Frühjahr 2016:
»Die EU hat die türkische Regierung aufgefordert, die Menschen [an der syrisch-türkischen Grenze] passieren zu lassen. EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini erinnerte das Land am Samstag an seine ,moralische und rechtliche Pflicht‘, Schutzsuchenden zu helfen. Zugleich drängt die EU die Türkei, ihre Seegrenze mit Griechenland abzuriegeln, um die Flüchtlinge von der Weiterreise nach Europa abzuhalten.« (»Süddeutsche Zeitung«)
»Bundesratspräsident Stanislaw Tillich (CDU) hat von der deutschen Politik mehr Verständnis für Polen und andere mittel- und osteuropäische Staaten gefordert. […] ‚Wir glauben mitunter, das Verständnis von Demokratie, wie es sich in Deutschland oder Frankreich entwickelt hat, sei das einzig wahre. Aber wir sollten anerkennen, dass im Baltikum, in Polen, in Tschechien oder der Slowakei eigene Wege zum gesellschaftlichen Miteinander gegangen werden.‘ […] Als Bundesratspräsident wolle er einen Beitrag für ein besseres gegenseitiges Verständnis leisten. So plant er Reisen nach Polen, Ungarn und auch nach Russland.« (»Der Westen«)
»Nach dem Faschingsumzug im oberbayerischen Steinkirchen bei Pfaffenhofen ermitteln die Behörden wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Bei dem Umzug am Sonntagnachmittag war ein als Panzer dekorierter Wagen mit den Aufschriften ‚Ilmtaler Asylabwehr‘ und ‚Asylpaket III‘ sowie einem schwarzen Kreuz zu sehen. […] Der MDR berichtete von einem Umzugswagen beim Karneval in Wasungen in Thüringen, der einen »Balkanexpress« darstellen sollte. An der Spitze des Zuges stand auf einer Dampflok ‚Die Ploach kömmt‘, sprich, ‚die Plage kommt‘.« (»Tagesspiegel«)
Und währenddessen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendjemand von »unseren Werten« schwadroniert, denen sich gefälligst anzupassen habe, wer hierher kommt. Welche Werte das sein sollen, verbleibt dabei allerdings zumeist im Nebulösen. Die europäischen Werte, wie sie die EU am Beispiel des Umgangs mit der türkischen Regierung (die, das nur so nebenbei, ihr eigenes Land gerade in einen von den »europäischen Partnern« nach Kräften ignorierten Bürgerkrieg steuert und auch in ihrer Syrien-Politik nicht gerade als Friedensstifter agiert) kaum zynischer vorleben könnte? Das Demokratieverständnis eines im Hauptberuf übrigens als sächsischer Ministerpräsident tätigen Stanislaw Tillich? Die Promillewerte deutscher Karnevalisten?
Einige sachdienliche Hinweise geben die Vorkämpfer der ominösen Wertedebatte dann aber doch, an denen deutlich wird, dass »Werte« nicht neutral mit »menschlicher Anstand« oder wenigstens »sich nicht wie die Axt im Walde aufführen« zu übersetzen ist. Es ist ja kein Zufall, dass sich zwar Leute demonstrativ mit dem Adjektiv »wertkonservativ« behängen, aber niemand außerhalb dieses politischen Lagers es für nötig hielte, sich im Gegenzug als »wertprogressiv« zu bezeichnen. Und gehen die Werteverfechter doch mal näher ins Detail, kommen sie zumeist mit Schlagworten wie Heimat, Tradition und Nation (in den unverfroreneren Teilen dieses Spektrums auch schon mal durch ein knackiges »Volk« ersetzt) um die Ecke. Den eingeforderten Werten ein »abendländisch« voranzustellen, ist seit Pegida etwas aus der Mode gekommen (das dürfte sich aber mit dem Zusammenrücken von Mob und Elite unter dem Dach der AfD wieder ändern), dafür erfreuen sich die »christlichen Werte« ungebrochener Beliebtheit. Womit in 99,9 Prozent aller Fälle nicht die Inhalte der Bergpredigt gemeint sind, sondern eine verkorkste Sexualmoral, ein Familien- und insbesondere Frauenbild, die für Islamisten ein geringeres Integrationshindernis darstellen dürften als für, sagen wir mal, urdeutsche Neuköllner Hipster.
All diese Wertvorstellungen sind nicht nur einem stressarmen Zusammenleben unterschiedlichster Menschen wenig zuträglich, sie sind, zum Verdruss ihrer Fans, auch für niemanden verpflichtend. Das Grundgesetz, das in Deutschland ja zumindest offiziell noch immer die Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders bildet, hat mit Nation- und Heimatgedöns nichts am Hut1. Letztlich ist die sogenannte Wertedebatte also vor allem eines: eine Strategie, den gesellschaftlichen Diskurs weiter nach rechts zu verschieben.
Was nichts anderes bedeutet als den realen moralischen Verfall voranzutreiben, der längst so weit gediehen ist, dass er keiner öffentlichen Diskussion mehr wert ist. Die Sozialen Medien und Kommentarspalten ähneln ohnehin schon seit geraumer Zeit einem geistigen Tollwutbezirk, täglich werden irgendwo im Land Geflüchtete und ihre Unterkünfte angegriffen, und anstatt den grassierenden Rassismus und den allgemeinen Rechtsruck zu thematisieren, sieht der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen politischen Bildungsauftrag darin, in Dauerschleife TV-Talkshows zur »Flüchtlingskrise« zu veranstalten, in denen sich Vertreter einer Partei ausbreiten dürfen, deren Führungspersonal schon mal fordert, auf Asylsuchende zu schießen. (Mitglieder der beiden im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien sieht man in diesen Sendungen bezeichnender-weise seltener.)
Nicht Wenige fühlen sich durch das politische Klima mittlerweile an die Weimarer Republik erinnert, aber dieser Vergleich verbietet sich schon aus einem einfachen Grund: Damals gab es eine Linke als gesellschaftliche Kraft, mit der man rechnen musste. Heute fragt man sich: »Welche Linke?« Die Frontfrau der gleichnamigen deutschen Partei, Sahra Wagenknecht, versucht derzeit, ostdeutsche Traditionswähler mit Forderungen nach einer restriktiveren Asylpolitik von der AfD zurückzugewinnen (will man wirklich Schlüsse aus dem Weimar-Vergleich ziehen, dann wohl doch den, dass das Fischen im Völkischen nur katastrophal nach hinten losgehen kann), und auch sonst muss man die aufklärerischen Inhalte dieser Partei zwischen Querfrontambitionen und Israelhass mit der Lupe suchen. Die akademische Linke debattiert darüber, wie man Nazis diskriminierungsfrei beleidigt, und die kläglichen Reste der autonomen Szene werden zwischen praktischer Flüchtlingssolidarität, Demonstrationen gegen rechte Aufmärsche und einer Welle von Räumungen und Polizeischikanen gegen selbstverwaltete Projekte2 aufgerieben.
Kein Wunder also, dass derzeit zwar viel über »Werte« gekräht wird, ein ganz anderer Wertbegriff aber offenbar komplett in Vergessenheit geraten ist der helfen könnte, die herrschende Misere zu erklären. Wenn es aber einen Wert gibt, der tatsächlich als gemeinsames Fundament der Gesellschaft gelten darf, dann ist das immer noch der Mehrwert.
Ein gesellschaftliches Mehrprodukt, also Güter, die über den Bedarf der Produzenten hinaus produziert werden, wurde auch in früheren Zeiten erwirtschaftet; die Besonderheit des Kapitalismus ist allerdings, dass dieses nicht in den Unterhalt von Fürstenhäusern fließt oder, was ja auch mal eine Idee wäre, gerecht unter allen verteilt würde, sondern »bei Strafe des Untergangs« (Marx) zum Selbstzweck geworden ist: dem Mehrwert, der einzig dazu dient, noch mehr Mehrwert zu generieren. Dieses kapitalistische Hamsterrad ist der Grund, warum »nur« sieben Prozent Wirtschaftswachstum in China eine schlechte Nachricht sind. Der Mehrwert wiederum, im Wirtschaftsdeutsch besser bekannt als Profit, entsteht laut Marx durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, die dadurch zu einer begehrten Ware wird - und für die meisten Menschen auch das einzige ist, was sie zu verkaufen haben.3
In einer Gesellschaft, die den Wert von Menschen an ihrer Verwertbarkeit misst, ist die Unmenschlichkeit immer schon angelegt, und in der Krise erodiert die dünne Schicht an Zivilisation darüber schneller, als man »tendenzieller Fall der Profitrate« sagen kann. Es wäre zwar sträflich eindimensional, um nicht zu sagen: vulgärmarxistisch, alles, was auf diesem Planeten gerade so schrecklich schiefläuft, mit dem Kapitalismus im Allgemeinen und der seit 2008 nicht mehr so richtig in Tritt gekommenen Weltwirtschaft im Speziellen zu erklären, aber dieser Faktor ist auch nicht zu unterschätzen. Islamisten hätten ein Rekrutierungsproblem, gäbe es in der arabischen Welt und den europäischen Vorstädten nicht allzuviele von den Verheißungen des Kapitalismus Abgehängte; der protofaschistische deutsche Normalbürger säße brav zuhause und beschimpfte den Fernseher, würden seine Vorurteile nicht durch reale Abstiegsängste befeuert; ohne Spardiktate flöge uns die Europäische Union nicht um die Ohren.
Warum die Leute in Krisenzeiten zum Überschnappen neigen statt dazu, gemeinsam nach Lösungen – einer menschenfreundlichen Wirtschaftsform zum Beispiel - zu suchen, erklärt der Traditionsmarxismus leider nicht (die Verelendungstheorie erhoffte sich reichlich zynisch ja sogar das Gegenteil). Gerade also in einer Zeit, in der eine Debatte über Mehr- und andere Werte unter dem Motto »Sozialismus oder Barbarei« dringend angebracht wäre , mangelt es an potentiellen Teilnehmern. Gerade deshalb darauf zu beharren, ist aber der vielleicht einzige Weg, ganz nach Adorno, »weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen«, beziehungsweise, inmitten einer an sich selbst irre werdenden Menschheit nicht selber den Verstand zu verlieren.