Knie nieder! Böse Menschen haben keine Lieder!

Musik zwischen Extrem- und Normalfall. Paul Schuberth über ein noch wenig beleuchtetes Kapitel der NS- und Musikgeschichte und über Musik als Folterinstrument.

Musik, so heißt es oft, ist eine universale Weltsprache, die jeder versteht. Mit den Mitteln der Musik lässt sich ausdrücken, was mit Worten nicht zu sagen ist. Musik überwindet alle Grenzen und spendet Trost in schwachen Momenten. Diese Binsenweisheiten, in der uns bekannten Welt idealisierende Lügen, überführt das Konzentrationslager der Wahrheit: Spielt das Häftlingsorchester beim morgendlichen Ausmarsch der Arbeitskolonnen einen beschwingten Marsch, verstehen alle Häftlinge, egal welcher Muttersprache, die eindeutige Aufforderung – im Gleichschritt marschieren! Muss eine junge, inhaftierte Cellistin dem Lagerarzt Dr. Mengele Schumanns »Träumerei« vorspielen, die ihn zu Tränen rührt und im schwachen Moment mit neuer Kraft für die nächste Selektion versorgt, verschwimmen die Grenzen zwischen Opfer und Täter. Und schließlich: KZ-Häftlinge zu deutschen Märschen zu züchtigen und zu foltern, drückt mörderische Verachtung besser aus, als es Worte je bewerkstelligen könnten. Wolfgang Pohrt hat in einem Aufsatz über das Tagebuch von Hanna Lévy-Hass, einer Überlebenden des KZ Bergen-Belsen, eindrucksvoll geschildert, was das Konzentrationslager so unbegreiflich macht: »Der Umstand, daß in Konzentrationslagern Millionen Menschen umgebracht worden sind, ist beunruhigend. Unerträglich aber ist die Tatsache, daß sie dort nicht nur umgebracht worden sind, sondern auch gelebt haben. (…) Während der sadistische Exzeß ohne weiteres sich mit unserem konventionellen Vorstellungsschema verträgt, stellen die Schilderungen des Nebeneinanders von Krematorium und gemütlichem Leben, die sich durch alle authentische KZ-Literatur ziehen, eine gefährliche Bedrohung unseres Verstandes, der scheinbar heilen Welt unserer überkommenen Kategorien, dar.« Dem bedrohten Verstand bleibt nichts anderes übrig, als in Deckung zu gehen, wird er nun auch noch mit der Tatsache konfrontiert, dass es im Lager nicht nur ein Nebeneinander von Musik und Massenmord gab, sondern ein Miteinander. Eben: Musik verbindet. Genau diesem positiven Credo von der unerschütterlichen Kraft der Musik folgt bis heute die populäre Betrachtung und Darstellung von Musik im KZ. Als prominentes Beispiel wird meist das Lager Theresienstadt genannt, in dem die Nationalsozialisten zu Propagandazwecken ein beispielloses Musik- und Kulturleben erblühen ließen. Der deutsche Kulturwissenschafter Guido Fackler merkt kritisch an, dass der Fokus auf die unter dem verkaufsfördernden Etikett »Theresienstädter Komponisten« subsumierten Künstler und die dazugehörigen »einseitigen Rezeptionsmechanismen und marktschreierischen Etikettierungen« oft gänzlich falsche Vorstellungen von Musik im NS-Lagersystem evozieren würden. Selbst in der Wissenschaft hat sich die klare Einteilung in »selbstbestimmte« und »verordnete« Musik durchgesetzt, eine konstruierte Dichotomie, die mitunter ermöglicht, dass besondere Gedenkveranstaltungen die ambivalente Rolle von Musik im Konzentrationslager vergessen lassen und die Betrachtung der Musik der Shoah auf den positiven Effekt für die Häftlinge reduziert wird. Zu leicht lässt sich dann, bloß als Ergänzung, das Folterinstrument Musik als kurioser Bestandteil des NS-Repertoires an Repressionsmitteln bagatellisieren, zu leicht lässt sich davon sprechen, die Nazis hätten die Musik bloß missbraucht – was vor Konsequenzen für unser Denken über Musik schützt. Im Gegenzug gilt dann der widerständige Gebrauch von Musik durch manche Häftlinge als Beweis dafür, dass Musik, auch und gerade in der Extremsituation, unablässig für das Schöne und Wahre, den autonomen Geist und eine nie versiegende Quelle der Hoffnung stehe.  Ganz ungeachtet der grundsätzlichen Frage, inwiefern die Quelle der Hoffnung dem zum Tode Verurteilten noch helfen könne. Mag Musik als Quelle auch unablässig Sturzbäche und Sintfluten der Hoffnung produzieren, die Nationalsozialisten jedenfalls schöpften aus dieser Quelle Mittel zur Ablenkung der Opfer, zum Terror und zur psychischen wie physischen Folter. Als die Talkshow-Moderatorin Anne Will in einer ihrer Sendungen die Holocaust-Überlebende und Akkordeonistin des Mädchenorchesters von Auschwitz Esther Bejerano befragte, ob die SS-Schergen nicht auch manchmal Menschlichkeit zeigten, verriet sie ungewollt eine wichtige Wahrheit: Die SS-Leute waren Menschen wie du und ich, was über diese selbst wenig aussagt, dir und mir aber zu denken gibt. Und doch gibt es Unterschiede, denn in einer der herausragenden menschlichen Disziplinen, der Fantasie, sind uns diese einfallsreichen Täter haushoch überlegen. Im Universum der Konzentrations- und Vernichtungslager waren der Fantasie der Mörder keine Grenzen gesetzt. Mit beachtlicher Hingabe schafften sie es, das höchste Kulturgut der höchsten Kulturnation, die Musik, in den Prozess des industriellen Massenmordes einzuspannen. Musik half, die Vernichtung durch Arbeit reibungslos zu organisieren, und die Arbeit, die für die Täter durch die Vernichtung anfiel, erträglicher zu machen. Kein einfaches Volkslied, keine große Symphonie, kein dummer Schlager waren zu niedrig oder zu großartig, um nicht als Vorwand für Strafe und Terror oder gar als deren Mittel fungieren zu können.

In kaum einem Zeitzeugnis der vielen KZ-Häftlinge aus den verschiedensten Ländern fehlt die Erinnerung an den Zwang, zu den verschiedensten Anlässen unablässig deutsche Lieder zu singen, sowie an die physischen und psychischen Qualen, die damit verbunden waren. Der Überlebende Berthold Quade erinnert sich, dass im Lager Sachsenhausen beim An- und Abmarsch (zu den »Arbeitsplätzen«) jeden Wochentag ein bestimmtes Lied »bis zum Erbrechen« intoniert werden musste. Das befohlene Singen hatte dabei mehrere Funktionen. Zum einen vereinheitlichte es, in alter militärischer Tradition, den Marschrhythmus, trug also zur Disziplinierung bei und zur »Erhaltung der Arbeitskraft«, wie es Quade selbst ironisch kommentierte, sowie es eine belastende Ergänzung zu den stupiden, körperlich anstrengenden Zwangsarbeiten darstellte. Andererseits bot es für die SS-Leute immer wieder willkommene Anlässe zu besonderer Demütigung, Gewalt und Prügelexzessen: eine Machtdemonstration, die den besonderen »musikalischen Sadismus« (Aleksander Kulisiewicz) der Täter befriedigen sollte. Dabei sei gar nicht in Frage gestellt, dass dieser einer authentischen Liebe zur Musik und zur Kunst entsprang: »Auf den Takt legten sie großen Wert. Es mußte militärisch-schneidig und vor allem laut gesungen werden. (…) Unseren frisch-fröhlichen Gesang liebten sie sehr, sie konnten nicht genug davon haben«, erinnert sich der Häftling Karl Röder. Ab 1939 wurden vermehrt Menschen aus angrenzenden, nicht-deutschsprachigen Ländern inhaftiert, die natürlich auch die befohlenen Lieder nicht kannten. Als Konsequenz daraus, dass das Singen beim Marschieren immer schlechter funktionierte, ersannen die SS-Leute das »Strafsingen«, eine Methode, um die Gefangenen weiter seelisch und körperlich schikanieren zu können. War man mit dem beim Marschieren gebotenen Gesang nicht zufrieden, wurde ein weiteres Einüben dieser Lieder nach der Arbeit angeordnet, was nicht nur eine zusätzliche Demütigung, sondern auch den Raub der wertvollen »Freizeit« der Häftlinge bedeutete. Der Überlebende Hans Reichmann betont, dass für so manchen der Kontrast zwischen »diesem Singen und der Stimmung, die es hier hinter dem elektrischen Draht weckte, umlauert von Chorführern, die nur zur gern den Takt mit den Fäusten schlugen«, das »niederdrückendste Erlebnis des Lagers« gewesen sei. Für viele war es auch das letzte Erlebnis. Das abendliche Zwangssingen – also stundenlanges Brüllen der eingetrichterten Lieder – führte oft genug zum tödlichen Zusammenbrechen der komplett erschöpften Häftlinge. Was noch nicht das Ende bedeutete, denn »auch die Halbtoten, die am Boden lagen, mußten singen« (Karl Röder). Der Befehl zum Singen diente der Wachmannschaft dabei zum eigenen Amüsement und zur effizienteren Kontrolle der Häftlinge, indem das Singen den Marschrhythmus erbarmungslos vorgab. In dem Maße, indem sich die Vorteile dieser Methode für die SS summierten, potenzierten sich auch die destruktiven Potentiale dieses »Musikspaßes« für die Opfer. Das Singen speziell blödsinniger, ausschließlich deutscher Lieder, entmenschlichte die Häftlinge zusätzlich und zielte als erstes darauf ab, deren Willen zu brechen und ihnen die Identität zu rauben. Denn in vielen Fällen stimmten die SS-Leute das Liedrepertoire auf die jeweilige Häftlingsgruppe, die zu demütigen war, mit spitzfindiger Kunstsinnigkeit ab. So wurden Juden gezwungen, antisemitische Lieder darzubieten, oder Kommunisten wurden bestraft, weil sie das ihnen aufgetragene Kirchenlied nicht vorzutragen wussten. Karl Röder resümiert: »Körperliche Mißhandlung wäre mir lieber gewesen.« Zwangssingen zur Strafe oder als Anlass für Gewalt wurde nun als kollektives Ereignis – heute würde man sagen: Event – beschrieben. Doch ein weiterer Aspekt dieses »musikalischen Sadismus«, und zwar das individuelle Leid, das mit Musik in Zusammenhang stand, muss beschrieben werden. Oft ließen SS-Leute Strafmaßnahmen oder Folterungen durch Gesang begleiten, sei es, um das eigene Vergnügen zu steigern, sei es, um die Demütigung durch überlegte Musikwahl ins Unermessliche zu steigern. Fest steht, dass Musik hier eben nicht nur ein »Begleiter« war, sondern essentieller Faktor, der den physischen und psychischen Schmerz der Betroffenen noch zu steigern vermochte. Der berüchtigte SS-Oberscharführer und Blockführer Wilhelm Schubert (»Pistolen-Schubert«) etwa ließ das Liederüben mit dem sogenannten »Strafsport« verbinden, indem er Häftlinge zwang, die ausgewählten Lieder in der Hocke zu üben. Im KZ Sachsenhausen bekam der Begriff »Sport« eine neue Dimension. Dort hatte man eine Marschstrecke angelegt, die in acht Abschnitte (Wasser, Steine, Beton, Schlamm, …) unterteilt war. Auf dieser Strecke hatten die Mitglieder des berüchtigten »Marschkommando von Sachsenhausen« den ganzen Tag zu marschieren – in den schlimmsten Phasen vierzig Kilometer mit einer Last von fünfzehn Kilogramm. Das Ganze folgte neben der Demütigung dem Zweck, die Qualität der von der Reichsindustrie erzeugten Schuhe zu testen. Dazu wurden, um die Folter für die Häftlinge komplett zu machen, Befehle wie »Hinlegen!«, »Robben«, und eben auch »Singen!« erteilt. Gesungen wurde, wie Milan Kuna überliefert, ohne Unterbrechung bis zur völligen Heiserkeit. Bei der Fuhrwerkskolonne in Buchenwald wiederum, zu der ausnahmslos Juden gehörten, wurden fünfzehn oder mehr Männer an der Stelle von Pferden in Gurte gespannt. Unter Peitschenhieben mussten die »singenden Pferde«, wie sie genannt wurden, nun einen schwerbeladenen Wagen ziehen und dabei singen. Aleksander Kulisiewicz berichtet über die Konsequenzen, die die Verbindung von unmenschlicher Schwerstarbeit und permanentem Singen zeitigte: »Damit sollten Muskeln, Lungen, Brustkorb, Nervensystem und Stimmbänder zugleich kaputt gemacht werden.« Aus Buchenwald ist eine weitere Begebenheit bekannt, die den unermüdlich kreativen Geist der Peiniger beweist: Der lagereigenen Kapelle wurde befohlen, für die »Wiener Juden« einen Walzer von Strauß zu spielen. Die Häftlinge hatten sich anschließend, jeder für sich, solange im Walzertakt um die eigene Achse zu drehen, bis sie der Schwindel packte und sie umfielen; um gleich darauf den Befehl zu erhalten, in der Halbhocke genau nach dem Takt des Walzers wie Frösche herumzuhüpfen. Verstörend ist, dass der Wiener Walzertakt, der im Allgemeinen als eher frei im Tempo beschrieben und mit Leichtigkeit assoziiert wird, sich als totalitäres Kontrollinstrument eignet. Wer dem gemütlichen Takt nicht folgt, wird bestraft. Dass gerade jüdische Berufsmusiker als Musiker schikaniert wurden – nicht nur zu und mit Musik, sondern wirklich in Bezugnahme auf ihren Beruf –, hat mit dem besonderen antisemitischen Ressentiment zu tun, wonach alle Juden musikalisch seien und der deutsche Konzertbetrieb von Juden dominiert werde. Deutsche Musikwissenschaftler der Zwischenkriegszeit haben mit ihren antisemitischen Untersuchungen und Werken ganze Vorarbeit geleistet und das Ressentiment mit vermeintlichen Fakten untermauert. Im Konzentrationslager bot sich nun die willkommene Chance – wie auch die Historikerin Juliane Brauer mutmaßt –, den Juden ihre vermeintliche Musikalität auszutreiben. Aus den Lagern sind etliche Fälle bekannt, in denen jüdische Opernsänger eine Arie anstimmen mussten, während sie geschlagen oder ermordet wurden.

Zu den unglaublichsten Aspekten des Lageralltags unterm Nationalsozialismus gehört die Geschichte der Häftlingskapellen, die es in fast jedem der größeren Konzentrationslager gegeben hat. Diese Kapellen, deren Besetzungen von einem Trio aus Mandoline, Geige und einem Blasinstrument in Treblinka bis zu einem Symphonieorchester von achtzig Mann in Auschwitz reichten, wurden zu protegierten Statussymbolen für die jeweiligen Kommandanten und SS-Mannschaften. So beschafften die Lagerführer »ihren« Orchestern Noten und Instrumente, verlangten aber im Gegenzug eine Erweiterung des Repertoires. Neben Privatkonzerten für SS-Leute bestanden die Hauptaufgabe dieser Kapellen darin, den Aus- und Einmarsch der Arbeitskolonnen am Lagertor mit pfiffigen Märschen zu begleiten und damit zu kontrollieren. Der Marschrhythmus eignete sich bestens, einen gut koordinierten Bewegungsablauf der Häftlingskolonnen zu garantieren. Die in strenger Ordnung Marschierenden waren so außerdem für die SS leichter abzuzählen. Shirli Gilbert erfasst es genau, wenn sie »helping the operation to run smoothly« als wesentliche Funktion des Orchesters angibt. Die Musik am Lagertor hatte für die SS zudem eine enthemmende Wirkung. Sie förderte die Gewaltbereitschaft bei der Aussonderung völlig entkräfteter Häftlinge, und setzte bei Ausschreitungen die moralischen Hemmschwellen herab. Schließlich unterstützte die deutsche Musik die Täter in ihrem Machtrausch, wie sie die Ohnmacht der Opfer noch unterstrich.

Zum musikalischen Mordsspaß der SS-Verbrecher gehörten auch musikalische Untermalungen von öffentlichen Hinrichtungen. Wurde in diesen Fällen die Musik dazu gebraucht, die Hinrichtungen noch eindrucksvoller zu gestalten, erfüllte sie in anderen als Helfershelferin den Zweck, Massenmorde zu vertuschen. Der beliebte Doppelnutzen von lauter Musik – Übertönen von Leidensschreien oder Schüssen bei gleichzeitiger Ablenkung der Täter von eigenen Verbrechen – kam auf besondere Weise zum Tragen bei der sogenannten »Aktion Erntefest«; ein Tarnname, den als Euphemismus zu bezeichnen eine groteske Verharmlosung wäre. Während dieser Operation wurden die 40.000 verbliebenen Juden des Distrikts Lublin durch Mitglieder der SS und des Reserve-Polizei-Bataillon 101 ermordet. Allein in Majdanek wurden in Gruben, die die Opfer selbst ausheben mussten, 18.000 Juden und Jüdinnen erschossen. Dieser Massenmord war zugleich ein »musikalisches Inferno«. Beim örtlichen Propagandaamt hatte man sich Lautsprecheranlagen ausgeliehen, die an Masten oder Wachtürmen befestigt wurden. Der Lärm aus den Lautsprechern – fröhliche Tanzmusik in voller Lautstärke – übertönte die Schussserien und fungierte gleichzeitig als Stimulus für die Mörder. Als für Massenmorde besonders geeignet wurden martialische Titel oder heitere Tanzmusik empfunden. So ertönten bei der »Aktion Erntefest« in Majdanek aus den Lautsprechern Foxtrotts, Tangos und Walzer, wie etwa der »Tango Milonga« und »An der schönen blauen Donau«. Musik war aber auch Teil jener Inszenierung, mit der die im Vernichtungslager neu Ankommenden über dessen wahren Zweck hinweggetäuscht werden sollten. In Treblinka wurden die Ankommenden mit einem perfekten Täuschungsszenario begrüßt: Die Entladerampe der toten Gleise war dort zu einem Bahnhof mit vielen Schildern und Zugfahrplänen umgebaut worden, um den Eindruck eines Umsteigebahnhofs zu erwecken; und das zehnköpfige Orchester, geleitet vom berühmten Musiker und Häftling Artur Gold, spielte Jazz und »jewish folk tunes«. Auch in anderen Vernichtungszentren mussten die Musikgruppen direkt an den Gleisen spielen, um mit fröhlicher Musik eine Atmosphäre zu erzeugen, die Panik- und Angstgefühle der Ankommenden zerstreuen sollte. Die Musik half dabei, die nervösen »Neuzugänge« zu beruhigen und sie zur problemlosen Kooperation bei ihrer eigenen Vernichtung zu bewegen. Dieser musikalische »Willkommensgruß«, in seiner Wirkung genau kalkuliert, beugte Tumulten oder gar Aufständen vor und garantierte so den reibungslosen Ablauf des Vernichtungsprozesses.
Im Vernichtungslager Sobibór wurden die zur Ermordung bestimmten Juden an der Rampe mit Musik vom Grammophon begrüßt. In Bełz.ec musste die Kapelle zwischen den Gaskammern und den Grabgruben
spielen, wo sie für die musikalische Begleitung der Arbeit des »Sonderkommandos« zu sorgen hatte. Diese Musik musste den Mitgliedern des Sonderkommandos als eine besondere Art psychischer Folter erschienen sein: Die unvorstellbare Arbeit im Lager, so die Musikwissenschafterin Annkathrin Dahm, sei nur durch Abstumpfung und Verdrängung zu ertragen gewesen, während die Musik der Kapelle diese Mechanismen des Selbstschutzes zu überwinden imstande gewesen sei.
In den Vernichtungslagern konnten die SS-Schergen, wenn sie darauf Lust hatten, beliebig Musiker für Privatkonzerte rekrutieren, da sich in den ständig eintreffenden Transporten viele, auch professionelle und berühmte Künstler befanden. Für die Auserwählten konnte das Schutz und Privilegien bedeuten, die aber meist nicht lange währten.
Musik war integraler Bestandteil der tödlichen Rationalität, des »geometrisch konzipierten Irrsinns« (Primo Levi) des Lagers. Sie war Kontrollinstrument, Quelle des Amüsements und Ablenkung für die Henker, Mittel zur Täuschung der Außenstehenden sowie der Opfer über ihr Schicksal. Neben diesen Tatsachen, die sich bestenfalls aufschreiben, auflisten, nie aber wahrhaft verstehen lassen, verdient eine weitere Facette Beachtung, die noch weiter reicht. Shirli Gilbert verweist in ihrer Studie »Music in the Holocaust« auf das Argument des britischen Historikers Michael Burleigh, wonach man im Dritten Reich besorgt war, dass die SS-Mörder nicht zu weit vom Pfad des menschlichen Anstandes abweichen, »they were not to walk on the wild side.« Es sei viel eher darum gegangen, selektive Unabhängigkeit von Moral zu installieren, als halbmenschliche Raubtiere zu entfesseln. Obwohl von ihnen erwartet wurde, abnorme Dinge zu tun, sollten sie dennoch so »normal« wie möglich bleiben. Ein Baustein in diesem komplizierten psychologischen Mosaik ist der Umstand, dass sich die SS-Täter in einzelnen Aspekten des Lagerlebens, etwa im gutmütigen Umgang mit ihren Familien, die meist im Areal wohnten, ihren »Anstand« bewahren konnten. Die Historikerin Karin Orth bestätigt, dass sich »anständiges« Verhalten und Massenmord nicht widersprachen, sondern in einer untrennbaren Wechselbeziehung standen. An diesem Mechanismus hatte auch Musik ihren Anteil, die die Täter einerseits dazu nutzen konnten, sich von ihren Taten abzulenken, und andererseits dazu, ebendiese trotz allen Widersprüchen unter ein kultiviertes, »zivilisiertes« Paradigma zu setzen. Lauschte man den Klängen des Orchesters, das im besten Falle exquisite deutsche Literatur zum Besten gab, vielleicht in Begleitung des eigenen Vorgesetzten, gar der eigenen Ehefrau, dann war – bis auf die Millionen Toten – die Lagerarbeit wie ein Besuch im Konzerthaus; nur am Rande gestört von schwerer Arbeit, die doch letztlich auch nur Dienst an jenem Volke war, das diese großartige Kultur hervorgebracht hatte. Der nationalsozialistischen Logik nach ist es kein Widerspruch, in Auschwitz die besten Symphonien Beethovens spielen zu lassen. Konzentrations- und Vernichtungslager wurden in Sternstunden der Kultur zu Konzerthäusern umfunktioniert. Das Verhältnis der Täter zu Musik war dabei kein zynisches im eigentlichen Sinne, es blieb stets aufrichtig kunstaffin und schönheitsliebend. Dass die Täter diese als Folterinstrument und für anderen Mordsspaß benutzten, änderte weder etwas an der Liebe zur ihr, noch an dem Glauben an sie als das höchste Kulturgut des Volkes. Was sie die Geschundenen auch spüren ließen: Das Extrakonzert, das die Verantwortlichen kurz vor der Evakuierung von Auschwitz für das Häftlings-Sonderkommando ansetzten – jenes Kommando, das mit der Ermordung der Juden und der Beseitigung ihrer Leichen befasst war –, empfanden die Glücklichen wohl als vieles, nicht aber als Geschenk. Szymon Laks, der Dirigent des Orchesters, erinnert sich: »Wir gehen dorthin, um diejenigen zu unterhalten, die die anderen vergasen. (…) Das Sonderkommando hat das Seine getan, das Sonderkommando darf abrücken. Und kann es ein angenehmeres Abrücken geben als zu Klängen der Musik? Für Deutsche nicht. Daher kommt die Verwaltung auf die Idee des Sonderkonzertes für das Sonderkommando.« Schenkt man Wolfgang Pohrts Überlegungen Glauben, bringt die Erforschung der Kultur im Extremfall mit sich, der Wahrheit über diese Kultur im Normalfall eine Spur näher zu kommen. Was sagt es über Musik aus, wenn sie sich zum Folterinstrument, zum Vehikel von Demütigung und Schikane befördern lässt; was, wenn sie sich dafür sogar bedankt, indem sie nichts an Herrlichkeit einbüßt? Die Drecksarbeit bestätigte sie nur in ihrem Glanz. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass der Extremfall vom Normalfall nicht mehr zu unterscheiden ist, denn der Dienst, nein: das Geschäft der Kultur, das sie an der Menschheit verrichtet, bleibt das immergleiche, Untermalung und Ablenkung. Dass Kultur nach Auschwitz blieb, was sie immer sein wird – die Kratzer, die sie sich zuzog, sorgen bloß für geschmeidige realness – könnte denkende Menschen auf dumme Gedanken bringen, etwa, dass Kultur ohne den Vorwurf der Kulturlosigkeit, und umgekehrt, moderne Barbarei ohne rechtfertigende Kultur nicht zu haben sind. Bevor dieser Gedanke aber formuliert ist, wird ein für alle Mal reiner Tisch gemacht. Schon werden das Überleben der Kultur als Beweis für ihre Großartigkeit und diese als Beweis für die Schuldlosigkeit ihrer Schöpfer herausposaunt. In Mauthausen wurden die Häftlinge unter anderem mit Beethovens Symphonien als Begleitung zum Terror schikaniert. Ganz dieser Tradition verpflichtet, führten die Wiener Philharmoniker bei einer Gedenkveranstaltung im Jahre 2000, die direkt im Mauthausener Steinbruch stattfand, als Andenken an die Opfer Beethovens Neunte auf. Damen und Herren! Sechs Millionen mögen gestorben sein. Aber etwas viel Größeres, die Kultur, hat sie überlebt…!