Der radikale Stil

Wie Jacob Taubes an der Freien Universität Berlin die Postmoderne mitbegründete. Teil I.

Dass die Postmoderne in der Bundesrepublik sich von einer akademische Sekte zum gesellschaftlichen Mainstream verwandeln konnte, ist nicht zuletzt dem Sohn einer rabbinischen Gelehrtenfamilie zu verdanken, der im Schweizer Exil Geschmack am gefährlichen Denken fand. 1936 war der damals dreizehnjährige Jacob Taubes mit seiner Familie von Wien nach Zürich gezogen, wo sein Vater zum Oberrabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde (ICZ) berufen worden war. Der ICZ, die 1882 nach der Aufhebung rechtlicher Diskriminierung der Schweizer Juden gegründet worden war und die größte jüdische Gemeinde des Landes vertrat, gehörten neben einer Synagoge in Zürich mehrere Friedhöfe sowie eine Bibliothek. Für Jacob Taubes‘ Vater Zvi wurde es durch den Umzug in die Schweiz möglich, den Weggang aus dem angesichts des wachsenden Einflusses der nationalsozialistischen Bewegung gefährlich gewordenen Wien mit einem beruflichen Aufstieg zu verbinden. Die prekären Bedingungen, unter denen jüdische Akademiker nach der Emigration oft jahrelang leben und arbeiten mussten, konnten so zumindest abgemildert werden.

Davon profitierte Jacob Taubes, der 1943 die Ausbildung zum Rabbiner abschloss und in Zürich und Basel Philosophie und Geschichte studierte. Obgleich sein Bildungsweg ihn dazu prädestiniert hätte, der Tradition entsprechend später einmal seinem Vater im Rabbineramt nachzufolgen, ließ sein philosophisch-historischer Werdegang einen anderen, zeitgenössisch gebrochenen Blick auf das Judentum wie auf die christlichen Theologien in ihm entstehen. Der Katholizismus wurde Taubes von dem jesuitisch geprägten Luzerner Theologen Hans Urs von Balthasar nahegebracht, die Evangelische Theologie durch den Reformtheologen Karl Barth, der während des »Dritten Reichs« die Bekennende Kirche unterstützt und von der Schweiz aus verfolgten Juden geholfen hatte. Schon in dieser Zeit war Taubes‘ geistiges Interesse gespalten zwischen dem Wunsch nach einer Fortsetzung und Reaktualisierung religiöser Traditionen und einem scharfen Bewusstsein um deren Uneinholbarkeit angesichts einer Gegenwart, die jede unmittelbare Berufung auf theologische Wahrheit zu desavouieren schien. Taubes‘ 1947 in Zürich eingereichte Dissertation »Abendländische Eschatologie« war der Versuch, diesen Zwiespalt zum Ausdruck zu bringen und im Namen einer Erneuerung politischer Theologie angesichts einer krisenhaften Gegenwart aufzuheben.

Mit polemischer Spitze gegen Karl Löwiths Versuch, in der jüdischen und christlichen Theologie selbst bereits ein historisches Bewusstsein auszumachen, das im Zuge der abendländischen Geschichte zur Selbsthistorisierung von Theologie und Philosophie geführt habe, suchte Taubes in seiner Schrift Elemente christlicher und jüdischer Apokalyptik, insbesondere des Messianismus und der Gnosis, in einem Dezisionismus zu revitalisieren, der eine Antwort auf die Erfahrung misslungener Säkularisierung sein sollte. Zentral waren dabei der apokalyptische Gedanke der Endzeit und dessen philosophisch-politische Konsequenz, die Nötigung zur Entscheidung unter dem Druck der Krisis. Exemplarisch – und in der nötigenden Rhetorik charakteristisch – formulierte Taubes in seiner Schrift: »Zeit heißt Frist. Wer christlich zu denken glaubt und dies ohne Frist zu denken glaubt, ist schwachsinnig.« Die geschichtsphilosophische Kategorie der Entscheidung, die gegen einen als schal empfundenen Liberalismus und Demokratismus ausgespielt wurde; die Neigung, auf die Erosion der Begriffe von Fortschritt und Revolution mit einer Fusionierung von Politik und Theologie zu reagieren; die Tendenz, theologische und metaphysische Denkfiguren unmittelbar gesellschaftlich aufzufassen – all das verband Taubes mit einem Freund, mit dem er zur Zeit der Entstehung der »Abendländischen Eschatologie« im Austausch stand: mit dem drei Jahre älteren Schweizer Armin Mohler.

Ende der dreißiger Jahre hatte sich Mohler als »Salon-Kommunist« gesehen, war jedoch 1942 nach Einberufung in die Schweizer Armee – getrieben von der Verachtung für seine als kleinbürgerlich empfundene Heimatstadt Basel – desertiert, um die deutsche Grenze zu überqueren und sich der Waffen-SS anzuschließen. Mohlers intellektuelle Vorbilder in jener Zeit waren Oswald Spengler und Ernst Jünger, dessen Privatsekretär er 1949 wurde – im selben Jahr, als er bei Herman Schmalenbach und Karl Jaspers in Basel mit einer Arbeit über die »Konservative Revolution« promoviert wurde, die noch heute als Standardwerk zum Thema firmiert. Die Haltung, politischen Extremismus jeglicher Couleur als Ausdruck des Protests gegen ein dumpfes Kleinbürgertum und gegen die Nivellierungstendenzen der Massengesellschaft zu sehen, verband Taubes nicht nur mit Mohler, sondern auch mit Carl Schmitt, dessen politische Theologie Taubes, lange bevor Giorgio Agamben auf diesen Zug aufsprang, Walter Benjamins politischem Messianismus an die Seite stellte. Auch wenn das Gerücht einer geistigen Faszination Benjamins durch Schmitt, das im Milieu des postmodernen Fundamentalismus à la Agamben oder Badiou bis heute wiederholt wird, widerlegt ist – am triftigsten durch den Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann –, verdankt sich seine Haltbarkeit einer historischen Wahrheit, die von postmodernekritischen Benjamin-Apologeten oft verdrängt wird. Benjamins politischer Messianismus und Schmitts politische Theologie hatten nämlich zumindest ideengeschichtlich einen ähnlichen Ursprung: jenen heroischen Dezisionismus, den der Taubes-Schüler Norbert Bolz 1989 in seiner Habilitationsschrift »Auszug aus der entzauberten Welt« affirmativ und apologetisch als »philosophischen Extremismus zwischen den Weltkriegen« gekennzeichnet hat.

Dass auf eine Epoche ökonomischer und politischer Krisen angemessen nicht mit Reformen, sondern nur dadurch zu reagieren sei, dass die Krisen bis zu jenem Punkt getrieben würden, da jeder Einzelne sich in die Entscheidung zwischen Revolution oder Niedergang gestellt sehe – dieses Denken auf des Messers Schneide, der Tathandlung und des Entweder-Oder bildete den Hintergrund, vor dem sich Schmitts Dezisionismus und Benjamins revolutionärer Messianismus in ihrer Gegensätzlichkeit entwickelten. Die neutrale Schweiz fungierte seit dem Ersten Weltkrieg als politisch-kulturelles Konservatorium, in dem aus Deutschland wie von andernorts ausgewanderte Traditionen überwintern und ihr eigenes realgeschichtliches Dementi ungestört überleben konnten. Ab 1914 war das Land zum Exilort von Kriegsgegnern und Deserteuren aus verschiedensten Staaten, gleichsam zu einem Europa der Dissidenten en miniature geworden. Der Dadaismus, eine Sammlungsbewegung pazifistischer europäischer Avantgarde-Künstler, fand hier im von Hugo Ball und Emmy Hennings in Zürich gegründeten Cabaret Voltaire seine Institution, hier trafen Schriftsteller und bildende Künstler aus dem Umfeld des Expressionismus auf russische Kommunisten um Lenin, der seine Kritik an der II. Internationale und am Primat der »Vaterlandsverteidigung« ab 1914 im Schweizer Exil formulierte. Hier wohnten aber auch Autoren der Inneren Emigration und des konservativen Bürgertums wie Hermann Hesse und Thomas Mann, der zwischen 1933 und 1938 im Schweizer Exil lebte und 1952 von den USA aus wieder in das Land zurückkehrte.

Dadurch wurde die Schweiz in der Zeit zwischen den Weltkriegen zu einem Ort merkwürdiger geistiger Hybridbildungen, von denen die Entwicklung des Kriegsgegners Hugo Ball zum fundamentalistisch-katholischen Schmittianer eine der bemerkenswertesten war. Auch Taubes‘ intellektuelle Physiognomie, insbesondere sein Talent zur Kombination gegensätzlicher Denkströmungen, wäre ohne seine frühe Schweizer Erfahrung wohl kaum möglich geworden. Sein Wechsel nach New York, wo er zwischen 1949 und 1951 am Seminar für Jüdischer Theologie lehrte und neben dem Schmitt-Schüler Leo Strauss auch Hannah Arendt kennenlernte, die für Taubes‘ Versuche prägend wurde, Benjamins Messianismus gegen die Kritische Theorie auszuspielen, hat dieses Talent bestärkt. Zwischen 1951 und 1953 war Taubes auf Einladung Gershom Scholems Gast an der Hebräischen Universität Jerusalem, ging wieder zurück in die USA und wurde schließlich 1966 Ordinarius für Judaistik und Hermeneutik an der Freien Universität Berlin. Dieser Wechsel, gleichzeitig mit den Anfängen des Achtundsechziger-Aufbruchs vollzogen, war Resultat eines Zerwürfnisses zwischen Taubes und Scholem, das symptomatisch für die Problematik von Taubes‘ Denken stand. Anlass war Taubes‘ Kritik an Scholems vermeintlich zu schroffer Entgegensetzung von christlichem und jüdischem Messianismus, der Taubes eine Rückführung beider Messianismen auf verwandte Quellen entgegenhielt, wie er es in seiner in seinem Todesjahr 1987 erschienenen Vorlesungsreihe »Die politische Theologie des Paulus« entfaltete.

Dem Zerwürfnis zugrunde lag jedoch Taubes‘ Auffassung des Verhältnisses von Religion und Geschichte, das mit Scholem unvereinbar war. Taubes‘ Interesse an der Geschichte der jüdischen wie christlichen Theologie stand letztlich immer unter dem Primat der Aktualisierung, mithin der »Politik«. Scholems historisierender Zugang etwa zur jüdischen Kabbala, der es ausschloss, deren Wahrheitsgehalt unabhängig von der Entfaltung ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen zu erfassen, erschien ihm als kalt und neutralisierend. Dass Scholems Verständnis von Religionsgeschichte die Zäsur des deutschen Antisemitismus und des Holocaust zugrunde lag und dass diese Erfahrung Scholem gegen jeden Versuch einer Aktualisierung politischer Theologie immunisierte, scheint Taubes sich nicht klargemacht zu haben. Vielmehr hielt er an Gedankenfiguren des »philosophischen Extremismus« der Zwischenkriegszeit, wie er sie historisch konserviert in der Schweiz kennenlernt hatte, in der Gegenwart weiterhin fest. Insofern wohnte Taubes‘ Pathos der Erneuerung und der Aktualisierung selbst ein restauratives Moment inne.

So konfliktreich die Beziehungen von Scholem zu den Exponenten der Kritischen Theorie waren, in der Auffassung, dass auch die theologische Wahrheit einen Zeitkern habe, mithin nicht unabhängig von ihren jeweiligen zeitgenössischen Ausprägungen verstanden werden könne, war Scholem der Kritischen Theorie näher als Taubes, der unter Aktualisierung von Theologie ein Geltendmachen ihres Totalitätsanspruchs in der jeweiligen Gegenwart verstand. Dieser unterschiedlichen Einschätzung des Verhältnisses von Geschichte und Aktualität entsprach ein Unterschied der Temperamente, der mit der depressiven Erkrankung, an der Taubes litt, nicht hinreichend erklärt werden kann. Vielmehr avancierte Taubes in der Bundesrepublik der sechziger Jahre zum postmodernen Enfant terrible avant la lettre: unberechenbar und zu Wutausbrüchen neigend, eine genialische Persönlichkeit fast ohne Werkkorpus (neben der »Abendländischen Eschatologie« und den Paulus-Vorträgen liegt unter dem Titel »Vom Kult zur Kultur« nur eine posthum erschienene Aufsatzsammlung vor), wurde er innerhalb der FU auf dem Gebiet der Hermeneutik zum Antagonisten des nicht minder schwierigen, aber sehr viel introvertierteren Peter Szondi, auf dem Gebiet der Judaistik zum Wegbereiter einer neuen historischen Anthropologie, in deren Windschatten sich eine mit einem schmittianisierten Walter Benjamin ausgerüstete Postmoderne anschickte, die Kritische Theorie zu beerben und vermeintlich an Radikalität zu überholen. In den mehr als zwanzig Jahren, die Taubes an der FU lehrte, bildetet sich dort unter seinen Schülern und Mitstreitern – neben Norbert Bolz auch Dietmar Kamper, Thomas Macho, Gerburg Treusch-Dieter und Christoph Wulf – ein eigener Denkstil heraus, der gerade dadurch, dass er als radikalere und zeitgenössischere Variante der in Berlin ebenfalls akademisch stark vertretenen Kritischen Theorie erschien, deren allmähliche Beerdigung einleitete.

Der II. und letzte Teil des Textes folgt in der kommenden Versorgerin

Der schreibende Paulus in einer frühmittelalterlichen Ausgabe der Paulusbriefe (Bild: Public Domain)