Der radikale Stil

Wie Jacob Taubes an der Freien Universität Berlin die Postmoderne mitbegründete. Teil II.

Mehr als 25 Jahre nach seinem Zerwürfnis mit Gershom Scholem fasste Jacob Taubes 1977 den Plan, anlässlich des 80. Geburtstags seines früheren Lehrers eine »Anti-Festschrift« herauszubringen. Die Realisierung dieses Bandes, der von Taubes als Sammlung von Gegenpositionen zu Scholems religionsgeschichtlichem Denken und als eine Art würdigende Erledigung gedacht war, wurde durch das Eingreifen Hans Blumenbergs verhindert. Die intellektuellen Temperamente von Blumenberg und Taubes waren ähnlich antagonistisch wie die von Taubes und Scholem. Obwohl Blumenberg, der in seinem Werk seit den fünfziger Jahren eine begriffsgeschichtliche Erneuerung der philosophischen Hermeneutik versucht hat, sich mit Taubes in der Abneigung gegen die Kritische Theorie und im Interesse an Carl Schmitt und Martin Heidegger traf, hatten beide aus der Erfahrung des Nationalsozialismus abweichende Konsequenzen gezogen.

Blumenbergs Vater, ein Lübecker Kunstverleger, gehörte in seiner Heimatstadt zur katholischen Diaspora, die männlichen Mitglieder seiner Familie hatten über Generationen hinweg den Priesterberuf ausgeübt. Auch Blumenberg studierte Katholische Theologie, unter anderem am Jesuiten-Kolleg St. Georgen, bevor er wegen des jüdischen Familienhintergrund seiner Mutter exmatrikuliert wurde. In Lübeck wurde er zum Arbeitsdienst verpflichtet und war zeitweilig interniert, konnte sich den Nationalsozia-listen jedoch dank einer befreundeten Familie entziehen, die ihn versteckt hielt. Nach Kriegsende schloss er sein Studium der Philosophie, Klassischen Philologie und Germanistik ab und lehrte ab 1958 zunächst in Gießen, dann in Bochum und Münster. 1963 war er Mitbegründer der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«, zu der später auch Taubes Verbindungen unterhielt. Hans Robert Jauß und Clemens Heselhaus, die beiden anderen Begründer der Gruppe, die seit den Sechzigern durch die Veranstaltung hochkarätiger, in Sammelbänden dokumentierter Colloquien Bekanntheit erlangte, waren anders als Blumenberg keine Verfolgten, sondern Akteure und Profiteure des Nationalsozialismus gewesen.

Über die NS-Biographie von Jauß, der 1942 als Führer einer Maschinenge-wehr-Kompanie während der Belagerung von Leningrad für die Bekämpfung von Widerstandsgruppen zuständig war, es bis 1945 zum SS-Hauptsturmfüh-rer gebracht hatte und aufgrund teilweise falscher biographischer Auskünfte seit 1948 als »entlastet« galt, ist umfassend berichtet worden, nachdem die Universität Konstanz 2014 die Historiker Jens Westemeier und Jan Erik Schulte beauftragt hatte, Jauß‘ SS-Karriere zu untersuchen. Heselhaus war ein Schüler des NS-Germanisten Gerhard Müller und hatte im »Dritten Reich« Studien zur Literatur des »westfälischen Volkstums« sowie eine rassebiologisch grundierte Verteidigung Annette von Droste-Hülshoffs gegen Heinrich Heine vorgelegt. Sowohl Heselhaus wie Jauß trugen im akademischen Betrieb der Bundesrepublik zur Wiederentdeckung im Nationalsozialismus unterdrückter und zensierter Autoren der Moderne bei, Heselhaus durch eine wiedergutmachende (und noch heute mit Gewinn zu lesende) Studie über Else Lasker-Schüler, Jauß durch seine Arbeiten zu Marcel Proust. Wegen seiner grundlegenden Studien zur Rezeptionsästhetik gilt Jauß bis heute als Wegbereiter einer über die klassische Hermeneutik hinausweisenden Literaturwissenschaft.

Die Zusammenarbeit von Jauß und Heselhaus mit Blumenberg bei der Gründung von »Poetik und Hermeneutik« war wohl nur möglich, weil alle drei ihre Biographien im nationalsozialistischen Deutschland gegenüber den jeweils anderen relativierten. Die Germanistin Julia Amslinger, die in ihrem 2017 erschienenen Buch »Eine neue Form von Akademie« die Anfänge des »Poetik und Hermeneutik«-Kreises untersucht, verdeutlicht, in welchem Maße die Kooperation der drei Mitbegründer auf dem Verschweigen von Lebensgeschichte beruhte. Hinzu kam, dass das die Gruppe verbindende Ideal einer rezeptionsästhetisch erneuerten Hermeneutik die gegensätzlichen Intentionen, die die Akteure damit verbanden, zu überspielen half. Jauß diente der von dem Kreis praktizierte wirkungsgeschichtliche Zugriff als Legitimation für einen unbelasteten Blick auf im Nationalsozialismus abgebrochene Traditionen, die in der Bundesrepublik als neu, spannend und innovativ verkauft werden konnten, obwohl sie einem von Deutschland ausgeschlagenen Erbe zugehörten. Wenn Jürgen Habermas gelegentlich darauf hingewiesen hat, wie erkenntnisreich für ihn die (in seinem Fall durch die Kritische Theorie vermittelte) Begegnung mit Proust und den Expressionisten war, entstammt solche Begeisterung einer ähnlichen Verdrängung: Was für Adorno und Horkheimer einer von Deutschland verworfenen Vergangenheit angehörte, konnte den Angehörigen der in den Zwanzigern geborenen SS- und HJ-Generation als unverbraucht und zeitgenössisch erscheinen. Aus dem geschändeten Vergangenen wurde nach 1949 das zukunftsweisende Neue, Verleugnung und Lüge wurden konvertiert zu wissenschaftlichem Fortschritt, indem das Geschmähte als zeitgemäße Avantgarde wiederentdeckt wurde.

Im Fall von Jauß haben sich Verdrängung der eigenen Lebensgeschichte und akademische Innovation wechselseitig befeuert. Der rezeptionsästhetische Blickwechsel vom Werk zum Leser vermochte den unbelastet munteren Zugriff aufs Objekt zu legitimieren, die Horizonterweiterung der Nationalphilologie zur gesamteuropäischen Literatur erlaubte es, über unliebsame deutsche Besonderheiten hinwegzugehen. Blumenbergs Affinität zu »Poetik und Hermeneutik« hingegen war konträr motiviert, ihm ging es um die Anknüpfung an Residuen einer Geistesgeschichte, die sich nicht restlos historisieren lässt. Für Heidegger und Schmitt interessierte er sich nicht aus verleugneter Sympathie für rechte Abwege des Denkens, sondern aus der Überzeugung heraus, dass noch politisch fragwürdige Autoren in ihren Werken über die eigene Befangenheit hinauskommen, dass Denken sich nie in den Überzeugungen derjenigen erschöpft, die es hervorbringen, sondern durch neue Lektüren verändert werden kann. Aus der gleichen Ansicht speiste sich Blumenbergs Abneigung gegen die Kritische Theorie, die ihm zu Unrecht als ein Versuch erschien, Werke auf die Ideologie ihrer Autoren und deren Denken auf die in ihm implizierte gesellschaftliche Praxis zu reduzieren. Sein Hinwegsehen über Lebensgeschichte und politische Tat scheint Blumenbergs Zusammenarbeit mit Jauß und Heselhaus zumindest erleichtert zu haben.

Als er bei Taubes wegen dessen Plänen für ein vergiftetes Festtagsgeschenk für Scholem intervenierte, tat Blumenberg das aus den gleichen Gründen, die seine Kooperation mit Jauß ermöglicht hatten. Sie lassen sich im mittlerweile veröffentlichten Briefwechsel zwischen Blumenberg und Taubes nachlesen. Blumenberg verurteilte Taubes‘ Plan als »zutiefst aggressiven Akt«, gegen den Scholem zu verteidigen sei, weil eine teils intellektuell, teils persönlich motivierte Gegnerschaft in einer praktisch-politischen Handlung ausgelebt werde. Die Überzeugung, dass sich Denken und Politik nicht einfach ineinander übersetzen lassen, die Blumenberg sogar zur Verteidigung Schmitts gegen Kritik von Taubes in Anschlag gebracht hat, motivierte auch seine Abneigung gegen Adorno und dessen Schüler, denen er – darin mit Taubes einig – unterstellte, politische Kritik und intellektuelle Denunziation zu verwechseln. Indem er im Streit zwischen Taubes und Scholem nunmehr Taubes eine solche Verwechselung vorwarf und für Scholem Partei ergriff, wies Blumenberg – eher am Rande und ungewollt – auf die Gründe hin, die es seit den späten Sechzigern ermöglichten, dass sich in Berlin eine regelrechte Gemeinde um Taubes entwickelt hatte, deren Mitglieder ihren antiaufklärerischen Postmodernismus als die bessere Kritische Theorie missverstanden. Die Verwechslung von Denken und Handeln, die Blumenberg der Kritischen Theorie zu Unrecht unterstellte, war in Wahrheit Taubes‘ vielleicht größte Schwäche. Im Kontrast zu doktrinärer Verbissenheit vieler verständnisloser Adorno-Schüler manifestierte sich diese Verwechslung bei ihm aber nicht in Korpsgeist und aktivistischer Phraseologie, sondern in verantwortungslosem Charme und koketter Treulosigkeit – in einem Boheme-Gestus, der vielleicht das Einzige ist, das von der akademischen Postmoderne in der Bundesrepublik der achtziger Jahre heute zu retten wäre.

Obwohl Blumenberg mit guten Gründen vermutete, dass Taubes‘ Anti-Festschrift von Scholem als unverschämter Übergriff und objektiv judenfeindlich wahrgenommen worden wäre, hatte Taubes seine Idee offenbar tatsächlich als Gunstbeweis begriffen. Anders als bei den früheren rechten und den neuen linken Feinden der Kritischen Theorie verdankte sich Taubes‘ radikaler Stil – seine Neigung zur intellektuellen und habituellen Grenzverletzung – nicht dem Bedürfnis, akademische Gegner zu diffamieren, sondern einer dandyesken Gleichgültigkeit gegenüber institutionellen Regeln und gesellschaftlichen Usancen. Taubes‘ notorische Stimmungsschwankungen und seine von vielen Kollegen bezeugte Unzuverlässigkeit gehörten notwendig zu einer geistigen Haltung, die die Trennung zwischen Denken und Affekt, öffentlicher und privater Person nicht anerkannte. Dass Taubes nur wenige, selten gelesene, von Bewunderern aber auratisch verehrte Bücher vorgelegt hat – die »Abendländische Eschatologie« hat bei Taubes-Schülern ikonischen Wert –, folgte keinem medialen Kalkül, obgleich Taubes‘ akademischer Gestus seiner medialen Publizität entgegenkam. Vielmehr war Taubes‘ Habitus wirklich Zeugnis intellektueller Krisen und biographischer Desaster, von denen der Selbstmord seiner früheren Ehefrau Susan Taubes 1969 nur das eklatanteste gewesen ist. Was in postmodernen Berufsprovokateuren wie Slavoj Žižek oder Peter Sloterdijk zur leeren Pose gefriert, war bei Taubes Resultat eines zerbrochenen Lebens.

Dass seit einigen Jahren das Berliner Zentrum für Literaturforschung (ZfL) die intellektuellen Biographien von Jacob Taubes, Susan Taubes, aber auch von Scholem und Blumenberg erforscht, könnte dazu beitragen, dass die Frühgeschichte der akademischen Postmoderne in der Bundesrepublik endlich stärker auch als Gegengeschichte zur postmodernen Gegenwart begriffen wird. Waren Taubes‘ Unbotmäßigkeiten Ergebnis eines individuellen Zusammenspiels von Kompromisslosigkeit, Charme und Phantasie, stellt sich die gegenwärtige Postmoderne, etwa an der Berliner Humboldt-Universität, als Phalanx autoritärer Antiautoritärer dar, deren Konformismus gegenüber den Agenturen des Staates keine Grenzen kennt. Und während im Streit um Taubes‘ Anti-Festschrift die widersprüchliche Erfahrungsgeschichte des deutschen Judentums seit dem Nationalsozialis-mus ausgetragen wurde, verschwinden im aktuellen Postmodernismus alle historischen Widersprüche im Hass auf den israelischen Staat.

 

Hans Blumenberg (Bild: Bildarchiv der Universitätsbibliothek Gießen und des Universitätsarchivs Gießen, Signatur HR A 603)