Als im November 2011 in der Berliner Volksbühne eine HistorikerInnenkonferenz zum Thema »Pophistory« stattfand, an der auch Diedrich Diederichsen teilnahm, wurde dieser auch gefragt, was er HistorikerInnen denn als Tipp zur eingehenderen Beschäftigung mit Pop-Phänomenen mit auf den Weg geben würde, worauf hin die Antwort kam: »Adorno lesen. Weil er Pop ernst nimmt.«
Wenn sich Pop grob gesagt zwischen den Polen »eine Diskussion bei der jeder mitmachen kann« (Greil Marcus) und »Pop ist eine schwere Tür« (Thomas Meinecke) abspielt, dann geht es, wenn auch selten direkt ausgesprochen, immer auch um das, was Adorno einmal »adäquates Hören«1 genannt hat. Nur, da Pop noch nie an »die große Erzählung« geglaubt hat und sich stattdessen immer schon durch eine Vielstimmigkeit kleiner Narrative (idiosynkratischer wie kollektiver) definierte, gibt es dieses eine okaye, richtige, eben »adäquate« Hören nicht (Pop kennt daher auch kein »autonomes Kunstwerk« und keine »absolute Musik«). Mit Hermeneutik ist Pop nicht zu erklären. Doch das wusste bekanntlich auch schon Hans Eisler: »Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts.«
Was hat Adorno mit diesem »adäquaten Hören« eigentlich gemeint? Naheliegenderweise kein ekstatisches Genießen, kein »Lost in Music«, kein »Shake Ya Booty«. Bekanntlich schauderte es ihm schon vor Lehárs »Lustiger Witwe« (wie dem Prä-Popgenre Operette an sich): »Wir kommen unter Autos, weil wir’s unachtsam summen, beim Einschlafen verwirrt es sich mit den Bildern unserer Begierde«, schreibt er 1932 in seinen »Arabesken zur Operette«.2
Tanzen und Denken schließen sich hier radikal aus, weshalb Adornos Jazz-Abneigung nicht nur auf das berühmte Missverständnis seiner Gleichsetzung von New Orleanser Marching Bands mit Preussischer Marschmusik-Kapellen zurück geführt werden kann (Louis Armstrong sah, wie auch Jimi Hendrix oder Jeff Mills später, keine großen Unterschiede zwischen diesen beiden Tätigkeiten).
Dennoch kommt Adorno beim »adäquaten Hören« ironischerweise zu einer der ganz großen Pop-Weisheiten, wenn er schreibt, dass das Hören von Beethoven durchaus die »weit größere Anstrengung« bedeuten kann, »als das der avanciertesten Musik«.3
Das Problem »der avanciertesten Musik« liegt ja nicht zuletzt darin, dass jene, die sie hören, selber glauben »avanciertest« zu sein. Der Pöbel kann ja gerne bei Ramones, AC/DC, Motörhead, Madonna, Lady Gaga bleiben. Nun ist aber das scheinbar Banalste mitunter die härtere Nuss (die »härtere Tür«). Egal ob Girl-Groups, Disco oder House. Sich als subversiv ausgebende Musik subversiv zu hören ist keine große Anstrengung. Das hat sich bei Adorno-Fans zwar nie so richtig durchgesprochen, bestimmt jedoch einen wesentlichen Punkt in Adornos Musik-Philosophie. Denn noch mehr als Operette und Jazz geht ihm ja auf die Nerven »was die Sprache des Unverstands Experiment nannte«.4
Wo jeder Scheiß gutgeheißen wird, sofern er eine Avanciertheit suggeriert, von der gedacht wird, das sei jetzt der heiße Scheiß jenseits der Konventionen und Konfektionen. Dass sich hier Adornos radikaler Elitarismus mit einem banalen Elite-Sein-Wollen trifft, macht das Ganze nun aber auch umso komplizierter. Adorno ist, neben z.B. John Cage, ja immer noch einer dieser Totschlagnamen, von denen geglaubt wird, dass allein schon ihre Erwähnung die höhere Weihe des eigenen Geschmacks markiert.
Mit Adornos Forderung nach einer »philosophische Analyse«5 von Musik und dem Hören hat das jedenfalls in den seltensten Fällen zu tun. Aber genau hier trifft sich sein »adäquates Hören« mit dem, was wir, von den Cultural Studies und poststrukturalistischen Theoriewerkzeugkisten her kommend, durchaus auch unter dem Begriff »Pop-Diskurs« verstehen. Ging es Adorno hier doch um eine Musik-Philosophie jenseits der Soziologie und der Ästhetik. Also weder reine Werkimmanenz (die das Politische radikal entsorgt), noch soziologisches Betroffenheitspathos (bei dem KünstlerInnen, speziell wenn es sich um Angehörige von Minoritäten handelt, nicht als Artists, sondern nur als Opfer wahrgenommen werden). Wie bei den klassischen Cultural Studies geht es auch bei Adorno grundsätzlich um Macht, Herrschaft, Hegemonie, Ökonomie, Kontrolle. Auch deshalb fordert er eine Musiksoziologie ein, bei der es nicht darum geht »zu fragen, wie die Kunst in der Gesellschaft steht, wie sie in ihr wirkt, sondern die erkennen will, wie Gesellschaft in den Kunstwerken sich objektiviert«.6
Das bedeutete aber auch, die Codes zu kennen, dabei jedoch nicht den von Kodwo Eshun in »More Brilliant Than The Sun. Adventures in Sonic Fiction«7 gebrandmarkten Fehler zu begehen, das Sonische wieder ins Soziale rückführen zu wollen. Erstens ist dieses »Soziale« meist eh nur imaginiert (die Strasse, das Ghetto, die Baumwollfelder) und zweitens beruht es meist (ebenso wie Adornos avancierter Unverstand) auf faulen Ohren, die sich nicht überstrapazieren wollen.
Max Paddison schreibt dann auch in einem Aufsatz zu Adornos Musikästhetik: »Adorno zufolge enthält die Musik gesellschaftliche Verhältnisse in ihrem Material und ihrer Struktur, wenn auch sozusagen unbewußt«.8
Dieses Unbewusste ist nun kein obskures Unverständliches, sondern das, wodurch sich gerade beim Hören ein Mehr-Genießen einstellt (ganz analog zu Adornos Musiksoziologie, bei der es ja darum geht, ebenso das in der Musik Schlummernde quasi aufzuwecken wie diese Musik mit anderem Material anzureichern).
Blöderweise setzt Adorno in diesem Zusammenhang nun ausgerechnet auf Authentizität. Ein Begriff, unter dessen Zeichen der rechte wie der linke Kulturpessimismus immer schon gerne eine Querfront gegen Pop gebildet hat.
Nur versteht Adorno auch hier wieder etwas ganz anderes, als uns darüber immer wieder aufgetischt wird, sind für ihn doch »authentische Werke Kritiken der vergangenen.«9
Ein »Werk gilt als authentisch in dem Maße, in dem seine Struktur Resultat (einer) inneren Dialektik ist.«10
Hierbei geht es nicht nur um Materialästhetiken (Samples, Cut-Ups, Intertextualitäten, Palimpseste, Rhizome, Dekonstruktionen, Re-Signifizierungen). Viel eher sehen wir hier, wie fruchtbar es ist, Adorno (aber nicht nur ihn) gegen den Strich zu lesen. Denn so sehr er Gift und Galle gegen den »Eklektizismus des Zerbrochenen«11
speit, so ähnlich klingt das nach dem, was unter Diskurs-Pop (also Pop über Pop) verstanden wird.
Leider ist das so ja nicht angekommen. Stattdessen lieferte Adornos Begriffskiste „eine Rhetorik, mit deren Hilfe man eine prä-industrielle, prä-kommerzielle Idylle imaginieren konnte.«12
Diese authentische Musik will nicht Ware werden, ist quasi hand/home made und autonom und glaubt an das Phantasma keine industriell gefertigte Ware sein zu können. Die ganzen Authentizitätsdebatten und ihre Fetische (Blues, Rock, Soul) gründen sich auf diesem Missverständnis (auch weil sie es verabsäumen, Baudelaire und Benjamin genau zu lesen) und enden nicht selten in Selbststilisierungen als einsame Taxi Driver (Henry Rollins etwa), die die (unschuldige, echte, authentische, wahre) Musik (vom Lande) vor dem Großstadtmoloch der Kulturindustrie retten wollen.
Während sich hier quasi ein Adorno-Rock immer noch dagegen wehrt, als Amusement zur »Verlängerung der Arbeit unter dem Spätkapitalismus« zu werden13, geht es bei Pop schon längst um etwas anderes. Auch darum, Adorno nicht mehr unter spät- sondern finanzkapitalistischen Verhältnissen zu lesen. Nicht umsonst kann der 1996 von Tom Holert und Mark Terkessidis herausgegebene Reader »Mainstream der Minderheiten« als erstes Zeichen einer (popistischen) Relektüre von Adorno unter neoliberalen Bedingungen gelesen werden. Folgerichtig schreiben die Autoren: »Wenn man so will, sind wir heute von dem, was Adorno und Horkheimer (...) als ‚aussichtslose Abhängigkeit‘ der Individuen bezeichneten, unterwegs zu etwas, was man ihre ‚aussichtslose Unabhängigkeit‘ nennen könnte.«14
Kurz: Es gibt kein richtiges Leben im prekären.
Auch deshalb lohnt sich ein Adorno-Update allemal.