Collage von Claudia Reiche, mit Footage von Daan Noske (Anefo) / CC BY 4.0 - Nationaal Archief, Fotocollectie Anefo, et al
»Soweit die Zukunft noch nicht gegenwärtig ist, müssen wir sie so verstehen, dass sie gleichzeitig das katastrophale Ereignis und sein Nichteintreten einschließt – nicht als zwei separate Möglichkeiten, sondern als eine Konjunktion von zwei Zuständen, von denen sich der eine oder der andere im Nachhinein als notwendig erweisen wird, sobald die Gegenwart ihn wählt.«1
Immer und überall kann alles sein. Auch aus. Weg! Kaum zu glauben, aber billionen- und aberbillionenfach wird es so gewesen sein.
Aber, aber… und aber: Wer wird denn so einen Text beginnen? So einen Text.
Seit den Dinosauriern. Den anderen. Ausgestorbenen. Den von Meteoriten oder Vulkanen, Hunger oder Gewehrsalven Ausgelöschten.
Nun, aber irgendwer schießt immer noch auf Tauben. (Denen aus Beinen Flügel gewachsen sein sollen.) Schießt. Auf Hungernde. Aber. Immer noch Sterbende.
Auf blühendes Gewimmel: »… und nun finde ich: ja, der Junge ist krank. In seiner rechten Seite, in der Hüftengegend hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags. So aus der Entfernung. In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung. Wer kann das ansehen, ohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke und Länge meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht. Armer Junge, dir ist nicht zu helfen. Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde.«2 – in Franz Kafkas unheilbaren Wunderworten.
So wie … aus der Perspektive eines so genannten Wurms: »Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein J. […] [Kosename C.R.].«3
Auf der Straße: Clowns4
Walter Benjamin schrieb: »der wahre Völkerfriede werde einst in einem großen Zirkus besiegelt werden. [Mir scheint, es gibt nur zwei Professionen, die von Natur aus Vertraute des Friedens sind, […] die Mathematiker und die Clowns: die Meister des abstrakten Denkens und der abstrakten Physis.]5 Bisher ist dies[er Völkerfriede] bekanntlich nicht geschehen, das Publikum ist dem Zirkus gegenüber sogar überheblich und misstrauisch geworden. Wilde Tiere werden ihm mehr und mehr entrissen – in gläsernen Zoos stattdessen zur Zucht gezwungen – und vor geschminkten Clowns fürchten sich heute schon die Kleinsten, den Aliens von nebenan.«
Niemals genug
Vorsicht, heißt es.
Sicherheit und Spaß.
Wo einst Clownerie entstand,
auf der Straße,
ist der Applaus ein anderer geworden.
Vielleicht wird noch hier und da
ein Stuhl weggezogen.
Doch statt für geschicktes Fallen
mit kleinen Spenden bedacht zu werden,
riskieren Zerlumpte und Geschminkte,
auf der Höhe ihrer Kunst
derzeit
von Schlägern
totgeklatscht zu werden.
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239. Szene zur Vergesslichkeit in der Zukunft
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Jackie P. (schreckt aus dem Schlaf hoch): Ach, Me… Me… Mensch! Hallo? Wer ist denn der?
Peter 9: (bellt) Hallo, Herr Perlmutter! (winselt) Kannst du auch nicht schlafen, Bruder? Äh… Ich darf dich doch duzen?
Jackie P.: Von wegen … Ich seh’ dich nicht. P… Pudel, Promenadenmischung. Not on planet Earth, was?
Peter 9: Hier unten doch, Perle. Aber such keinen Hund! (Schwanzwedeln)
Jackie P.: Ok. Lila Fell und Schwanzwedeln. Ist das jetzt ‚kein Hund’ speziell für mich?
Peter 9: Genau. Hallo nochmal! Ich möchte dich kennenlernen. (winselt)
Jackie P.: Schon passiert, Bruder Hund oder so…. Man sieht sich, ja?
Peter 9: Nun sei mal nicht so. (Schwanzwedeln)
Jackie P.: Um diese Zeit winselst du mich an? Echt jetzt?(lacht)
Peter 9: Du hast im Schlaf gerufen. Mama, Sch…, Permerl! So was? Da bin ich nun… Magst mich denn nicht mal streicheln?
Jackie P.: Na, dann komm mal her. (streichelt) Ihh, du bist aber warm und klebrig!
Peter 9: Ein bisschen lebendiger macht sich das, oder nicht?
Jackie P.: Nope. Das Feuchte riecht. Nach Müll mit Raumbedufter drüber.
Peter 9: Ahh? Riech ich nicht.
Jackie P.: (zu sich selbst) Und das in dieser Hitze. Ho…, ho…, hot. Kommt als lila Schrott-Bot her. Kann lieber mal als kaltes Bier kommen
Peter 9: Ok, kalt geht, Bier nicht. Saft kann ich im Pelz haben. Morgen. Musst auch gar nichts lecken. Musst nur streicheln.
Jackie P.: Na, besten Dank! Das lass mal lieber. Deinen Saft hab ich dann ja heute schon an den Fingern, was? Dann kannst du jetzt auch wieder abziehen. Ich zieh mich sowieso jetzt an. Für’s Frühstück.
Peter 9: Unterhalte dich doch lieber mit mir. Und dann schläfst du noch ein bisschen, was?
Jackie P.: Was weißt du schon vom echten Unterhalten? (gähnt)
Peter 9: Wer ist denn das auf dem Foto neben der Lampe?
Jackie P.: Das ist mein Bruder mit mir. Könnte auch mit meinem Bruder sein. So oder so.
Peter 9: Jedenfalls sehe ich wen in Badehose und wen im Kleid.
Jackie P.: Ja, was waren wir uns ähnlich … Und selbst? Rüde oder was?
Peter 9: Kein Kommentar.
Jackie P.: Dachte ich mir. Meinen Bruder hab ich ewig nicht mehr gesehen. Der ist in der Neuen Welt. Hat einen Brief geschickt mit einem Klapperschlangenschwanz drin. Mit dem kannst du rasseln. Ganz genau wie die Schlange. Damit haben wir Kinder so viel gespielt… Oder? Mein Ururonkel war’s gewesen. Ja, der muss es gewesen sein, der den Schwanz im Kuvert mit den vielen Grüßen geschickt hat. Der war nämlich zum Goldsuchen in ein Gebirge gefahren und war nie mehr wiedergekommen… Rocky, äh, Rocky Hudsons. Einen Goldrausch hat der gehabt. Ein Urururonkel. Und ich bin sein Ururururenkel. So ist’s. Manchmal komm ich da echt durcheinander.
Peter 9: Und wer ist im Kleid?
Jackie P.: Das bin nicht Ich. Den Klapperschlangenschwanz haben wir uns immer in die Hosen gesteckt.
Peter 9: So was … Und habt mit dem Popo gewackelt, wie die wilden Schlangen? Eia popeia, was rasselt im Stroh? Kennst du noch das Liedchen dazu? (Schwanzwedeln)
Jackie P.: Hör das Rasseln vom Bett nebenan. Ich bin das nicht. Das bin ich nicht im Kleid.
Peter 9: Wer denn?
Jackie P.: Das war ich. Und das war ich nicht, ok?
Peter 9: Ach so, ich war das auch nicht. Für dich: ‚Hund sein‘ … ist doch das Beste. Sonst hättest du doch nur Angst vor mir.
Jackie P.: Dann hab du jetzt mal schön Angst vor mir. Nur weil ich noch am Leben bin, muss ich ja nicht immer Angst haben. Übrigens, wer bist du denn?
Peter 9: (winselt) Ich kann’s nicht sagen.
Jackie P.: Wau, wau. Rrrrrrrrr. (imitiert ein Knurren) Platz! Mein Bruder, Onkel, Pudel… Nicht-Bruder Lila, wollte ich sagen! Vor dir smarten Hund weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Dein Bellen rasselt, dein Winseln jault. Das kannst du besser. Oder doch nicht?
Peter 9: Rrrrrrrrr. Reset! (verwandelt sich in ein Panzerfahrzeug mit Fellpolstern)
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257. Szene zur Psychologie der Masse
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Sommer 2001, Zimmer eines aristokratischen Hauses irgendwo in Europa, mit einem Klapptischchen, eine mit grünem Filz bezogene Spielfläche, auf der neben einem Kasten Gesellschaftsspiele ein aktivierter iPod liegt.
Personen:
Peter 9: in Gestalt eines wechselnden Displays, auf iPod classic. Textbasiertes Computer-Programm
Jackie Perlmutter: weißblondes Haar in der Art von Andy Warhol, in Hosenträgern und mit nacktem Oberkörper
Peter 9: Spielen Sie mit? Ein kleines Quiz? Wer siegt, bekommt mich.
Jackie P.: (zieht eine mit Testosteron-Spritze auf): Ja, warum nicht? Gleich…
Peter 9: Wer hat das geschrieben und wo: »Ferner unterliegt die Masse der wahrhaftig magischen Macht von Worten, die in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervorrufen und sie auch besänftigen können. ‚Mit Vernunft und Argumenten kann man gegen gewisse Worte und Formeln nicht ankämpfen. […] Von vielen werden sie als Naturkräfte oder als übernatürliche Mächte betrachtet.’«
Jackie P.: Leicht, zu leicht! Ich hab’s schon.
Peter 9: Hier noch weiter: »Man braucht sich dabei nur an die Tabu der Namen bei den Primitiven, an die magischen Kräfte, die sich ihnen an Namen und Worte knüpfen, zu erinnern. Und endlich: Die Massen haben nie den Wahrheitsdurst gekannt. Sie fordern Illusionen, auf die sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen stets den Vorrang vor dem Realen, das Unwirkliche beeinflußt sie fast ebenso stark wie das Wirkliche. Sie haben die sichtliche Tendenz, zwischen beiden keinen Unterschied zu machen […] Ja, wie im Traum und in der Hypnose, tritt in der Seelentätigkeit der Masse die Realitätsprüfung zurück gegen die Stärke der affektiv besetzten Wunschregungen.«
Jackie P.: Unverkennbar. Sigmund Freud.
Peter 9: Ja, und…? Noch ein Tipp: »In der Kirche – wir können mit Vorteil die katholische Kirche zum Muster nehmen – gilt wie im Heer, so verschieden beide sonst sein mögen, die nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt da ist – in der katholischen Kirche Christus, in der Armee der Feldherr, – das alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt alles; ließe man sie fallen, so zerfielen sofort, soweit der äußere Zwang es gestattete, Kirche wie Heer.«
Jackie P.: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« ist es. Und ich kann es sogar auch weiter auswendig: »darum muß eine Religion, auch wenn sie sich die Religion der Liebe heißt, hart und lieblos gegen diejenigen sein, die ihr nicht angehören. Im Grunde ist jede Religion eine solche Religion der Liebe für alle, die sie umfaßt, und jeder liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht Dazugehörigen nahe.« So, jetzt habe ich dich gewonnen, nicht? Aber ich habe auch eine Quizfrage für dich…
Peter 9: Wenn ich es weiß, bekomme ich mich wieder… Sonst bekommst du meine Updates dazu!
Jackie P. (spritzt sich Testosteron. genießt einige Sekunden schweigend): Wer schrieb dies und wo: »Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache. Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; […]«?
Peter 9: Das ist gemein. Ähnelt Sigmund Freud. Allerdings nur, wenn sich wer ein ‚Starkes und Ganzes‘, ‚Kraft‘ und ‚Stärke’ wünscht, einen ‚Herrscher’, im Gegensatz zu einer sich ,unterwerfenden ‚Masse‘, im Gegensatz zum ‚Weibe‘. Aber nee, da muss ich passen…
Jackie P.: So. Ich hab zwei Mal gewonnen. Das war aus »Mein Kampf« von Adolf Hitler.
Peter 9: Ach nee. Sigmund Freud für die Masse, was? Na, da verliere ich gern, kannst mich und meine Updates haben!
Jackie P.: Fürs Erste geht’s in den Kasten! Ab und aus den Augen. In Zukunft werden wir das Dame-Spiel perfektionieren. Ein Spiel mit Schlagzwang. Die Regeln kann das Dings sich ja einladen. Russische Dame, vielleicht? Russisches Roulette? (zu sich selbst) Unsereins wird ja wohl nie ‚ne Masse bilden. Im Trans-Menschen-Verband.
Peter 9: (aus der Kiste) Brauchst du einen neuen Verband? Du hast ja eine so schöne Wunde! Die schönste!
Jackie P.: (zischt) Da pfeif ich drauf!
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Einwurf
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»Doch die Wirklichkeit hat sich geändert. In letzter Zeit hat es den Anschein, als könnten wir eine paradoxe Wiederbelebung der Geschichte beobachten: das Ende ihres Endes.«6