Der Begründer der Finanzmathematik war Louis Bachelier mit seiner 1900 veröffentlichten Dissertation »Theorie der Spekulation«. Die Preise von Aktienoptionen verhalten sich wie Partikel eines Gases in brownscher Bewegung, postulierte Bachelier. Ihre Pfade lassen sich nicht exakt vorhersagen aber durch stochastische Prozesse modellieren.
Über Maxwells Dämon und dessen Interpretation durch Leo Szilard wurde die brownsche Bewegung zu einem wichtigen Bestandteil der Informationstheorie. Die brownsche Bewegung ist aber vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Physik und Quantenphysik bekannt. Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik, entwickelte einen auf der Thermodynamik aufbauenden Informationsbegriff, indem er diese als negative Entropie definierte. Norbert Wiener war es auch, der 1923 ein probabilistisches Modell für die Berechnung der Pfade von Partikeln in brownscher Bewegung entwickelte, was später nach ihm Wiener-Prozess genannt wurde.
1973 veröffentlichten Fischer Black und Myron Samuel Scholes die sogenannte Black-Scholes-Formel (ursprünglich gemeinsam mit Robert C. Merton entwickelt, der sich jedoch entschloss, separat zu publizieren). Dieses Modell erlaubte es, die Preisentwicklung von Finanz-Optionen vorauszuberechnen, wobei angenommen wurde, dass diese Wiener-Prozessen folgen, so dass sich »die Aktienpreise analog einer geometrischen brownschen Bewegung verhalten« (Wikipedia). Etwas genauer ausgedrückt, erlaubt es die Black-Scholes-Formel, Zusammenhänge zwischen einzelnen Parametern, die den Preis einer Option bestimmen, und deren zukünftigem Preis herzustellen. Damit können zwar keine exakten Preise vorhergesagt werden, aber die Bandbreiten möglicher Preisbewegungen abhängig von bestimmten Faktoren. So erlaubt dieses Modell das Hedging, den Ausgleich eines Risikos durch ein anderes.
Die Veröffentlichung der Black-Scholes-Formel fiel zusammen mit dem was man als die Take-Off-Phase des neoliberalen Informationsparadigmas bezeichnen könnte: Produktion des ersten Mikrochips 1971; Ende fester Währungskurse und Beginn der Währungs-Spekulation; Einführung elektronischer Börsen und computerisierten Handels (ab 1972); und das als die Theorien über das segensreiche Wirken des freien Marktes von Friedrich Hayek und Milton Friedman immer mehr Gehör fanden. Ab dem Ende der 1970er Jahre wurden neo-liberale Wirtschaftstheorien durch Reagan und Thatcher implementiert. Es gab also einen parallelen Prozess der Informatisierung der Börsen, der weltweiten Vernetzung dieser Handelsplätze und des Siegeszugs des Neoliberalismus. Was man in den 1990er Jahren Informationszeitalter nannte, sollte eigentlich besser informationeller Finanzkapitalismus heißen.
Die finanziellen Geschicke dieser Welt werden nun, so scheint es, weitgehend inner halb einer sehr stark informatisierten Welt entschieden, in der die einzigen Reste des natürlichen Raums die Latenzzeiten sind, mit denen die Ausführung von Call oder Put Optionen an elektronischen Handelsplätzen erfolgen kann. Dies hat in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erhalten, insbesondere in Zusammenhang mit sogenanntem
High-Frequency-Trading (HFT).
Doch HFT ist nicht der Sündenbock für den es viele halten. Es ist eine relativ langweilige Form des automatisierten Handelns, wobei man versucht, so gut wie möglich Risiko zu vermeiden. Das wirkliche Problem ist der Glaube an die Information und die technologische Kontrollierbarkeit der Zukunft. Dieser Mythos wurde vom Crash des Finanzsystems 2008 zwar entlarvt, dennoch besteht die zweifache Utopie des freien Marktes und der Information beinahe uneingeschränkt fort.
Die finanzmathematischen Modelle, die im Spekulatikonsgeschäft angewandt werden, beruhen in der Regel auf neoklassischen Markt-Modellen. Diese haben eine Vielzahl an idealisierenden Annahmen eingebaut: Man geht aus von der Annahme eines Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage; dass die Transaktionskosten null sind; dass die Erlangung von Information nichts kostet; dass der Markt für alle transparent ist und es keine Ungleichgewichte gibt (keine Mono- und Oligopole); sowie, dass die Teilnehmer sich rational verhalten – alles Dinge von denen wir wissen, dass sie in der Wirklichkeit nur selten eintreten.
Womit die Wahrscheinlichkeitsrechnung nur unzulänglich umzugehen versteht, ist das Auftreten des Unwahrscheinlichen, des geschichtlichen Events, der einmalig ist. Naseem Taleb hat dafür den Begriff »Black Swan« populär gemacht. Elie Ayache geht noch einen Schritt weiter und postuliert, dass probabilistische Modelle für die Vorhersage von Optionspreisen gänzlich ungeeignet sind, daher heißt sein Buch »Blank Swan«.
Tatsache ist, dass die Black-Scholes Formel mit großer Wahrscheinlichkeit den Börsencrash von 1987 verursacht hat. All die Finanzmathematik der Welt konnte auch nicht den Kollaps des Hedge Fonds Long Term Capital Management 1998 verhindern, wo Myron Scholes selbst im Direktorium saß. Und auch im Herbst 2008 haben sich wiederum viele Spekulanten verbrannt, die gehofft hatten, sich mit Weiterentwicklungen und Varianten des Black-Scholes Modells wissenschaftlich einwandfrei zu hohen Renditen zu hedgen.
Es scheint dabei einen tiefen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zu geben. Finanz-mathematischen Modellen von Märkten liegt die Annahme der Arbitragefreiheit zu Grunde, d.h. dass es keine risikofreien Gewinne gibt - es gibt weder eine Free Lottery (risikofreie Spekulation mit geborgtem Geld), noch einen Free Lunch (risikofreie Gewinne). Doch in der Realität ist Arbitrage, was alle Marktteilnehmer zu erzielen versuchen. Es wird also nach etwas gesucht, was es dem eigenen Modell zufolge gar nicht geben dürfte.
Grob gesprochen gibt es nun zwei Richtungen, in welche die Entwicklung geht. Im High-Frequency Trading versucht man sich über die zeitliche Achse einen Vorteil zu verschaffen. Es werden Marktimperfektionen gesucht, um minimale Kursschwankungen zwischen Handelsplätzen auszunutzen. Die dahinter stehende Mathematik ist nicht sehr kompliziert und es wird eher mit brute force gearbeitet, mit sehr schnellen Rechnern, die direkt am Börsenrechner hängen. Das ist aber im Vergleich zu dem, womit die großen Jungs spielen, eher langweilig. Investmentbanken und Hedgefonds benutzen ausgeklügelte Mathematik und Informationstechnologie, um immer komplexere Produkte zu entwickeln und permanent über den Wert ihrer Positionen informiert zu sein.
In den Trading Rooms der Investmentbanken werden von einzelnen Desks die Entwicklungen auf dem Markt beobacht - aber auch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, Kriege, Krisen, Wahlen, etc.. Karin Knorr Cetina hat dafür den Begriff »skopische Medien« erfunden. Für die Trader, die an Desks mit mehreren Bildschirmen sitzen, wird die Welt wie durch ein Periskop reproduziert, jedoch simultan, auf verschiedenen Ebenen, und alles auf das nötigste reduziert.
Wie von Daniel Beunza im Rahmen einer Studie bei einer Investmentbank in New York beobachtet, konfigurieren sich die Trader ihre Bildschirme selbst. Mit ihren raffinierten Tools zerlegen die Trader einzelne Derivate in verschiedene Aspekte und erzielen so Arbitrage-Gewinne, indem sie die Wahrscheinlichkeiten von die Preise steuernden einzelnen Parametern beobachten und gegeneinander ausspielen.
Diese Patterns sind aber nicht wirklich langfristig, sondern nur temporär. In sie fließen externe Faktoren ein, davon solche, die in den Bereich der »behavioral finance« fallen (Herdenverhalten), letztlich aber alles, was auf der ganzen Welt passiert. Jedes Ereignis kann jederzeit die fragile Balance eines Portfolios erschüttern. Das Verhalten der Marktteilnehmer selbst kann jeden Moment für die Überraschung gut sein, die jenen geschichtlichen – d.h. wahrscheinlichkeitstheoretisch nicht vorhersagbaren - Event erzeugt.
Die Trading Rooms sind eine inverse Welt, ein digitales Panoptikon, in dem alle Informationsströme zusammen treffen. In diesen Modellen sind jedoch sehr viele Faktoren nicht eingepreist, von der Gratisarbeit von Frauen oder der persönlichen Fürsorge, bis hin zu Umweltschäden oder dass eine ganze Generation von Jugendlichen ohne Arbeit bleibt. Diese verkehrte, extrem ausgedünnte Welt wahrscheinlichkeitstheoretischer Modelle übt aber auf die Preisbildung – z.B. auf den Zins- aber auch Rohstoffmärkte – großen Einfluss aus.
Jene Patterns, die Arbitrage ermöglichen, bestehen nur, solange der Glaube an eine bestimmte Entwicklung von genügend Menschen geteilt wird. Seinem Wesen nach bleibt es ein Pyramidensystem, wo nur die gewinnen, die bei der Bildung einer Blase vorne dran sind und im richtigen Moment aussteigen. Und Blasenbildung bleibt das Wesen des Spiels. Blasen entstehen durch niedrige Zinsen (= billiges Geld) und die Möglichkeit der Banken, via Kredit die Geldmenge aufzublasen. Die Aktiva der Spekulateure sind inflationär aufgeblasen, so bald jemand den Bluff benennt, platzen sie.
Ob dieses System nun wirklich das richtige Instrument ist, um weltweit die Allokation der Ressourcen zu steuern, muss mehr als fragwürdig erscheinen. Und da seit 2008 noch keine fundamentalen Reformen stattgefunden haben, kann dieses System jederzeit neue krisenhafte Entwicklungen herbeiführen oder verstärken.