So manche hier erinnern sich vielleicht noch an die gute alte Zeit. Genauer, eine noch nicht allzu weit zurückliegende Vergangenheit, als das Internet noch als Ort galt, in dem eine globale, freie und plurale Gesellschaft entstehen würde. Der geistige Horizont der »Netizens« würde sich erweitern, gleichzeitig könnten sich Menschen mit ähnlichen Interessen oder Problemen austauschen, organisieren und gegenseitig unterstützen, so die Hoffnung.
Bereits in den 1990ern, also quasi in der Jungsteinzeit der sozialen Medien, entstand eine solche Community, deren Mitglieder sich selbst als »Involuntarily Celebates«, kurz Incels, bezeichneten, also Menschen, denen es ungewollt an Sex mangelte. Der Begriff geht zurück auf eine Webseite – heute würde man wohl Blog sagen - unter dem Namen »Alana‘s Involuntary Celibacy Project« und eine von deren Betreiberin, einer Studentin aus Toronto, ins Leben gerufene Mailingliste mit dem Titel »INVCEL«, was bald zu dem leichter aussprechbaren »Incel« wurde. Die Plattform richtete sich an Menschen »jeglichen Geschlechts, die einsam waren, noch niemals Sex hatten oder schon seit langer Zeit keine Beziehung hatten«, beschrieb die nur unter ihrem Vornamen bekannte Gründerin 2018 gegenüber der BBC das Umfeld. »Es gab vielleicht ein wenig Wut und einigen Männern schien nicht ganz klar zu sein, dass Frauen eigenständige Individuen sind, aber insgesamt war es eine solidarische Community.«
Um das Jahr 2000 herum nahm Alanas Liebesleben eine positive Wendung, sie wurde sich ihrer Bisexualität bewusst und ging eine Beziehung mit einer Frau ein. Sie überließ die Community sich selbst, in dem Glauben, diese werde auch ohne sie zurechtkommen.
Von der Selbsthilfegruppe zum geschlossenen Wahnsystem
Rund 20 Jahre später gelten das Internet im Allgemeinen und die sozialen Medien im Besonderen längst nicht mehr als Kristallisationspunkt eines neuen Weltbürgertums, sondern sind geradezu Synonym für die Verbreitung von Hetze, Propaganda und Verschwörungstheorien geworden; die einzigen, die sich tatsächlich effektiv im Netz organisiert haben, sind die neuen Faschisten. Und ein besonders erschreckendes Beispiel für das Umschlagen von der Utopie zur Dystopie ist das, was mittlerweile aus der Incel-Bewegung geworden ist.
Ein sehr umfänglicher und lesenswerter Beitrag des US-Magazins Vox[1] zeichnet diese Entwicklung nach, die in den frühen 2000ern begann, als sich die Community auf zwei Foren aufteilte. Ein Mitstreiter der frühen Stunde, der unter seinem Online-Pseudonym ReformedIncel zu Wort kommt und in dem Forum »IncelSupport« aktiv war, berichtet, dort habe weiterhin ein offenes Klima für alle geherrscht, eine Moderation für die Löschung frauenfeindlicher Beiträge gesorgt.
Das unmoderierte Gegenstück »LoveShy« hingegen wurde zur Geburtsstätte dessen, wofür der Begriff »Incel« heute steht: eine Subkultur von zumeist jungen, weißen, heterosexuellen Männern, die ihren Samenstau in Frauenhass transformieren und sich dabei in eine Wahnwelt mit sektenhaften Zügen samt entsprechendem Jargon hineingesteigert haben.
»Psychologen/Therapeuten sind im Großen und Ganzen Blue-Pill-Verkäufer, die dir für 200 Dollar pro Sitzung Ratschläge verkaufen, wie Looksmaxxing und Showermaxxing dein Leben verbessern«, heißt es da etwa[2] - übersetzt für Uneingeweihte heißt das ungefähr, bei der Empfehlung, ein bisschen auf sein Aussehen zu achten und gelegentlich eine Dusche zu nehmen, handele es sich um eine Art Gehirnwäsche. Frauen werden als »Femoide« bezeichnet, attraktive, muskulöse Männer als »Chads«. Das Weltbild ist krude-biologistisch, Frauen suchen sich demnach ausschließlich »Chads« als Sexualpartner, und zwar so viele wie möglich, um sich anschließend, wenn sie alt und verbraucht seien, einen Durchschnittstypen (»beta cuck«) zu suchen, von dem sie sich aushalten ließen.
Dafür, dass es ihnen selbst dagegen an Erfolg beim anderen Geschlecht mangelt, machen Incels vor allem vermeintliche körperliche Defizite wie eine zu geringe Körpergröße, einen kleinen Penis oder zu schmale Handgelenke (!) verantwortlich. »Incels sind weit mehr auf das Aussehen von Menschen fokussiert, als die Mode- und Kulturindustrie es jemals sein könnte. In jedem noch so kleinen Makel sehen sie das unabänderliche Todesurteil für das eigene Sexualleben«, schreibt Veronika Kracher.
Diese Mischung aus Hass auf sich selbst und auf andere – Frauen ohnehin, die als bösartig, triebhaft und minderwertig gesehen werden; aber auch auf die vermeintlich genetisch überlegene männliche Konkurrenz -, in der sich die Incels gegenseitig anstacheln, macht die Community zu einem nicht zu unterschätzenden Sicherheitsrisiko. Der Begriff »Incel« wurde einer größeren Öffentlichkeit erstmals im Jahr 2014 bekannt, als ein Mann namens Elliot Rodger im kalifornischen Isla Vista sechs Menschen ermordete, 14 weitere verletzte und sich anschließend selbst tötete. Er hinterließ ein 137seitiges Pamphlet, in dem er eine kommende »Incel Rebellion« beschwor und damit tatsächlich etliche Nachahmungstäter fand. Die englischsprachige Wikipedia zählt fünf ähnliche Verbrechen in den USA und Kanada auf, deren Täter sich auf das sogenannte Manifest beziehungsweise die Incel-Ideologie im Allgemeinen beriefen und sich zumeist gezielt Frauen als Opfer suchten. Rodgers Konterfei wird von zahlreichen Mitgliedern der Incel-Foren als Profilbild genutzt, in Teilen der Szene wird er geradezu kultisch verehrt.
Einsam, aber nicht allein
So losgelöst von jeder Realität die Gedankenwelt der Incels sich auch abspielt, so ist sie doch nicht im luftleeren Raum entstanden. Sexismus und offener Frauenhass durchziehen die sozialen Medien wie ein Schimmelpilz, von der Mackerkultur der Tech- und Gamerszene bis hin zu den Netznazis der US-amerikanischen »Alt-Right« und ihren Pendants weltweit, die sexistische Beleidigungen und Vergewaltigungsdrohungen gezielt als Mittel einsetzen, um politische Gegnerinnen einzuschüchtern.
Somit existiert ein weitgefächertes, locker vernetztes Milieu, das im Englischen als Manosphere bezeichnetet wird: ein durchweg weit
rechts einzuordnendes Umfeld, in dem man selbstbestimmte weibliche Sexualität, Feminismus und »Gender-Ideologie« für alle Übel dieser Welt verantwortlich macht. Gerne wähnt man in diesen Kreisen auch, hinter all dem stecke der sogenannte Kulturmarxismus – eine moderne Chiffre, hinter der sich die altbekannte antisemitische Verschwörungsideologie verbirgt. Wie gut das eine zum anderen passt, zeigt Veronika Kracher wiederum am Beispiel der Incels auf: »In gewisser Weise ähneln Incels klassischen Antisemiten: Sie sehen sich als Opfer einer absoluten Übermacht, welche die Welt beherrsche (Frauen), der Verkörperung des Bösen.«
Auch der Sozialdarwinismus feiert in diesen Kreisen fröhliche Urständ; er nennt sich jetzt Evolutionspsychologie und will nach wie vor erklären, dass der weiße Mann seine hergebrachte Stellung in der Gesellschaft innehabe und verdiene, weil das von der Natur halt so vorbestimmt sei. Ein prominenter Vertreter ist beispielsweise Richard Dawkins. Bekannt wurde er mit dem populärwissenschaftlichen Buch »Das egoistische Gen«, sein aggressiver Atheismus brachte ihm auch in sich als progressiv wähnenden Kreisen eine gewisse Beliebtheit ein. In den vergangenen Jahren hat sich Dawkins – wenn man einen Hammer hat, sieht alles aus wie ein Nagel – aus Genetik und Evolutionslehre eine komplette Welterklärung zusammengezimmert; für seriöse Evolutionsbiologen
ist er mittlerweile so etwas wie der peinliche Onkel, der auf Familien-feiern nach dem dritten Bier anfängt, Zoten und rassistische Witze von sich zu geben.
Von der Neuen Rechten gefeiert wird auch der kanadische Psychologe und Bestsellerautor Jordan Peterson, der etwa Hierarchien in der menschlichen Gesellschaft damit erklärt, dass das bei Hummern auch so sei, mit denen unsereins ja schließlich ein gemeinsamer Vorfahr und die gleichen Neurotransmitter verbänden.[3] Als 2018 ein Incel-Anhänger in Toronto mit dem Auto in eine Menschengruppe fuhr und zehn von ihnen, überwiegend Frauen, tötete, erklärte Peterson - »Er [der Täter] war wütend auf Gott, weil Frauen ihn abwiesen« - allen Ernstes, das »Heilmittel« gegen solche Taten sei die Zwangsmonogamie.
Entgiftungskur
Wenn die Manosphere und ihre toxische Männlichkeit das Abfallprodukt einer patriarchalen Gesellschaft sind, dann sind die Incel-Foren die ungesicherte Giftmülldeponie. Am Besten ist es in solchen Fällen stets, dafür zu sorgen, dass der Müll gar nicht erst entsteht - will heißen, dass junge Männer, die sexuell auf dem Trockenen sitzen, erst gar nicht in den Radikalisierungsstrudel der Incel-Welt geraten.
Es wird schließlich niemand als Arschloch geboren, und die Nöte, die am Anfang des Wegs in die Wahnwelt stehen, sind real. Die »Vox«-Reportage zeichnet ein Bild von verunsicherten Teenagern, die sich mit unerfüllbaren Schönheits- und Männlichkeitsidealen und den in diesem Alter unausweichlichen Enttäuschungen konfrontiert sehen, von jungen Männern mit krankhafter Schüchternheit, Autismus oder anderen psychischen Dispositionen, die ihnen das Dating schwermachen; viele berichten von Mobbingerfahrungen.
Derartige Probleme aufzufangen und sich gegenseitig zu unterstützen statt weiter runterzuziehen, war das Ziel der ursprünglichen Gemeinschaft der Einsamen; im Forum »IncelSupport« wurde versucht, diesen Gedanken aufrechtzuerhalten. Nach den Morden von Isla Vista schien das nicht mehr möglich. »Elliot Rodger benutzte das Wort. Und das hat die ursprüngliche Incel-Community praktisch zerstört«, erklärt ReformedIncel, der sich selbst als Chronist der Bewegung versteht.
Rein historisch ist seine Arbeit allerdings nicht: Entsetzt über die Richtung, die die Gemeinschaft nach ihrem Weggang eingeschlagen hat, hat Alana mit der Unterstützung von ReformedIncel und anderen »Veteranen« eine neue Plattform unter dem Namen »Love Not Anger« ins Leben gerufen. Ziel sei es, zu erforschen, warum Menschen jeglichen Geschlechts und sexueller Orientierung Probleme bei der Partnersuche haben, und wirksame Hilfsangebote zu schaffen. »Das Projekt hat vielleicht nicht die Mittel, um Gewalt direkt zu reduzieren. Aber eine einsame Person, die sich noch nicht zu weit in ihren Hass hineingesteigert hat, könnte von dem profitieren, was Love Not Anger anzubieten hat«, so Alana gegenüber »Vox«.
Um das Internet als Ganzes zu entgiften, wäre weitaus mehr nötig. Aber mehr Plattformen, die Wert auf Vielfalt und einen respektvollen Umgang legen, könnten sicherlich nicht schaden.