Zu den wichtigsten Prinzipien der internationalen Behindertenbewegung (Independent Living Movement oder Selbstbestimmt-Leben-Bewegung) zählt die Ablehnung und Bekämpfung der Medizinierung von behindertem Leben. Von der Norm abweichende Lebensformen werden bei diesem weit verbreiteten Ansatz als Krankheit eingestuft und entwürdigenden Therapien unterworfen, die die Grenze zur Gewalttätigkeit überschreiten. Nahezu jeder behinderte Mensch, der in den fünfziger bis neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufwuchs, kann Horrorgeschichten dieser Art erzählen.
Die Alliierten beendeten die massenhafte Ermordung behinderter Menschen, fortan wurde deren Lebensrecht nicht mehr bestritten. Wohl aber blieben die Lebensverhältnisse unter denen beeinträchtigtes Leben ablief, in hohem Maß prekär. Aussonderung und Ausgrenzung in Gesellschaft und Politik, Bildungs- und Gesundheitsapparaten waren die Regel. Tendenziell traten an die Stelle der auslöschenden Gewalt gegen beeinträchtigte Personen Formen institutioneller Gewalt, in Großheimen kam es auch zur Amalgamierung beider Formen.
Während im angelsächsischen und skandinavischen Raum wirksame Antidiskriminierungs-gesetze die Emanzipation behinderter Menschen stützen, zählt Österreich zu den Nachzüglern. So stellt die gemeinsame Schule behinderter und nichtbehinderter Kinder in Italien und damit auch in Südtirol seit vierzig Jahren eine Erfolgsgeschichte dar. Westlich und östlich des Brenners aber üben sich österreichische Schulbehörden in immer neuen Varianten der Aussonderung. »Sonderschulen« wurden in »Sonderpädagogische Zentren« und in »Zentren für Inklusiv-und Sonderpädagogik« umgetauft. Hinter letzteren verbergen sich »Allgemeine Sonderschulen« und »Sonderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung«. Ziel ist es, Kinder mit gleichartigen Behinderungsarten gemeinsam zu unterrichten. Anstelle einer gemeinsamen, inklusiven Schule für alle, wie sie die UN-Behindertenkonvention fordert, werden Kinder mit Behinderungen gemeinsam ausgelagert. Solcherart wird die Aussonderung auf die Spitze getrieben. Das Wort Inklusion ist in diesem Zusammenhang ein böser Schwindel. Weiterhin haben die institutionellen Interessen des Schulapparats Vorrang vor den Bedürfnissen der behinderten Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft; an den Stellungnahmen der Lehrergewerkschaft manifestiert sich dieser Befund immer wieder aufs Neue. Was sich in anderen Staaten seit mehr als einer Generation bewährt hat, ist und bleibt in Österreich Gegenstand immer neuer Schulversuche.
Sexualität überlebt auch in den dunklen Zeiten einer »schwarzen Pädagogik«[2]. Anstelle einer selbstbestimmten, lustbetonten Sexualität ist es aber eine Sexualität der Entmündigung, der Demütigung und des systematischen Mißbrauchs. Sexualität wird als permanente Menschenrechtsverletzung gelebt. Die selber betroffene Schweizer Psychologin und Autorin Aiha Zemp hat diesem Zusammenhang ihr Leben gewidmet. Ihre Bücher über weibliche Sexualität und Behinderung sind Standardwerke.[3]
Daß auch behinderte Menschen ein Recht auf Sexualität haben, ist ein zentraler Inhalt der Independent Living Bewegung, der internationalen Bürgerrechtsbewegung behinderter Menschen. Sie wendet sich gegen Paternalismus, Ausgrenzung, Bevormundung und Demütigung wie sie in Österreich an der für behinderte Menschen überaus schädlichen »Licht ins Dunkel« Mitleidskampagne beispielhaft nachvollziehbar ist.
Zu den üblichen Widersprüchen, die das Feld der Sexualität für alle Menschen prägen, treten bei behinderten Menschen zusätzliche Aspekte hinzu: Zu den wichtigsten zählen die Rahmenbedingungen für sexuelle Begegnungen und Aktivitäten. Das beginnt bei barrierefreien Räumlichkeiten und Zimmeraustattungen und zieht sich über fehlende Hilfestellungen über Zwangsmaßnahmen wie Sterilisierung oder das Vorenthalten von Verhütungsmitteln bis zur bewußten Torpedierung von Sexualität durch Pflege- und Betreuungsstrukturen.
Wenn Betten zu schmal und nur für eine Person geeignet sind, wenn in Institutionen (Heimen) die nötige Intimsphäre verweigert wird - oft unter dem Vorwand des Schutzes -, wenn Verhütungsmittel oder Hilfsmittel vorenthalten werden, mit einem Wort: wenn paternalistische Vorstellungen von behinderten Menschen dazu führen, daß die Betroffenen nur als Objekte des institutionellen Handelns erscheinen und nicht als vollwertiges Subjekte, als Persönlichkeiten mit Eigenheiten, Wünschen und Sehnsüchten – dann besteht das Menschenrecht auf Sexualität nur auf dem Papier. Ein selbstbestimmtes Leben und eine eigenständig gelebte Sexualität können sich nur unter dem Ausschluß von Aufpassern aller Art, Moralaposteln, Besserwissern und Geschäftemachern entfalten.
Ein weiterer Faktor, der das sexuelle Leben behinderter Menschen zusätzlich behindert ist deren schwach entwickeltes Selbstbewußtsein, die klischeehaften Bilder im Kopf. Behinderte und beeinträchtigte Menschen müssen Berge von paternalistischen Schutt wegräumen,
bevor sie sich ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten gemäß entwickeln können.
Die wenigen Initiativen in Österreich auf dem Gebiet »Sexualität und Behinderung« sind in hohem Maß ungenügend und halbherzig; sie sind sehr oft das Gegenteil von selbstbestimmter, lustvoller und grenzenloser Sexualität und stellen eine Verlängerung paternalistischer und aussondernder Praktiken dar. Blümchensex und Kuscheln, statt Sexualität ohne Vorgaben und Einschränkungen.
Das oben Gesagte trifft nicht nur für Menschen mit Behinderungen zu, auch Menschen mit chronischen Krankheiten sowie Menschen, die palliativ betreut werden, haben ein Recht auf Sexualität. Die Einschränkungen, denen sie unterliegen, sind jenen von behinderten Menschen sehr ähnlich.
Das Buch versammelt Artikel von Medizinerinnen und Medizinern, die sich mit einzelnen Krankheitsbildern im Kontext der Sexualität beschäftigen und Texte und Interviews mit behinderten Menschen in Deutschland und Österreich, die sich mit erstaunlicher Offenheit und großer gedanklicher Tiefe der Frage nach ihrer Lust stellen.