Das Projekt Jugoslawien wird von den Profiteuren seiner Nachfolgestaaten gerne als widernatürliches Zusammenzwingen unvereinbarer nationaler Interessen diffamiert, als ein zum Scheitern verurteiltes Kunstprodukt, das uralte Ethnien nicht nur in eine Art sozialistischen Völkerkerker sperrte, sondern durch die Metaidentität des Jugoslawismus auszulöschen trachtete. Und nicht wenige Südosteuropaexperten, die diese Anti-Expertise teilen. Natürlich verhält es sich genau umgekehrt. Eine ethnohistorische Spurensuche.
Der Jugoslawismus, im Sinne einer gemeinsamen südslawischen Identität, ging der Konstitution der heute bekannten Nationalvölker voraus. Im Zeitraum von 1000 bis 1850 sind beinahe alle dokumentierten Identitätsbekundungen entweder lokal oder pan- und südslawisch. Die Vorstellung der Ursprünglichkeit der heute anzutreffenden Nationen würde, stellten wir uns die Evidenz der historischen und literarischen Fakten martialisch und passend balkanisch als Maschinengewehrgarben vor, durchsiebt in sich zusammenbrechen wie Bonnie, Clyde und Franz Ferdinand. Dass die slawophonen Menschen des Balkanraumes eine gemeinsame Abstammung und Sprache teilten, zumal mit vielen Dialekten, war bei Literaten wie Illiteraten unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Weder der Mensch um 1100 noch der um 1800 würde auch in Südosteuropa die nationale Landschaft des 20. Jahrhunderts verstehen, und sich krummlachen darüber, dass deren Ideologen je 1000-jährige Geschichten für sich beanspruchen.
Die einzigen Menschen, denen eine Jugonostalgija wirklich zusteht, sind jene, die Jugoslawien erlebt haben. Nur in einem Land wird Jugoslawe auch von der älteren Generation als Schimpfwort aufgefasst: in Kroatien. Aus diesem Grund soll hier den Kroaten die Ehre zuteilwerden, mit ihrer angeblichen Geschichte bekannt gemacht zu werden sowie der Geschichte des panslawischen Bewusstseins Südosteuropas. Denn das Exempel, das dieser Text an den Kroaten exerzieren wird, könnte jedem postjugoslawischen Staatsvolk blühen, und in weiterer Folge jeder Nation dieser Welt. Ein paar Schlaglichter nur auf ein komplexes geschichtliches Gefüge.
Eines sei vorausgeschickt: Die Künstlichkeit nationaler Narrativa ist ein Tabu. Bei den Nationalisten aus naheliegenden Gründen, bei den Diskurskritikern, weil das Andere zur Künstlichkeit ja Echt- oder gar Wahrheit wäre, und diese Naivität verbittet man sich, denn schließlich sei doch alles konstruiert und diskursiv vermittelt. Wenn es sich mit allem aber so verhält, dann logischerweise auch mit nichts. Und diesen Systemfehler, diesen Selbstwiderspruch soll man sich ruhig zunutze machen, historische Unwahrheit unverdrossen beim Namen zu nennen. Das muss bei weitem noch nicht zu einer Substantialisierung historischer Wahrheit führen.
Istrier, Slawonier, Dalmatier waren keine Kroaten – nicht mal die Kroaten waren welche
Zugegeben, die Kroaten hatten es im Gegensatz zu den von ihnen anfangs hofierten Konkurrenten, den Serben, besonders schwer. Während diese als erste Selbstbefreier von dynastischer Vormacht, jener der Osmanen, den Anspruch eines Piemont des Balkans stellten und auch bald mit dem daraus abgeleiteten offensiven Selbstbewusstsein auftraten, war der kroatische Nationalismus nach seinen panjugoslawischen und zutiefst humanistischen Anfängen ein Chauvinismus der Defensive, des kleinstädtischen Ressentiments in der Peripherie ungarischer und österreichischer Bevormundung. Nicht dass die Serben als homogene Ethnie nicht ebenso konstruiert wären wie die Kroaten, doch die Komponenten des serbischen Teiges waren weniger widersprüchlich. Das kroatische Narrativ musste vier disparate historische Domänen – Kernkroatien, Slawonien, Istrien und Dalmatien – sowie alle Varietäten der serbokroatischen Sprache – Kajkavisch, Čakavisch, Štokavisch sowie alle Subvarianten letzterer: Ijekavisch, Ekavisch und Ikavisch – zu einer ethnischen Einheit auf konfessioneller Basis zwingen. Vom riesigen Substrat der romanischsprachigen nomadisierenden Wlachen ganz abgesehen, welche Istrien, das dalmatinische Hinterland, die Lika, die Krbava und die gesamte Militärgrenze in ständig neuen Schüben vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert besiedelten.
Der Balkanologe und Byzantinist John Van Antwerp Fine Jr. hat das Grunddilemma folgendermaßen zusammengefasst: »Viele Historiker sind nach folgendem Muster verfahren, zumeist unbewusst: Jemand schreibt über Kroatien; es gibt einen kroatischen König; auch seine Truppen werden als kroatisch bezeichnet; unbekümmert nennt der Wissenschaftler die Untertanen Kroaten. Und diese Subjekte verwandeln sich schrittweise in jene aktuellen Kroaten, wie sie der Autor im Kopf hat, obwohl die meisten der beschriebenen Menschen nichts davon wussten, Kroaten zu sein. Und obwohl sie in einer kroatischen Armee dienten, mögen sie Wlachen, Italiener, und im Falle von Protoserbokroatischsprechern, Leute gewesen sein, die sich Slawen oder Splićani (Bewohner von Split) nannten. Es gab Kroaten im 19. Jahrhundert und Menschen, die im Mittelalter so genannt wurden. Der moderne Historiker hält sie für ein und dasselbe Volk.«
Deren Nennungen sind im Mittelalter jedoch ebenso rar wie die um 1800. Zu diesem Ergebnis kam John V.-A. Fine jr. in einer ermüdend detailreichen Studie zu allen zur Verfügung stehenden slawischen, venezianischen, byzantinischen, ungarischen und österreichischen Quellen zwischen 900 und 1800, welcher er den programmatischen Titel When Ethnicity Didn’t Matter gab.
Doch was weiß, mag der hauptberufliche Kroate bzw. Hobbyslawe nun einwenden, ein Yankee-Historiker schon über uns? Alles! Denn er hat die notwendige Distanz zu euren Märchen. Ich würde auch am ehesten Büchern über österreichische Geschichte trauen, die von Inuit-Historikern verfasst wurden. Doch man sollte der kroatischen Historiografie nicht Unrecht tun, denn sie hat schon vor 1900 großartige und gegenüber der »eigenen« Geschichte unvoreingenommene Historiker_innen wie Svetoslav Jagić und Vekoslav Klaić hervorgebracht, sowie dessen Enkelin Nada Klaić oder Luja Margetić und Miroslav Bertoša im 20. Jahrhundert. Und auch Ivo Banac und Ivo Goldstein waren seriöse Wissenschaftler, ehe sie zu schreiben begannen, was die Staatshistoriografie von ihnen erwartete.
Als Ethnizität wirklich keine Rolle spielte
Der Erste, der Kroaten erwähnte, war der byzantinische Kaiser und Historiker Konstantinos Porphyrogenetos im 10. Jahrhundert. Er war aber auch der einzige. Auch war er derjenige, der die Lehrmeinung der zwei slawischen Einwanderungswellen in Umlauf setzte. Die Kroaten hätten sich im oberen Dalmatien, Serben im unteren festgesetzt. Der Erste, der diese zwei Einwanderungswellen anzweifelte, war der wohl bedeutendste kroatische Slawist Jatroslav Jagić (1836–1923). Er nahm Vuk Karadžićs Beobachtung auf, dass Serben und Kroaten im Grunde genommen dasselbe Volk unter verschiedenen Namen waren. Jagić ging von einer sukkzessiven slawischen Einwanderung aus, Kroaten und Serben seien nur zwei von verschiedenen Stämmen gewesen, deren Namen sich eben erhalten hätten. Jagić legte weiter dar, dass die Untertanen der diversen politischen Einheiten, die sich nach der slawischen Landnahme bildeten, keine ethnischen Gruppen bildeten. Allem Anschein nach waren Kroaten im zehnten Jahrhundert Mitglieder einer dünnen Aristokratenschicht, Kroate war eine soziale Kategorie, der Rest der Bevölkerung verstand sich schlicht als Slawen und wurde als solche bezeichnet.
Auch wenn die Dokumente der frühen kroatischen Dynastien ab dem 9. Jahrhundert, die mal von Königreichen, mal von Herzogtümern und Banschaften sprechen, späteren Datums sind beziehungsweise Abschriften älterer Dokumente, zweifellos hat es eine kleine, aber mächtige feudale Domäne gegeben, die Kroatien genannt wurde, und die beschränkte sich stets auf das Dreieck zwischen Senj, Karlovac und Zadar, beinhaltete also das Velebitgebirge sowie die unwegsamen Regionen Lika und Krbava.
Kroatisch als Fremd- und Selbstbezeichnung würde bis ins 19. Jahrhundert äußerst selten sein, und beinahe nie im Sinne einer ethnischen Kategorie. Die Selbstattribuierung kroatisch tritt dann auf, wenn mobile Menschen – Händler, Geistliche, Intellektuelle, Studenten und Soldaten – in Dalmatien, Slawonien, Italien und Habsburger Ländern oder an den Universitäten Europas auf ihre Herkunft verweisen. Wie überall sonst bekommt diese territoriale Identifizierung allmählich ein ethnisches Flair, es würde aber noch bis Ende des 19. Jahrhunderts dauern, ehe die Ethnisierung der Kategorie Kroate zumindest beim Bürgertum qua nationalistischer Schulbildung abgeschlossen ist.
Die Banschaft Kroatien, ab 1102 nominell ein der ungarischen Krone assoziiertes Vizekönigtum, war ökonomisch hinter den Städten Dalmatiens und dem fruchtbaren Slawonien weit zurückgefallen, dominierte aber durch ein auf seine Titel pochendes Magnatentum und die stärkste militärische Präsenz. Kroaten würden bis ins 19. Jahrhundert mit ausgeprägtem aristokratischen Ethos und schlagkräftigen Truppen assoziiert werden. Kroatische Söldner, geborene Bergkrieger aus Velebit und Lika, würden sich auf den Schlachtfeldern Europas bewähren. Der Kern dieses kriegerischen Kroatentums waren aber pastorale Wlachen, zumeist orthodoxen Glaubens und zum Teil Vorfahren der Krajina-Serben. Die mächtigsten Sippen der Frankopani und Zrinskis verstanden sich indes als Vertreter des ungarischen Hochadels, und ihre Genealogien leiteten sie von altrömischen oder italienischen Patriziergeschlechtern ab.
Nicht nur sah sich kein einziger Bauer als Kroate, sondern war dieser überhaupt vom vorbürgerlichen Konzept der nationes ausgeschlossen. Der Bauer, jenes Rückgrat der Nationalseele, zählte anders als Adel, freie Städte und halbfeudale Bergcommunitys nicht zur Nation, die im Mittelalter als ständische Kategorie verstanden wurde.
Mit der Zentralisierung dynastischer Macht im 17. und 18. Jahrhundert schlug sich das Kapitel adeliger Aufstände gegen die Zentralgewalt auf. Dass diese als nationale Erhebungen missdeutet werden, ist nationalistisches Business as usual. Besonders peinlich aber, wenn Linke, vernebelt vom Kulturalismus der unterdrückten Völker und slawischer oder magyarischer Freiheitsromantik, darin antiimperialistische Ambitionen erkennen wollen. Das gesamte 18. Jahrhundert hindurch versuchten die Habsburger in ihren östlichen Domänen die Sklaverei abzuschaffen. Der Widerstand der Magnaten gegen die Zentralmacht, der ungarischen Rákóczys oder der kroatischen Zrinskis etwa, diente der Verteidigung ihrer Privilegien, vor allem des Privilegs, die eigenen Bauern wie Vieh oder schlimmer zu behandeln. Kein Wunder, dass die Bauern dieser Regionen en masse zu den Osmanen überliefen, bei denen die Bedingungen nachweislich besser waren.
Vom Mittelalter bis spät ins 19. Jahrhundert haben Bauern sich gegen Herrschaft erhoben, gegen Feudalherren, Äbte, Popen, Paschas, Steuerpächter – und nie war diesen Rebellionen nur irgendeine nationale Programmatik eigen. Wo immer sie aufstanden, waren die Insurgenten gemischtsprachig und interkonfessionell: Von der Steiermark bis Dalmatien revoltierten Schulter an Schulter deutschsprachige und slawische Bauern, katholisch und orthodox, in Bosnien, Mazedonien und Bulgarien christliche und muslimische. Es waren reine Klassenkämpfe ohne das kulturalistische Make-up des 19. und 20. Jahrhunderts, das heute von einer kritischen Ethnologie und Geschichtswissenschaft mühsam abgeschminkt werden muss.
Ein anderer Drall der Geschichte, und die disparaten Regionen Kroatiens hätten eigene Staaten werden können. Wichtige Geburtshelfer der kroatischen Identität waren die Osmanen und die Ungarn. Erstere, weil sie im 16. Jahrhundert die Hälfte Slawoniens usurpierten, und die andere Hälfte von den Habsburgern kroatischer Verwaltung unterstellt wurde, letztere, weil sich dieses Kernkroatien aus Protest gegen Wiens Zentralisierungspolitik um 1790 dem ungarischen Reichstag unterstellte und sich prompt mit einer frühnationalistischen Magyarisierungspolitik konfrontiert sah. Ohne die Standardisierung einer kroatischen Sprache wäre aus den Sprechern dreier unterschiedlicher Dialekte – Štokavisch, Kajkavisch und Čakavisch – kein Volk geworden. Und wäre das konfessionelle Primat nicht stärker als das linguistische gewesen, hätten die Kajkavisch und čakavisch sprechenden Gebiete mit ihren nördlichen Nachbarn vielleicht zu einem größeren Slowenien verschmelzen können.
Illyrer und Slawen
Herrschaftsgebiete wandelten sich durch die Jahrhunderte, weiteten ihre Grenzen aus, verloren sie, gingen in größeren Domänen auf, oder zersplitterten sich in kleine. Die bulgarischen und serbischen Königreiche waren die erfolgreichsten und größten. Doch gaben sie kaum die Basis für eine kulturelle Identität ab. Weder die Subjekte des serbischen, des kroatischen, bosnischen noch bulgarischen Königs waren ethnische Kroaten, Serben, Bosnier oder Bulgaren. Bis weit ins 20. Jahrhundert würden Bauern dahingehende Fragen von Ethnographen und Reisenden schlicht nicht verstehen. Dennoch gab es in der Außen- wie Innenwahrnehmung des Balkans das selbstverständliche Bewusstsein einer sprachlichen und kulturellen Verwandtschaft, welche sich aber nie essenzialisierte, da sie von zu vielen anderen Identitäten gekreuzt wurde.
Der Stimulus eines südslawischen Bewusstseins ging von Dalmatien aus, dessen Städte seit dem 14. Jahrhundert eine zivilisatorische Hochblüte erlebten, welche auch als Dalmatinische Renaissance bezeichnet wird. Im Jahr 1524 hielt der Humanist und Historiker Vinko Pribojević eine denkwürdige Rede vor seinen Landsleuten auf der Insel Hvar, worin er die Schönheit der slawischen Sprache pries und eine panslawische Identität propagierte. Er nannte diese Kultur illyrisch. In seiner Aufzählung gedachte er »großer Illyrer« wie Alexander des Großen oder des Marko Kraljević, eines Vasallen des Sultans. Doch erwähnt er keinen einzigen kroatischen König.
Seit dem 15. Jahrhundert verbreitete sich der Begriff Illyrer für die Südslawen. Wie denn das? War Illyrer denn nicht die antike Bezeichnung für die Stämme des Westbalkans und berufen sich die Albaner nicht auf illyrische Abstammung? Zunächst war zu dieser Zeit das byzantinische Wissen um die slawischen Einwanderungen in Vergessenheit geraten und hielt man Slawen für die Ureinwohner des Balkans. Des Weiteren begann das gebildete Europa des Humanismus, welches sich auf Römer und Griechen zurückbesann, in ersten nationalen Selbstverortungen weitere alte Völker zu revitalisieren. Deutsche Humanisten gefielen sich in Tacitus’ Germanen, ungarische Hofbeamte bemühten sich um eine Neubewertung der eigentlich verhassten Hunnen und Krakauer Humanisten hatten dem zahlreichen polnischen Adel den Floh ins Ohr gesetzt, dass sie vom iranischen Reitervolk der Sarmaten abstammten. Dalmatinische Intellektuelle wirkten auch an der Universität von Krakau, und so entdeckten diese die Illyrer als ihre Ahnen. Anders als der Hunnen- und Sarmatenmythos aber, mit dem der deklassierte polnische und magyarische Kleinadel durch Selbstarchaisierung den westlichen Zentralisierungs- wie Bildungstrends trotzen wollte, blieb der frühe Illyrismus der Stadtstaaten frei von feudaler Ideologie und war der Versuch, nach italienischem Vorbild die slawophonen Regionen kulturell und intellektuell zu vernetzen. Eine nationalstaatliche Interpretation
ließ noch Jahrhunderte auf sich warten, wenngleich der katholische Panslawist Juraj Jurišić im 17. Jahrhundert mit russischer Suzeränität liebäugelte.
Paul Ritter Vitezović aus Senj erstellte in seiner 1689 publizierten Gedichtreihe eine Typologie jener Völker und Mächte, die im Kampf gegen die Türken vereint werden könnten und reproduzierte die – stets uneinheitliche – Ethnographie seiner Zeit: Deutsche, Italiener und Griechen, Illyrer, Spanier und Sarmaten. Unter Sarmaten verstand er die Länder Russland, Litauen und andere baltische Regionen, Polen und Moldawien. Mit seiner Differenzierung, was er unter Illyrien versteht, liefert er den klaren Beweis, was zu dieser Zeit als Kroatien aufgefasst wurde und was nicht. Illyrien gliedere sich in: Albanien, Bosnien, Bulgarien, Dacia/Wallachia, Dalmatien, Epirus, Herzegowina, Istrien, Kroatien, Mazedonien, die Republik Ragusa, Serbien, Slawonien, die Slawonischen Marschen (?), Thessalien, Triest, den Bezirk Zagreb sowie das Innere und Äußere Zeta (Montenegro). Beigefügt ist eine Liste dalmatischer Städte (wie Split und Trogir) und autonomer Regionen (Krbava, Senj). Die damals »slowenischen« Regionen Carniola (Kranj), Carinthia (Koruška), Gorica und Styria (Štajerska) schlägt er interessanterweise den Deutschen zu.
Die sogenannte illyrische Bewegung um 1840, getragen von Dichtern wie Ludjevit Gaj und Ivan Mažuranić, wird retrospektiv oft als eine romantische südslawische Aufwallung aufgefasst, zu der sich das intellektuelle Kroatentum erhoben hat, ehe es zu sich selber fand. In Wirklichkeit verhielt es genau umgekehrt, die kroatische Identität ging nicht einer illyrischen voraus, sondern die illyrische Bewegung war das letzte Aufwallen einer Jahrhunderte vorherrschenden Selbstverständlichkeit, der unter Intellektuellen und Adeligen ab 1850, beim gewöhnlichen Volk erst nach dem I. Weltkrieg die Einengung auf einen kroatischen Fokus folgte.
llyrisch konnte entweder Südslawen oder die Slawen allgemein beinhalten. Von Italienern wurde es eher für das romanische Element Dalmatiens verwendet. Dalmatier konnte alles heißen, das romanische Dalmatien und das slawische Dalmatien – und manchmal wurden auch Kroatien oder Slawonien dazugezählt. Ein Einwohner Zadars, Senjs oder Splits kann sich zugleich als Zadarčanin, Senjanin oder Splićanin und als Illyrer, Slawe, Dalmatier und – sehr selten – als Kroate empfinden. Dalmatier als Träger einer spezifisch romanisch-slawischen Küstenkultur, Kroate als Bezug zum Feudalstaat des unmittelbaren Hinterlandes, Slawe als Sprecher einer spezifischen Sprache und Illyrer als slawophoner Bewohner der gesamten Balkanhalbinsel. In den Registern der Universitäten Mitteleuropas findet sich eine fantasievolle Varianz der Selbstbeschreibungen. Oft immatrikuliert sich ein Student als Dalmatier oder Istrier und exmatrikuliert sich als Illyrer – und umgekehrt. Mitunter finden sich darunter auch Kroaten, in wenigen Fällen sogar die Selbstattribuierung Croata Bosna. Orthodoxe Serben und Bulgaren werden zwar auch Slawen genannt, aber häufiger laufen sie unter dem Etikett Illyrer. So als wären aus der Küstenperspektive eher die nächstliegenden Slawen garantiert richtige Slawen. Das alles würde sich bis weit ins 19. Jahrhundert kaum ändern. Wie sehr der frühe kroatische romantische Illyrismus noch um eine panjugoslawische Identität buhlte, beweist das erste große Versepos der kroatischen Literatur, Ivan Mažuranićs Der Tod des Smail-aga Čengić (1846), dessen Heros ein orthodoxer Auftragskiller ist, der für den montenegrinischen Erzbischof einen bosnischen Pascha und Steuereintreiber beseitigt.
Ethnischer Bekenntniszwang
Dass sich so viele Slawophone auf dem südlichen Balkan neugierigen Europäern gegenüber als Griechen auswiesen, freute den griechischen Nationalismus. Ein Missverständnis indes, denn sie meinten schlichtweg die Orthodoxie, die »griechische Religion« damit. Die Absurdität der nachholenden Nationalisierung symbolisieren zwei »kroatischer« Dörfer. Die Bewohner der Nachbarorte Islam Grčki und Islam Latinski im Hinterland von Zadar konvertierten nach der Zurückdrängung der Osmanen Ende des 17. Jahrhunderts vom Islam teils zum orthodoxen, teils zum katholischen Glauben und fanden sich 300 Jahre später an beiden Seiten der kroatisch-serbischen Frontlinie wieder – sie wurden zu Beginn der 1990er Jahre völlig verwüstet.
So wie Bosnjak erst in den letzten Jahrzehnten zur Sammelkategorie für alle serbokroatisch sprechenden Muslime wurde, vor allem für solche, die historisch mit der Region Bosniens nichts am Hut hatten (wie etwa Bewohner des Sandžak oder die Gorani im Kosovo), so war Kroate schon zuvor zum Oberbegriff für alle Katholiken geworden. Nur widerwillig beugten sich Istrier, Dalmatiner und Slawonier zunächst dem nationalen Sammelruf der neuen kroatischen Exklusividentität. Dass so viele Nachkommen der katholischen Stämme der Herzegowina einmal zu den blutrünstigen Verteidigern der kroatischen Sache würden, war 100 Jahre zuvor auch noch nicht absehbar. Zu Kroaten aber wurden auch die Katholiken in der Bucht von Kotor, die Kosovo-Katholiken aus Valjevo, die von Ragusaner Kaufleuten abzustammen glauben, bulgarische Katholiken, die sich im Banat angesiedelt haben, die gleichfalls in der Vojvodina lebenden Šokci und Bunjevci (teils slawonische und vojvodinische Nachkommen jener in Lika und Krbava angesiedelten Wlachen, die den katholischen Glauben angenommen hatten). Besonders brutal tobte der Bürgerkrieg der 90er Jahre in der Krajina. Viele, die dort die Rechte ihrer tausend Jahre alten Völker gegeneinander verteidigten, waren die Nachkommen ein und derselben pastoralen Wlachen, die denselben slawischen Dialekt angenommen hatten, und Teile von ihnen eben den lateinischen Ritus der alteingesessenen Bevölkerung.
Konsequente Antiessenzialisten würden auch Südslawien (denn nichts anderes bedeutet Jugoslavija wörtlich) als eine Exklusivkonstruktion aufgrund linguistischer Verwandtschaft entlarven, doch eignete ihr zugleich ein höheres Integrationsniveau als der Zerfall in jene kontingenten Stämme, die wir heute kennen und die sich selbst zu kennen glauben. Sie war auch die zunächst kulturelle Basis diverser Konzepte einer sozialistischen Balkanföderation, die auch Griechen, Wlachen, Albanern, Türken und anderen die Schwesterhand entgegenstreckte. Und sie war noch von jenem republikanischen Geist des politischen Nationsgedankens beseelt, der dem völkischen Denken vorausging und mit France Prešerens Versen dem Staat Slowenien eine der wenigen schönen Nationalhymnen dieser Welt bescherte: »Es leben alle Völker, die sehnend warten auf den Tag, dass unter dieser Sonne die Welt dem alten Streit entsag! Frei sei dann jedermann, nicht Feind, nur Nachbar mehr fortan.«