Wie aus Bürgern Männer wurden, Teil 2

In seinem Work in Progress Lord Byrons letzte Fahrt – Die Geburt der Nation aus dem Geist von Romantik und Banditentum analysiert Richard Schuberth den Griechischen Unabhängigkeitskampf und die Nationalisierung des Balkanraumes als eine der ersten großen Scharmützel der Ideologien und Diskurse der Moderne. An vorderster Front: die Konstruktion von Männlichkeit. Eine Serie in drei Teilen.

Das gesamte 19. Jahrhundert arbeitet an der ideologischen Restauration einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Neu ist aber die bürgerliche Überbewertung des Selbst, des eigenen wie des der anderen. Beim Empfang, beim Ball, im Salon wird die Persönlichkeit durch das Lorgnon nicht nur geprüft, sondern zunehmend bewundert, denn dieses ist längst angelaufen vom Dunst des Enthusiasmus. Die Damen schmachten entweder für den femininen sensiblen Poeten, den anämischen Pianisten, den dämonischen Geigenvirtuosen oder aber für den schneidigen Husarenoffizier – alle diese Typen verkörpern Eigenschaften, die ihren Männern, welche bei Zigarren Businesstalk pflegen, fehlen. Lord Byron, das erste und größte Erfolgsmodell des frühen Pop, verband beide Pole, zwischen denen der Äquator der bürgerlichen Mittelmäßigkeit verlief: sinnende Sensibilität und machoide Verächtlichkeit, feminine Schönheit und männliche Rücksichtslosigkeit, zumindest konträre Eigenschaften, die nach Genderrollen zugeordnet wurden.
Auch die Produzentenklasse verehrt Männlichkeit. Wann immer bei gesellschaftlichen Zusammenkünften Rasse, Klasse und natürliche Aristokratie von anwesenden Kerlen gewürdigt werden sowie Eigenschaften, deren Bezeichnungen heute nicht mehr geläufig sind und die aus der Persönlichkeitsrequisite des Ancien Régime stammten: Aplomb, Verve, Counduite und Bravour, wann immer man einander Abenteuerklamotten von kolonialen Abenteurern erzählte, den stolzen europäischen Herrenmenschen pries, Gordon Pascha etwa, wie er erhobenen Hauptes mit Spazierstock in Karthum seinen fanatischen Lynchern entgegentritt, wann immer in den Pausen zwischen Aktionärsversammlungen und Geschäftsessen homerische, soldatische Tugenden verherrlicht und sportliche Leistungen goutiert werden, dann ist das die mitunter lächerliche Kompensation einer fundamentalen Krise der Männlichkeit, der Angst, in Bureau und Kontor könnte sich der Penis zurückbilden und man verweiblichen. Der Druck, das Vaterland, das Empire, den nationalen Markt nicht nur mit der Schreibfeder, sondern mit dem Gewehr zu verteidigen, führt zu einer projektiven Aufwertung des Soldatischen, der man die nackte Angst vor der eigenen zivilen Feigheit anmerkt. Dieser grundfeige Charakter wurde in die assimilierten Juden outgesourct, und in einem ideologischen Rückkoppelungsprozess unterlagen deren Söhne wiederum der Bewährungsneurose, um sich von diesem Makel zu lösen. Im Ersten Weltkrieg führte der Vorwurf von Heimatlosigkeit und Unmännlichkeit zu verstärkter Identifikation mit dem Staat und selbstmörderischem Heldentum. Der Rassenantisemitismus wird den jüdischen Veteranen die für den deutschen Staat erkämpften Orden samt deren nackte Existenz aberkennen.

Duellspiele

Theodor Herzl trug eine Wunde in sich. Die als jüdische Wunde zu bezeichnen falsch wäre, denn sie wurde ihm und seinesgleichen zugefügt. Doch sie verweist auf eine Kastrationserfahrung, mit der das entmannte Bürgertum die Juden bluten ließ. Diese hatten alle Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft erobert, doch musste man sie zumindest vom wertvollsten Gut fernhalten, das man der Aristokratie abgeluchst hatte: der Ehre. Juden galten für viele als nicht satisfaktionsfähig. Theodor Herzl bekannte immer wieder seinen Wunschtraum ein, sich mit Antisemiten zu duellieren.
Mit der Ehre hatte die Bourgeoisie tatsächlich eine heikle Requisite aus dem aristokratischen Ethos hinübergerettet. Denn in den Feudalstaaten der Ancien Régimes war das Duell schon lange aus der Mode gekommen, und selbst im Mittelalter hatte es nicht den Stellenwert besessen, den das romantische und historistische 19. Jahrhundert ihm beimaß. In der frühen Neuzeit schon waren Duelle eher Angelegenheit leicht erregbarer Söldner, gesellschaftlicher Außenseiter oder hitziger Intellektueller gewesen. Ehre war Standesehre, und die Aristokratie, welche Waffen lieber für die Jagd verwendete, war zu fett geworden, um Streithändel untereinander mit Gewalt auszutragen. Das immer provokantere Bürgertum wurde aber vorsichtshalber vom Feld der Ehre ferngehalten. Diese wurde also von denen am meisten provoziert und wiederhergestellt, denen es an gesellschaftlichem Status mangelte. Die bürgerliche Ehre indes war von ganz anderer Natur, eine ideelle, erworbene und durch kein Geburtsrecht gewährte, darum umso fragiler.  
Im bürgerlichen Zeitalter würde es mehr Duellopfer geben als je zuvor. Und wahrscheinlich nahmen mehr Bürgerliche Fechtunterricht, als Aristokraten es je getan hatten. Die mediterrane Hitzköpfigkeit, mit der mancher Bourgeois seine geschäftsbeflissene Harmlosigkeit kaschierte, war unter anderem durch Alexandre Dumas’ Trois musquetaires angeheizt worden. Der Autor selber soll sehr unter dem Kontrast zwischen der berufstypischen Schreibtischbiederkeit und der Virilität seiner Romanhelden gelitten haben. Und so suchte er eifrig nach Anlässen für Duelle, die seinem Image wie seiner Biografie dieses gewisse Etwas verleihen sollten. Er hat jedoch niemanden getötet und ist selbst nie verwundet worden. Was nicht untypisch für Duelle in Frankreich war. Denn auch im Duell zeigte sich der archetypische Kontrast zwischen romanischer Leichtigkeit und deutschem Ernst. Der Historiker George L. Mosse schrieb: »Deutsche Duelle waren überaus ernsthafte Angelegenheiten; französische Duelle zeichneten sich dagegen durch eine extrem niedrige Sterblichkeitsrate aus.«
Die deutschen Studentenverbindungen erwiesen sich bereits seit ihrem Bestehen – die Urburschenschaft wurde 1814 gegründet – nicht nur als Keimzellen von völkischem Nationalismus und Wellnesswahn, sondern auch als Parodien soldatischen Geistes und Avantgarden der Gesamtmilitarisierung der Gesellschaft. Burschenschafter bürokratisierten das Duell mit ihren kodifizierten Auflagen. Tapferkeit, Mut, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Leidenschaftslosigkeit – das waren die Ideale, denen der deutsche Student nacheiferte.
Im aristokratischen Ethos war das Duell ein Mittel zur Harmonisierung von Konflikten und Vermeidung von Beleidigungen gewesen. Denn schließlich wollte man sein Leben nicht verlieren. Der bürgerliche Mensch mit seinem fragil-narzisstischen Ich und seiner männlichen Unsicherheit steht im prophylaktisch beleidigten Dauerreaktionsmodus. Die Angst vor der Forderung zum Duell diente einst der Vermeidung von Händeln, nun ist sie verflogen, der studentische Zweikampf wird gesucht und avanciert zur zeremoniellen Einübung von Konfliktfähigkeit und Schmerzunempfindlichkeit. Durch die Gesichtsmetzelei der Mensur mussten junge Männer sich ihrer Männlichkeit versichern, ein Ritual, dessen echte Soldaten nicht bedurften, hatten sie der unbeabsichtigten Narben und Verstümmelungen doch genug vorzuweisen.
Die Erinnerungen von aus dem Griechischen Unabhängigkeitskampf zurückgekehrten Philhellenen strotzen vor pubertärer Begeisterung für Offiziere und Militärs, die sich in ihren Reihen einfanden, von alten Haudegen und Kriegsprofessionalisten, deren Gesellschaft sie suchen und denen sie nacheifern wollen. Und wie erstaunt sind die Studenten aus der Schweiz, Deutschland und Dänemark, dass sich diese Soldaten gar nicht überheblich zeigen, sondern kameradschaftlichen Umgang mit ihnen pflegen. Zu naiv sind die zivilen Griechenlandschwärmer, um die Gründe für diesen amikablen Umgang zu erkennen. Nicht nur gefallen sich die Militärs darin, junge Kerle mit ihren echten und erfundenen Kriegsabenteuern zu beeindrucken, sie fürchten in ihnen keine Konkurrenten um die raren Offiziersränge in einer zukünftigen griechischen Armee, um die sie mit anderen Soldaten schon bei der Anreise und ihrem Aufenthalt in Marseille konkurrieren. Und in ihren enthusiastischen Zuhörern sehen sie bereits loyale Infanteristen der von ihnen befehligten Einheiten.
In Marseille, während der monatelangen Wartezeit auf die Überfahrt nach Hellas, beginnen die Philhellenen einander totzuschießen. Kein Tag vergeht ohne Duell. In Griechenland geht es weiter. Sehr belustigt sind die Griechen, Zivilbevölkerung und Kleften, wie die einheimischen irregulären Banditenkrieger heißen, über diese verrückten Franken, die einander auf offenem Feld übern Haufen schießen, anstatt ihre Energie für den Kampf gegen die Türken zu sparen. Als sich im Zeichen der internationalen Solidarität und 1822 dann doch ein reguläres philhellenisches Heer aus Korinth in Richtung Epiros in Bewegung setzt, kommt es wieder zu Duellen. Dieses Mal mit nationalistischen Untertönen. Die gemischten Einheiten teilen sich in profranzösische und prodeutsche, beide werden wenige Tage später in Peta, einem Ort unweit der Stadt Arta, von der albanisch-muslimischen Armee des Omer Vrionis Pascha vollständig vernichtet.
Kleften würden sich nie auf fränkische Weise duellieren, auch ihr Ehrbegriff, die philotimo, ist ein völlig anderer als jener der Europäer. Für diese besitzen die Griechen keine Ehre, weil sie aus dem Hinterhalt schießen und die offene Schlacht scheuen. Die Kleften kämpfen auch nicht für Ehre und Nation, sondern für Beute und Feindesköpfe. Was die Philhellenen nicht verstehen: Die Balkankrieger kämpfen, um zu überleben, und nicht, um zu sterben.
Die Duelle zwischen den Deutschen und Franzosen erteilen ihnen jedoch wichtige Lektionen. Wie das Wesen der Nationen beschaffen sein wird, sobald man sich einmal von den Osmanen getrennt hat.

Die Militarisierung des männlichen Körpers

Es braucht hier nicht näher erläutert zu werden, wie sehr der klassizistische Körperkult des späten 18. Jahrhunderts die Männlichkeitskonzepte der folgenden Epoche geprägt hat. Gegen erblichen Status der Feudalklasse rebelliert das Bürgertum durch alle möglichen Formen der Meritokratie: Status durch ehrliche Arbeit, Tugend, Tapferkeit, Herzensgüte, Charakter und schlichte, edle Größe. Die Antike, zumal die griechische, ist ein unendlich großer Pool an brauchbaren Projektionen und bedient seit der Renaissance alle möglichen Bedürfnisse. In Deutschland muss die Vermählung von Pietismus und Klassizismus folgerichtig zu einer Verschränkung von Tugend und Schönheit führen. Natürlich war dies archaisch im Volksbewusstsein lange angelegt, zum Beispiel in der Assoziation von Dunkelheit mit dem Bösen (die doch in vormoderner Zeit erstaunlich wenig zu einer Dämonisierung dunkelhäutiger Menschen geführt hatte). Und der heidnische Charakter der antiken Kunst muss entpaganisiert und christlicher Tugendhaftigkeit dienstbar gemacht werden. Johann Joachim Winckelmanns Postulat von der Kongruenz des Schönen, Wahren, Guten wurde von einer idealistischen Generation auch als Programm verstanden, diese Qualitäten zu akkordieren und ihr Verhältnis zu vervollkommnen. In der zu Beginn naiv-schwärmerischen Koppelung von körperlicher Schönheit mit Wahrhaftigkeit und Tugend wurde jedoch unwissentlich eine der schwersten Pathologien der Moderne in die Welt gesetzt, eine ideologische Kettenreaktion, die in Rassismus, Antisemitismus, Eugenik ihren verhängnisvollen Lauf nehmen sollte und im Lookismus unserer Tage gerade ihren Schönheitsschlaf hält. Bei Johann Caspar Lavater wird zur gleichen Zeit die Devianz vom klassischen Ebenmaß abgewertet. In seiner Physiognomik ist schlechter Charakter ins Gesicht gemeißelt.
Die Bestimmung des Mannes als über christlicher Moral stehende, gestählte Kampfmaschine, als über Moderne, Aufklärung, Ambivalenz und Misswuchs erhabene Muskel- und Sehnenfunktion eines Volkskörpers, irrationaler Todesverachtung geweiht und schicksalsergeben, entseelt und entindividualisiert, wird jedoch bereits im späten 18. Jahrhundert formuliert.
Die Befreiung des Körpers um 1800 ist nicht wie um 1900 eine aus dem Korsett des Viktorianismus. Sie ist nicht Enthemmung, sondern Überführung ins unsichtbare Korsett der Tugend. Obwohl sich am Apollo des Belvedere, jener antiken Statue, die Winckelmann zum Maßstab seines Ideals erhob, uneingestandene Homophilie kathartisch auslebt, verpflichtet der neue griechisch inspirierte Körperkult zu Selbstzucht und Selbstoptimierung. Und – keine zufällige Parallele zur neoliberalen Eigenzurichtung – wird hier höchste Individualität versprochen und größte Konformierung erzielt. Schon 1788 stand in einer deutschen Enzyklopädie, dass jeder, der seine Gesundheit vernachlässige, die Gesellschaft beleidige. Die erste Matte zur Volksgymnastik breitete Johann Christoph Friedrich GutsMuths 1795 mit seinem didaktischen Buch Gymnastik für die Jugend (1795) aus. Moralische Gesundheit und Geisteskraft seien die Folge körperlicher Stärke. Als Beispiele nennt der begeisterte Rousseauist den Naturmenschen, den Apollo von Belvedere und indianische Krieger. Selbstzucht, die Internalisierung äußerer Zwänge zu innerer Haltung sollten zur Pflicht der Ertüchtigung des Volkskörpers werden. Unbedingt empfahl er Kriegsspiele. Und war damit auf der Höhe der Zeit. Joseph LeMaistre sah 1797 die edelsten Ideale männlicher Tugend im Krieg verwirklicht. Nationen erreichten die Größe, deren sie fähig seien, nur nach langen blutigen Konflikten. Sechzig Jahre später forderte der Engländer Thomas Hughes (jener Thomas Hughes, der Iren als weiße Schimpansen bezeichnete) in einer Zwischenetappe zum Naziideal des totalen Kriegers, dass Jungs bei ihren Balgereien bis zum bitteren Ende kämpfen sollten. Das ritterliche Ideal der Rücksicht war somit endgültig suspendiert. Es sei – so Hughes – weder »göttlich noch ehrlich«, nachzugeben, wenn man noch aufrecht stehen und weiterraufen könne. Hughes war nicht etwa ein neuheidnischer Apologet einer nietzscheanischen Herrenmenschen-ideologie, sondern Vertreter der sogenannten »Muscular Christianity«, eines wehrhaften patriotischen Christentums. Als dessen Begründer gilt der Pfarrer Charles Kingsley, der die »Kühnheit des Mannes gegenüber sich selbst« propagierte. Jünger als GutsMuths, aber älter als ihr Schüler Turnvater Jahn waren die skandinavischen Gesinnungsgenossen Franz Nachtegall und Pehr Henrik Ling. Beide verbanden ihr Ideal des trainierten moralisch überlegenen Mannes mit der Rückbesinnung aufs Germanentum. Als Ling 1812 die schwedische Regierung um Gelder für die Einrichtung eines gymnastischen Institutes in Stockholm bat, bewies diese, dass sie noch von altem Schlage war und die staatsbürgerliche Notwendigkeit der Körperzucht nicht recht verstand: »Wir haben«, gab ein Regierungsbeamter zur Antwort, »der Jongleure und Seiltänzer schon genug, ohne ihretwegen die Staatskasse zu belästigen.«
Die schlechtere Romanliteratur der folgenden Epoche spricht eine beredte Sprache. Man könnte die lustvolle Beschreibung vor allem männlicher idealisierter Körperlichkeit, die eindeutige Parteinahme für urwüchsige gesunde Schönheit (sowie die implizite Ablehnung ihres Gegenteils) als typischen Sehnsuchtsreflex einer modernen städtischen Zivilisation für physische archaische Unmittelbarkeit sehen, wie etwa das Bedürfnis des Managers nach Holzhacken und Survivalcamps, doch schwingt da mehr mit. Der Bourgeois erscheint archetypisch als verwachsen, unsicher, untersetzt und schmierig, die kommerzielle Sphäre trägt unverkennbar ein jüdisches Antlitz, gegen das sich naturstämmige, nur ihrer Ehre und Sache verpflichtete Hünen und Heroen abheben. Auch existiert kaum ein Romancier, der in seinen Beschreibungen keine physiognomischen Studien betreibt, und die zu nahe zusammenstehenden Augen sind da noch das harmloseste Beispiel einer Lavater folgenden Charakterkunde. Lord Byron konnte seinen verkrüppelten Fuß noch romantisch als interessante Eigenschaft vermarkten.
Die Vervollkommnung des Individuums durch körperliche Zucht und Schönheit, Tapferkeit und stilles triumphierendes Ertragen von Unwägbarkeiten ist ein Ideologem, mit dem sich dieses monadische Muskelsubjekt am reibungsfreiesten in die Maschinerie der totalen Entindividualisierung, des Volkskörpers, der Volksarmee schrauben lässt. Schön ließ sich das bei meinem Vater beobachten, der zwar dank seines Vaters den Nazis abhold, mithilfe von Nietzsche aber seine adoleszente Übermenschlichkeit der Wehrmacht zur Verfügung gestellt hat. Schon beim Arbeitsdienst, so prahlte er, habe er sich freiwillig zum Ausräumen der Klärgrube gemeldet. Und im Krieg, als wäre er ein Siouxkrieger oder sogar ein feindlicher Kosake, meldete er sich stets freiwillig als Spähreiter. Nirgends zeigt sich die Verdinglichung und die Entwertung des Einzelnen bei gleichzeitigem Versprechen höchsten Selbstzwecks, höchsten Menschenwerts deutlicher als in den modernen Volksarmeen.
1793 hatte die französische Revolutionsregierung in einer Notmaßnahme die allgemeine Wehrpflicht
eingeführt. »Die Ideale der Männlichkeit«, schrieb George L. Mosse, »durch das Prisma des Krieges gesehen, setzten sich in den Köpfen vieler Menschen fest, eine Leistung, die mittelalterliche Ritter niemals zuwege gebracht hatten oder hätten bringen wollen. Die sogenannten soldatischen Ideale selbst wurden von den Gebildeten verbreitet, größtenteils Offiziere, die der Ober- und Mittelklasse entstammten. Der moderne Krieger wurde jetzt gemeinsam mit dem griechischen Jugendlichen und Athleten zum Modell für Maskulinität.«
Theoretisch hätte dieses Leistungsideal auch beim Industrieproletariat perfekt funktioniert. Doch dazu wurde den pauperisierten Massen noch zu sehr als fremden, renitenten Elementen misstraut, als dass man sie ohne weiteres in den Volkskörper hätte einbauen können. Paradoxerweise bediente sich erst der Stalinismus dieses muskulären Arbeiteroptimierungs-Heroismus. Endpointe der Geschichte: Im Neoliberalismus gelingt es den Individuen, sich ihre Selbstoptimierung als Wellness einzureden. Die Disziplinarmacht kann sich in die Hängematte legen, die Eitelkeit der Selbstzurichter arbeitet für sie ganz alleine.
Die sich zunehmend biologisierenden Konzepte von körperlicher und moralischer Überlegenheit, welche sich halb nietzscheanisch, halb vulgärdarwinistisch, zu elitären Systemen rücksichtsloser Konkurrenz auswuchsen und christliche Moral als die Moral von Schwächlingen hinter sich ließen, erzeugten einen unvorstellbaren Druck. Je verweichlichter, unvollkommener sich die grauen Mäuse des Verwertungsprozesses vorkamen, gefangen in der unheroischen Kapitalsphäre, umso stärker das Bedürfnis nach Kompensation. Umso stärker der vorauseilende Gehorsam, die eigene Schwäche an Künstlern, Weibern, Juden, Schwulen und Dekadenten zu ahnden, und sich in heroischer Todesverachtung mit Nietzsche, Homer, Spengler und Karl May im Tornister zu Millionen wie kleine Würmchen in einem apokalyptischen technologischen Dauergewitter verglühen zu lassen.
Den Überlebenden, prophezeite Karl Kraus, wird die Kugel bei einem Ohr hinein- und beim anderen hinausgegangen sein, und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hetzt der Veteran des Ersten, Ernst Jünger, zu neuen Taten: »Unsere Hoffnung ruht in den jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frißt, in den Seelen von Grandezza, deren Träger wir gleich Kranken zwischen der Ordnung der Futtertröge einherschleichen sehen. Sie ruht im Aufstand, der sich der Herrschaft der Gemütlichkeit entgegenstellt und der der Waffen einer gegen die Welt der Formen gerichteten Zerstörung, des Sprengstoffes, bedarf, damit der Lebensraum leergefegt werde für eine neue Hierarchie.«

In der nächsten Folge: Individualität im Heereskörper und Sterben für die Sache.

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Zu Teil 3 der Serie
 

(Bild: Richard Schuberth)