Einen Keil treiben!

Der Surrealismus wird 100 Jahre alt. »Wendet euch ab!« fordert Pierre-Héli Monot – von der Feier und vom Bürgertum. Chris Weinhold wendet sich »Hundert Jahre Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution« zu.

Was war der Surrealismus? Verschrien wurde er von den einen als bürgerlich und reformistisch, von den anderen als Bürgerhass und Terror. Monot kontert in seiner Geschichte des Surrealismus: Im Namen des ausgeschlossenen Dritten haben die Surrealisten einen »bürgerlichen Bürgerhass« propagiert, der sich gegen den von ihnen kritisierten »reformistischen Terror« der kapitalisierten Gesellschaft richtete. Diese Schreckensherrschaft fordere nicht zuletzt eine »anthropologische Revolution« von den Individuen, nämlich die »Gleichschaltung seiner Begierden mit den Kreisläufen der Akkumulation über die Verkürzung seiner Rationalität auf Interessiertheit bis zur erzwungenen Abgewöhnung von Muße und lieblicher Zwecklosigkeit.« Dass der Surrealismus selber auf Schock und Schrecken setzte, um den Bürger aufzuschrecken, war sein Erfolgsrezept, wenngleich die Wirkung verflog. Das Bürgertum verpanzerte sich just durch den Konsum und die Kommodifizierung von Kritik sehr erfolgreich gegen eine generelle Kritik seiner Macht und seine Funktion innerhalb der kapitalistischen Herrschaft – wenn das kein Grund zum Feiern ist?

Pierre-Héli Monot geht es in seinem Buch darum, zu verstehen, wie die heutige Dopplung von der mehrheitlich getragenen Klage über »Dysfunktionalität« des Kapitalismus innerhalb des Bürgertums mit der gleichzeitigen politischen Paralyse, anderes als »reformistische Synthesen« zum Erhalt des Status Quo als Kultur anzubieten, zusammengeht. Sein neuerliches Interesse am Surrealismus wurde bei der Lektüre eines Textes von André Breton geweckt, der für die Entschlüsselung jenes Widerspruchs hilfreich wirkt. In der Übersetzung von Monot schreibt Breton in Was ist der Surrealismus? (1934): »In der kapitalistischen Gesellschaft haben die Hypokrisie und der Zynismus heute jedes Maß verloren, werden von Tag zu Tag ungeheuerlicher. […] Nun aber ist der Faschismus, nach allem, was wir über ihn wissen, nichts als die Offizialisierung dieser Sachlage, die noch maximal verschärft wird durch die dauerhafte Resignation, die man denen abverlangt, die gerade unter ebenjener Sachlage leiden.«

 

So passt auch die Revolution in den bürgerlichen Schaukasten. Rekonstruktion von Andre Bretons Atelierwand (ausgestellt im Centre Pompidou). (Bild: Jean-Pierre Dalbéra (CC BY 2.0))

 

Monot differenziert den Hypokrit, den Heuchler, vom Lügner und vom Zyniker; er habe ein verlässliches Wissen von den Dingen bzw. wisse, dass man es erlangen könnte, ebenso glaube er an die Möglichkeit wirksamen Handelns, was ihn vom Zyniker trennt, und er glaubt an sein eigenes Heucheln, was es von bloßer Lüge unterscheidet – nicht zuletzt, um es zu vergessen. Jeder kennt solche Figuren und ihr »Gesinnungsgeplapper«, die Monot unter »Bürger« fasst: sie sind betroffen, sie verurteilen aufs Schärfste (diverse Ismen und Diskriminerung), um sich über jene Misere subjektiv zu erheben, an dessen Fortbestand sie objektiv partizipieren. Doch Zyniker und Faschisten wären sie nicht, fügt der Autor sarkastisch an, sie »wählen progressive Parteien, sie duzen sich, sie kennen ihre Familienge-schichten: Sie sind vorgewarnt.« Richtig ist das insofern, als der Faschismus insbesondere in der Figur des Agitators anders agiert: Er ist als »falscher Prophet« (Leo Löwenthal) angewiesen auf die Misere, die gesellschaftliche Malaise, und nicht um ihr abzuhelfen, sondern um sie anzuheizen und zum Kochen zu bringen, beschwört er sie. Beide Figuren sind aufeinander verwiesen, die eine mahnt vor der anderen, welche gegen jene als »Lügenbande« herzieht und Stimmen fängt. Wiederum sind sie beide Produkte kapitalistischer Vergesellschaftung.  Der Faschist selbst da noch, wo er in seiner heuchlerischen Kritik der Vermittlung als Lüge sie gegen das unvermittelte Kommando und Beutemachen tauschen und am Ende alles in Schutt und Asche legen will. Der Bürger als Werte- und Tugendvermittler zwischen Kapital und Arbeit ist geschichtlich geprägt durch seine Kritik der Heuchelei des Feudalwesens, an dessen Stelle nun »Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham« (Karl Marx) stehen. Das Bürgertum hat damit die Freiheit gegenüber den vormaligen Herren getauscht gegen die Abhängigkeit vom Kapital und die Beibehaltung seines tugendreichen Charakters. Emanzipation von direkter Herrschaft und Unfreiheit durch den Zwang der Kapitalverwertung; Monot beschreibt mit Verweis auf die Pariser Manuskripte von Marx die Zerrissenheit des Bürgers im Kapitalismus zwischen »ökonomischen und ethischen Normen« als Dilemma, das wiederum für das Bürgertum Material für Klagen ist, die sein Geschäft ausmachen. Diese Spannung ist die Geschäftsgrundlage für den Bürger und seine Reflexion auf die »Defizite« der Gesellschaft ist das schlechte Gewissen, welches produktiv wirkt. Profitiert hat davon ebenso der Faschismus, indem er sich jene Spannung als Motor für die Produktion von Mythen aneignete. Die gesellschaftlichen Krisen haben das Bürgertum zu einer Reflexion geführt und sie zu einer »reflektierten Gesellschaft«, doch zu keiner anderen Gesellschaft. Die abstrakte Kritik führt nicht zu einer konkreten Änderung der gesellschaftlichen Ordnung.

Längst ist dies, so Monot, in den Institutionen bzw. Organisationen in Form von Strategien angekommen, gleichzeitig »Verantwortlichkeit, Transparenz, Legalität« widerzuspiegeln, möglichst ohne Profitein-bußen, was in der Soziologie seit den 1980er Jahren unter dem Begriff der »organisierten Heuchelei« beschrieben wird. Darin wechselwirkt der heuchelnde Bürger mit einer Umgebung, die abstrakt moralisch aufwertet und ihn konkret handlungsunfähig hinterlässt; wie er ebendieser zur moralischen Absolution verhilft, ohne an Geschäftsaufgabe denken zu müssen. Ergebnis dessen ist ein »kapitalistischer Realis-mus«, der die Einzelnen jeglichen Vorstellungsvermögens über die kapitalistische Gesellschaft hinaus beraubt und sie mit einem bloßen »Quantum warenförmiger Aufrichtigkeit« zurück lässt. Weiters führt Monot den Philosophen Grégoire Chamayou an, wie in Form von »dilemmatischen Regierens« Dominanz gewahrt wird: »Was die Moral Fehlverhalten nennt, ist nichts als der vollendetste Ausdruck dessen, was die Ökonomie als Wohlverhalten bezeichnet. […] Die ethische Führung möchte uns einreden, dass die mächtigen Mechanismen der Marktsteuerung durch die individuelle Responsibilisierung entpolitisierter Akteure überwunden werden können. […] Ökonomische Irresponsibilisierung und ethische Responsibilisierung, konkreter Sittenverfall und abstrakte Aufrufe zu moralischen Verhalten gehören zusammen und bilden ein widersprüchliches Ganzes. Dessen Verlogen-heit anzuprangern, reicht nicht: Die in jeder Situation entscheidende Frage wäre vielmehr, wie man den Widerspruch zuspitzen, das moralische Dilemma in politische Konfliktbereitschaft übersetzen kann.«

Mit dem Wissen um die Dinge kommt keine Konfliktbereitschaft mehr auf, was nicht heißt, dass die Konflikte abnehmen. Was wiederum mehr Heuchelei, Resignation und Zynismus nach sich zieht. Der Faschist weiß aus dieser explosiven Stimmung Profit zu schlagen. Befriedet sind nicht die innergesellschaftlichen Spannungen, entwaffnet wird nur die radikale Kritik, die sich nicht einlässt auf einen Dialog mit der Macht. Jene Bereitschaft zum Konflikt herzustellen, war das Programm des Surrealismus vor hundert Jahren. Eine Bande von bürgerhassenden Bürgern agitierte gegen das bürgerliche Versprechen von Fortschritt und propagierte einen »revolutionären Nihilismus« (Walter Benjamin), praktizierte den Müßiggang und kritisierte den Arbeitsfetisch, verschrie Recht und Ordnung und applaudierte denen zu, die aus welchen Gründen auch immer gegen das Gesetzte verstießen. Sie fielen ihren Kollegen in den Rücken, dem Bürgertum, das keine Klasse sein will und kann und ohne die doch keine Klassengesellschaft auskommt, den »ideologischen Ständen« (Karl Marx), welche zwischen Arbeit und Kapital vermittelte. Pierre-Héli Monot fasst zusammen: »Ihr erklärtes Ziel war es, den ideologischen und politischen Zusammenhalt der Mittelklassen mit der Bourgeoisie und der Kapitalistenklasse zu zerschlagen.« Einen Keil in jene Gruppe treiben, die den Kitt für diese Gesellschaft besorgt und heute firmiert unter »mittlere Bourgeoisie« oder »professional-managerial class«, die heute zwischen »Kleinbürgertum und Kapitalisten« vermitteln muss und, so Monot, die »wesentliche Trägerschaft einer jeden progressiven Kritik« sei.

Der Keil würde jene nötigen, sich zu entscheiden, ob sie weiter Dienstleister der Verwertung sein wollen oder die Tätigkeit bestreiken; damit aber ebenso, ob sie sich weiterhin als Vormünder inszenieren und an die Spitze von Protestbewegungen setzen sollten. Aufgezeigt würde damit zuerst die innere Zerrissenheit dieses Milieus selbst, welches sich oft mehr schlecht als recht als Einheit verkaufen kann und somit sehr eigenen Friktionen unterliegt. Zu dieser Zerrissenheit gehört der allgemeine Fall des Niveaus selbst gespielter Kultiviert-heit und die sinkenden Löhne. Eine Ausgangslage, die, wie Monot es sieht, bereits zu Spaltungen führt: Es sondere sich eine »rohe Bürgerlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer), eine verrohte Schicht, die unverhohlen »Klassenkampf von oben« betreibe und sich in Selbstgewissheit des liberalen Lagers vor Kritik immunisiere, ab von einem selbstreflexiven bürgerlichen Subtypus, der eine »alltägliche Anklage gegen die Verhältnisse« formuliere. Um diese »soften« Bürger geht es Pierre-Héli Monot, zu denen er wohl selbst gehört, und die Hoffnung wäre eine vollendete Spaltung des bürgerlichen Lagers für Konvergenzen des Protests; damit wäre die surrealistische Losung verwirklicht.

Monot hält den Surrealismus für eine strategische Möglichkeit zur Spaltung des Bürgertums zum Zwecke von Allianzen politischer Veränderung. Doch genau ab diesem »Moment der bürgerlichen Zersplitterung müsste man schlagartig eine gesunde Aversion gegen revolutionäre Reinheit kultivieren, sich dem Selbstmordeifer, dem Heroismus, dem Spontaneismus und anderen Peinlichkeiten und Fiesereien der Manifeste verweigern, jedes kulturelle Rebellions-surrogat ausschlagen – denn man bräuchte plötzlich die Menge, und das Bürgertum ist nie die Menge«. Zurecht konstatiert Monot, dass bürgerliche Revolten gegen das Bürgertum »Enthemmungsmomente« sind, die einen Preis haben, den andere zahlen müssen. Doch sollte man dazu ein strategisches Verhältnis einnehmen, dass den Bürgern jemand sozialpolitische Manieren beibringt oder eines der bestimmten Negation des bloßen Ausrastens eben dieser? Mit dieser Diskussion hat Pierre-Héli Monot den Feiern des Bürgertums zum 100. Geburtstag des Surrealismus einen würdigen Beitrag gebracht und in die feine Stube gebrochen, wie das einst der Surrealismus getan hatte.

Pierre-Héli Monot: Hundert Jahre Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution. Erschienen im Juli 2024 bei Matthes und Seitz.