine Verdunklungsmöglichkeit war nicht vorgesehen. Geschlafen wurde ganztägig in mehreren Schichten. Die großen Fensterflächen stellten nicht nur einen unmittelbaren Bezug zum naturähnlichen Umraum dar. Sie signalisierten zugleich, dass der Schlaf nicht länger abgeschlossene Privatsache war. Die Schlafenden sollten unter dem Einfluss aller Tageszeiten und Lichtsituationen zur Ruhe kommen. Der kollektive Schlafrhythmus wurde auf diese Weise von den Tageszeiten unabhängig gemacht, was produktiv-ökonomischen Interessen (Schichtarbeit) entsprochen haben dürfte. Melnikow folgte damit Forschungen und Hypothesen der Zeit, die davon ausgingen, dass der Tag-Nacht-Schlafrhythmus ausschließlich eine Folge der Gewohnheit sei und durch Training umgepolt werden könne. Die Ausschaltung der Nacht als der gewohnten Zeit des Schlafes zeigt wie kaum ein anderer Aspekt, wie weit Melnikows Vorstellung von der Überwindung bzw. der Beeinflussung des Körpers und der Schaffung eines neuen, von tradierten Gewohnheiten „befreiten“ Menschen gehen sollte und konnte. Kaum eine Rolle spielten bei derartigen Überlegungen die sozialen, gesellschaftlichen Folgen für den Einzelnen. In letzter Konsequenz und radikal formuliert wäre wohl die Trennung in eine Tag- und eine Nachtgesellschaft die Folge gewesen, da sonst eine soziale Integration des Einzelnen jenseits der Arbeit kaum mehr möglich gewesen wäre.

Die räumlichen und atmosphärischen Bedingungen (Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Licht, Klang etc.) in den Schlaftrakten waren für alle Schläfer gleich und wurden durch technische und akustische Installationen vereinheitlicht bzw. gesteuert. Verantwortlich waren hierfür Techniker und Mediziner, die von halbrunden Kontrollräumen aus (bezeichnenderweise die einzigen nach außen nicht transparenten Bauteile) das hochtechnisierte Instrumentarium bedienten. Wissenschaftlichen Thesen der Zeit folgend ging Melnikow davon aus, dass durch eingespielte Botschaften und Texte die Schlafenden nachhaltig beeinflusst werden konnten. Musik und Naturgeräusche (Plätschern, Windgeräusche, Blätterrauschen, Vogelgezwitscher etc.) dienten der raschen Entspannung und der Förderung eines schnellen, effektiven Schlafs, dessen absolute Zeit gegenüber dem natürlichen Schlaf deutlich verkürzt werden sollte. Licht und Klang stellten maximale Kontrapunkte zur visuellen und akustischen Wirklichkeit der Arbeitsstätten in den Fabriken dar.

Die leichte Neigung der Trakte garantierte eine optimale Schlafhaltung auf Liegen, die Labortischen ähnelten und zur Beschleunigung des Schlafs in beruhigende Bewegung versetzt werden konnten. Auf Decken hätten die Schlafenden verzichten müssen. Möglicherweise hätten sie dem Einzelnen einen zu deutlich persönlich geprägten, nicht total kontrollierbaren, schützenden „Rückzugsraum“ geboten. Alle Körper sollten in exakt gleicher Intensität dem umgebenden, transparenten Kollektivraum ausgesetzt sein.

Ihren logischen Gegenpol fanden Melnikows Schlafhotels im Zentrum der „Grünen Stadt“. Hier siedelte er ein monumentales Institut zur „Verwandlung der Form des Menschen“ an, in dem durch eine Fülle von Angeboten und Veranstaltungen die Indoktrination der Gäste im Wachzustand stattfinden sollte.

Melnikows „Grüne Stadt“ blieb Entwurf. Zu den Hauptpunkten der Kritiker gehörte das eklatante Missverständnis, Melnikow habe in einer Zeit, in der es ausschließlich um die ungebremste Steigerung der Arbeitskraft und Produktivität gehen müsse, den Schlaf verherrlicht und für diesen einen heroischen architektonischen Rahmen geschaffen. Ihnen war entgangen, wie konsequent und radikal Melnikow selbst den so unwägbaren Schlaf entindividualisieren wollte, um ihn dem Produktionswahn einer ausschließlich kollektiv konstituierten Gesellschaft zu unterwerfen. Immerhin beträgt die menschliche Schlafzeit ungefähr ein Drittel der Lebenszeit, im Sinne einer jeden totalitären Gesellschaftsordnung ein langer, unkalkulierbarer Zeitraum individueller Seelenzustände, aus denen so manche „böse“ Idee erwachsen kann.

 

Zur englischen Version

[1] Schlafhäuser des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren eine Begleiterscheinung der industriellen Revolution und wurden meist im Zusammenhang mit Bergbaubetrieben errichtet. Sie dienten der gezielten Erholung von Arbeitern, deren Arbeitsstellen zu weit vom Heimatort entfernt lagen. Typologisch ähneln sie Melnikows Entwurf: zumeist schlossen an einen Mittelbau große Seitentrakte mit Gemeinschaftsschlafsälen an.