Masochismus und Befreiung

Die Verwirrungen des jungen Georges-Arthur Goldschmidt.[1]

Im Frühjahr 1938 wurde ein zehnjähriger Knabe gemeinsam mit seinen Bruder am Hamburger Hauptbahnhof in einen Zug gesetzt und nach Florenz gebracht. Noch weiß der Knabe nicht so genau, warum er ohne Eltern nach Italien fahren muss, wenngleich er auch ahnt, dass mit ihm etwas ‚nicht stimmt‘. Seine jüdische Herkunft war ihm insofern rätselhaft, als das Judentum in der protestantischen, großbürgerlichen Familie überhaupt keine Rolle spielte. »Ich habe von meiner jüdischen Abstammung niemals etwas gewusst und verstand nicht, warum ich plötzlich ein Krimineller war und zum Tode verurteilt worden war«.[2]
Die Erfahrung des Knaben, fortgeschickt und verlassen zu werden, hat lebenslange Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen, sie steht am Beginn einer von Entsetzen und Bedrängnis geprägten Kindheit und Jugend.
Kindheit und Jugend sind denn auch wiederkehrende Themen in Georges-Arthur Goldschmidts Texten, mit den bezeichnenden Titeln wie »Absonderung« (1991), »Die Aussetzung« (1996), oder »Die Befreiung« (2007), in welchen er in immer neuen Anläufen, einmal mehr in fiktiver, ein anderes Mal eher in autobiographischer Form festhält, was ihm zwischen seinem 10. und 18. Lebensjahr widerfuhr. Es gehe ihm nicht um bloße Erinnerung, betont er, »sondern um etwas, das man am liebsten wegschaffen möchte, das hat man in sich, weil man es mit den Hitlerverbrechern zu tun hatte«.[3] Mit diesem »Wegschaffen« begann Goldschmidt erst relativ spät, über vierzig Jahre sollte es dauern, bis er überhaupt darüber schreiben wollte und konnte. Zugleich entstehen seine luciden Arbeiten über Kafka und über Freud und die Sprache; Goldschmidt nimmt aber auch entschieden Stellung in der französischen Heidegger-Debatte.[4]
Als auch in Italien die Situation für Juden ständig bedrohlicher wurde, brachte eine Verwandte der Eltern, Noémie de Rothschild, die beiden Brüder in ein katholisches Kinderheim in den französischen Alpen der Haute-Savoie, wo Goldschmidt nur dank des Mutes und der Unerschrockenheit einiger weniger den deutschen Besatzern entkam. Zu ihnen zählte Marie-José Lucas, eine Gaullistin der ersten Stunde, »die den französischen Oppositionsgeist verkörperte« und »für gewisse Internatsschüler ihr Leben riskierte, die ihr eigentlich nichts bedeuteten«.[5] Diese Zivilcourage war mit einem ausgeprägten Sadismus gepaart, den sie im Zuge ihrer Erziehungsmethoden hemmungslos auslebte. Auf den nackten Hintern, mit Birkenzweigen, die Goldschmidt zuvor in einem kleinen Wald selbst brechen musste, gingen die Hiebe nieder. Minutiös beschreibt er diese Züchtigungen, exakt geplante Rituale, die immer wieder an ihm vollzogen wurden. Hinzu kamen die ganz alltäglichen Schläge mit dem Eisenlineal auf die Fingerkuppen, die Schläge auf den Kopf und der Essensentzug. Ab dem Jahr 43 - 44, als die Deutschen in den Süden vorrücken, ist Goldschmidts Leben akut bedroht. Als Jude befindet er sich in ständiger Gefahr abgeholt und verschleppt zu werden. »Ich war schuld an meiner Unschuld, an diesem Tatbestand einer Schuld ohne Schuldhaftigkeit«.[6]
Doch hatte all diese nicht enden wollende Pein, für ihn, das jüdische, renitente Waisenkind in einem katholischen Kinderheim, eine unvermutete Kehrseite: Schmerz und Angst halfen ihm das Heimweh und die Sehnsucht nach der geliebten Mutter zu vergessen, von deren Tod er während der Internatszeit durch einen Brief vom Vater erfahren hatte. Die Schläge mit der Rute nahmen seine Gedanken auf eine Weise gefangen, so dass sie ihn komplett beherrschten und Trauer erst gar nicht aufkommen ließen. Ein fataler Kreislauf entsteht: Die Prügel hemmten seine Konzentration und Lernfähigkeit, er wird zu einem verstockten, von Zornanfällen heimgesuchten Jungen, Bettnässer überdies. Und zugleich boten die Züchtigungen eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erheischen, wurden zum Ersatz für die so sehr entbehrte Liebe, verdeckten die Verzweiflung. Durch die Schläge auf den nackten Körper erfuhr er aber auch die Verzückung erster erotischer Sensationen, die Umkehr des Schmerzes und der Scham in Wollust. Nicht nur Rousseaus »Bekenntnisse«, dessen triumphale Selbstentdeckungen eine Offenbarung für ihn sind, bestätigten ihm, dass Gewalt und Ungerechtigkeit in Wollust umschlagen können; auch Freud, der für Goldschmidt später so bedeutsam werden sollte, hat dieses Phänomen in seiner Schrift »Ein Kind wird geschlagen« beschrieben, als er die ursprünglichen infantilen Wünsche und Phantasien, die mit Strafe einhergehen können, offenlegte.
Selten ist so schonungslos offen ausgesprochen und beschrieben worden, wie Individuation aus einer Mischung von Erniedrigung, Ohnmacht und Züchtigung sich entwickelt, die zugleich unmittelbar mit sexueller Lust verbunden ist. Ichwerdung und Selbstfindung vollziehen sich buchstäblich am eigenen Leib. »Der Taumel, in dem ihn jenes Abenteuer des Körpers versetzt, beweist ihm durch die Hand des anderen seine Gegenwart und die eigene unersetzbare Einmaligkeit.«[7] Hierzu zählt auch die Erfahrung der homosexuelle Liebe, die im Internat fast unvermeidlich ist, sie hat mir, sagt Goldschmidt, »die Schönheit des Lebens damals bewahrt … und Schutz vor dem Heimweh und Gleichgewicht gebracht«.[8] In »Die Befreiung«, einer Schrift, die deutlich autobiographische Züge trägt, beschreibt er die sexuelle Begegnung mit einem Aufseher als eine Art homosexueller Initiation: »Lange nach dem Lichterlöschen in den Schlafsälen war dann der Aufseher zu ihm in den Karzer gekommen und hatte sich von ihm beehren lassen, und am zweiten und dritten Tag hatte der Jüngling empfangen, erfahren, wie es sich in sich anfühlt, er hatte ihn und also sich selbst in sich gehabt und war auf einmal verwandelt gewesen … Der Jüngling hatte Zeit gehabt, mit sich selber Bekanntschaft zu schließen; noch nie hatte er jede Faser seines Körpers derart empfunden … aber vor allem die Erleuchtung, der triumphale Frieden, der in ihm aufging, als habe er den Sinn der Schöpfung erfaßt, als fühle er die Weltheit in sich. … Er empfand keine Scham, denn er hatte niemandem geschadet, niemandem etwas angetan. Er war ein Wissender geworden.«[9]
Nicht allein die rückhaltlose Enthüllung, sondern auch die gleichsam natürlich anmutende Verkehrung von Ohnmacht und Scham in Befreiung, erstaunt. Ganz anders, nahezu konträr, ist die Darstellung von Selbstfindung und sexuellem Begehren in Musils Roman »Die Verwirrungen des Zögling Törless«.[10] 1906 erschienen, handelt diese Schrift ebenfalls von den seelischen »Verwirrungen« pubertierender Knaben und markiert einen Bruch mit der Tradition deutschsprachiger Literatur. Erstmals werden darin die autoritären Strukturen im sexuellen Verhalten eines Kollektivs in einer Militär-Oberrealschule in der Habsburgermonarchie bloßgelegt. Während in dem einen Fall aus der Sicht des Gezüchtigten berichtet wird, erzählt Musil aus der Perspektive des Voyeurs und Komplizen Törleß. Der Schriftsteller, der in dem Roman mit den militärischen Zuchtmethoden in einer Kadettenanstalt abrechnet, berichtet von einer Gruppe Jugendlicher, die ihren Mitschüler Basini wegen eines Diebstahls erpressen, indem sie ihn physisch und psychisch misshandeln und sich an ihm vergehen. Törleß, der Protagonist der Handlung, der sich an den Martern zwar nicht unmittelbar beteiligt, sie aber auch nicht verhindert, empfindet selbst im Nachhinein nur äußerste Verachtung für das Opfer, dessen körperlicher Anziehung auch er erlegen war: »Er mied untertags Basini. Konnte er es nicht vermeiden, so packte ihn fast immer eine Ernüchterung. Jede Bewegung Basinis erfüllte ihn mit Ekel, die ungewissen Schatten seiner Illusionen machten einer kalten, stumpfen Helle Platz, seine Seele schien zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr übrig blieb, als die Erinnerung an ein frühes Begehren, das ihn unsagbar und verständig und widerwärtig vorkam. Er stieß seinen Fuß gegen die Erde und krümmte seinen Leib zusammen, nur um sich dieser schmerzhaften Scham zu entwinden.«[11]
Abscheu und Scham vor seinem eigenen homosexuellen Verlangen: Basinis schmale helle Schultern, sein »liebliches Lächeln« und sein weibliches Gebaren wecken in Törleß die Erinnerung an frühkindliches Begehren, die als Gefahr wahrgenommen und mit aller Kraft abgewehrt werden muss. In der virilen Gemeinschaft einer Kadettenanstalt mit ihrem militärischen Drill und dem Zwang zur Normalität konnte sich homosexuelle Begierde nur im Kontext von Aggression und Gewalt entwickeln: Sexualität wird unter diesen Umständen zur sadistischen Veranstaltung und zu einem Herrschaftsinstrument.
Törleß agierte, wenngleich in der Rolle eines Komplizen, als Teil eines Kollektivs. Statt auszubrechen, seine Mitschüler daran zu hindern, weiterhin Basini zu foltern, indem er sie unverzüglich der Schulleitung anzeigte, entschied er sich, in der Gruppe zu verharren und wählte die Sicherheit. Ganz anders die Situation des jüdischen Jungen, der sich durch sein unangepasstes, rebellisches Verhalten gleichsam aus jeder möglichen Gemeinschaft herauskatapultiert hatte. Während im Falle Törleß die Identifikation mit dem Kollektiv die Individuation gefährdete, gelang es Goldschmidt durch seine homosexuelle Erfahrung sich in seiner Einmaligkeit zu entdecken, ein Prozess, der ihn schlagartig von intellektuellen Hemmnissen und Blockaden befreite. Seiner Entwicklung sind fortan keine Grenzen gesetzt.
Jean Améry hat in einem fiktiven »Gespräch über Leben und Ende des Herbert Törleß«[12] dessen weitere Entwicklung in Gedanken fortgesponnen. Törleß habe sich schon als Knabe konstituiert, heißt es da, »er nahm die Rolle eines Zerstörers der bürgerlichen Ordnung auf sich«.[13] Der erste Schritt, so die Deutung Amérys, war sein Antisemitismus, mit welchem er bereits sein sexuelles Begehren zu rechtfertigen suchte und jegliche Verantwortung von sich schob: Es scheint, so Améry, dass Törleß Basini »gewissermassen zum paradigmatischen … metaphysischen Juden gemacht« hat, indem er erklärte, Basini hätte ihn verführt, wie Mephisto den Faust, wie der Jude den Deutschen.«[14] Seine »schreckliche Indifferenz« machte ihn anfällig für den nazistischen Wahn, sein Weg als Mitläufer der Nationalsozialisten war gleichsam vorgezeichnet.

Georges-Arthur Goldschmidt, Jahrgang 1924, besuchte nach seiner Flucht aus Hamburg ein Internat in Savoyen und entging seiner Deportation nur dank der Hilfe von Bergbauern, die ihn in ihrem Hof versteckten. Nach seinem Abitur absolvierte er an der Pariser Sorbonne ein Deutschstudium und unterrichte an verschiedenen Gymnasien. Er lebt heute als Schriftsteller, Übersetzer und Essayist in Paris. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.

[1] Auszug aus einem Essay, der im Juni 2016 in der Zeitschrift »sans phrase« erscheint.
[2] Paul Nizon: Im Zweistromland der Sprache. Zur Autobiographie »Über die Flüsse«. In: Text und Kritik, München 2009, S. 19.
[3] Georges-Arthur Goldschmidt: Im Dialog mit Hans-Jürgen Heinrichs. Schwarzfahrer des Lebens. Frankfurt am Main 2013, S. 121.
[4] Siehe: sans phrase Heft 6, ca ira - Verlag, Freiburg 2015
[5] Georges-Arthur Goldschmidt: Über die Flüsse. Autobiographie. Zürich 2001, S. 175.
[6] Georges-Arthur Goldschmidt: Die Faust im Mund. Eine Annäherung. Zürich 2008, S.16.
[7] Georges-Arthur Goldschmidt:  Der Ausweg. Frankfurt 2014, S. 11.
[8] Georges-Arthur Goldschmidt:  George-Arthur Goldschmidt im Dialog mit Hans-Jürgen Heinrichs. Schwarzfahrer des Lebens. Frankfurt am Main 2013, S. 107.
[9] Georges-Arthur Goldschmidt: Die Befreiung. Frankfurt am Main, S. 178. f.
[10] Robert Musil: Die Verwirrungen des Zögling Törleß. In: Gesammelt Werke 6. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1978.
[11] Ebd: S. 110.
[12] Jean Améry: Gespräch über Leben und Ende des Herbert Törleß. In: Jean Améry Werke Bd. 7. Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Hrsg. v. Stephan Steiner. Stuttgart 2005
[13] Ebd. S. 71.
[14] Ebd. S. 64.