Von schwulen Herrenmenschen

Vorabdruck aus »Lord Byron – der erste Anti-Byronist« von Richard Schuberth.

Dieser Tage erscheint Richards Schuberths konzeptuelle Textsammlung »Lord Byron – der erste Anti-Byronist« als Buch. Darin behandelt er den »puritanischen Backlash«, die Umbruchzeit zum sittenstrengen Viktorianischen Zeitalter und rehabilitiert Byron als entspannten Kritiker von Identität, Starkult und des eigenen Narzissmus.

Schuberth befragt den Byron’schen Antihelden Byron zudem zu Orientalismus, Raubkunst und Postkolonialismus, der Erfindung des modernen Ich, zur »Byromania« und frühen Popkultur, zu Feminismus, Antisemitismus, seiner Körperbehinderung, seiner Bisexualität, zu Dandyismus, seinem Platz in den politischen Strömungen seiner Zeit und seinem Stellenwert als Dichter im Zwiespalt zwischen Aufklärung und Romantik.

Den darin enthaltenen Essay »Lord Byron auf dem Diwan, Postkolonialismus auf der Couch« druckten wir bereits in der Versorgerin in vier Teilen von Frühjahr 2023 bis Frühjahr 2024. Hier das Abschlusskapitel des Langessays »Gaylord Byron« im Vorabdruck. Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags.

 

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»Iiii, du hast ein Mädchen geküsst. Du bist sowas von schwul!« Jimbo Jones zu Nelson Muntz in »The Simpsons«

In den vorbürgerlichen Gesellschaften des Westens galt der Sodomit (Anm.: damalige Bezeichnung für homosexuelle Männer) als die denkbar schändlichste Kreatur, doch seine Subjektivität stellte das nicht in Frage. Die englische Rechtspraxis setzte ihn um 1780 solch illustren Bösewichtern wie dem Straßenräuber und dem Hochverräter gleich. Immer wieder hatten radikale Individualisten, so sie mutig und adelig genug waren, mit gleichgeschlechtlichem Sex auch ihre Verachtung gesellschaftlicher Werte artikuliert und mit ihrer Verächtlichkeit kokettiert. Als sich die Strafpraxis im Laufe des 19. Jahrhundert liberalisierte, und weder Pranger noch Galgen befürchtet werden mussten, trauten sich einzelne Bohemiens sogar, das dämonische Image des schwulen Bürgerschrecks zu usurpieren. Ein solcher war der Poet Algernon Swinburne, dessen Homosexualität ein großer Spezialist in Sachen ästhetisch verfeinerter Libertinage, Oscar Wilde, nicht recht über den Weg trauen wollte. Spöttisch hieß er Swinburne einen »Angeber in Sachen Laster, der alles getan hatte, um seine Mitbürger von seiner Homosexualität und Wüstlingshaftigkeit zu überzeugen, ohne auch nur im Geringsten homosexuell oder ein Wüstling zu sein«.1

 

Angeber in Sachen Laster: Algernon Charles Swinburne (Bild: Public Domain)

 

Zu dieser Zeit war der dämonische Sodomit längst zum Objekt wissenschaftlicher Kategorisierung und sozialhygienischer Besachwaltung geworden. Die moralische oder charakterliche Deformation einst intentionaler Akte war zur Krankheit erklärt, der Wüstling der Neigungsgruppe der Uranier oder Homosexuellen zugeteilt worden. Dekriminalisierung und Toleranz konnten diese und ihre wissenschaftlichen Verteidiger nur über die Affirmation ihrer Objektivierung erkämpfen. Ob die sexuelle Abweichung, wie Krafft-Ebing und Hirschfeld postulierten, als Stigma nun im Erbgut liege oder, wie die Psychoanalyse abschwächte, ein Produkt misslungener psychosexueller Entwicklung sei, bedeutete nur einen graduellen Unterschied. Es würde noch weiterer 100 Jahre und der Kämpfe der LGBTQ+-Bewegung und ihrer Vorgänger bedürfen, um den Zwang dieser Identitäten in sexuellem Pluralismus aufzulösen.

Einen letzten Zweifrontenkrieg gegen die Diskriminierung Homosexueller und ihre Pathologisierung führte Karl Kraus, indem er das alte feudale Ideal des Libertins pries, der seine Lust prinzipiell an jedem Objekt befriedigte. In seiner Arroganz gegenüber dem effeminierten Schwulen aber hallen alte patriarchale Muster wider.

Aufgeschlossene Geister, welche die Homoerotik der alten Griechen nicht länger leugnen, aber auch nicht perhorreszieren wollten, suchten nach Erklärungen für dieses Phänomen, und enthüllten dabei mitunter einiges über sich und die eigene Gesellschaft. Byrons Freund Percy Shelley, hin- und hergerissen zwischen dem üblichen Ekel vor homosexuellen Praktiken und einer Ehrenrettung romantischer Männerliebe, ließ dieser Widerspruch nicht los, ehe er ihn in einem für seine Zeit mutigen Essay (Discourse on the Manners of the Antient Greeks Relative to the Subject of Love) aufzulösen trachtete. Es mangelt im Übrigen bis heute nicht an Versuchen, Shelley manifeste Homosexualität nachzuweisen; die Schwulenbewegung versuchte den freigeistigen androgynen Poeten posthum zu outen, manche seiner Hasser schon zu Lebzeiten. Es lässt sich nicht nachweisen, ob er je seine pansexuelle Natur, die alle Menschen in nuce teilen, auslebte. Seiner Frau Mary Shelley fiel jedenfalls auf, dass er den männlichen antiken Statuen stets mehr Aufmerksamkeit schenkte als den weiblichen, was er in seinem Discourse auch zugibt. Mehr noch sieht er, neben dem geringeren intellektuellen Reiz griechischer Frauen für die Männerwelt (die für ihn aus Philosophen und Dichtern zu bestehen scheint), auch in ihrer angeblich geringeren physischen Attraktivität die Gründe für die Hinwendung der Griechen zum eigenen Geschlecht. Nicht nur glaubte er offenbar, die antiken Statuen gäben das authentische Aussehen der Hellenen wieder, sondern verallgemeinerte seinen persönlichen Geschmack (den wohl nicht viele geteilt haben) zum Faktum. Dann aber geriet er ins Schwärmen.

Die männlichen Hellenen jedenfalls »müssen in ihrer äußeren Form den Vorbildern entsprochen haben, die sie als Muster dessen hinterlassen haben, was sie waren. Die festen und dennoch fließenden Proportionen ihrer Formen, die gewinnende Vorbehaltlosigkeit und Leichtigkeit ihrer Manieren, ihre Beredsamkeit in einer Sprache, die reine Musik, pure Überzeugungskraft ist, ihre Gesten, die gleichzeitig von Sanftmut animiert sind wie von jener Kühnheit, die der festen Gewohnheit entsprach, sich selbst und andere zu überzeugen und zu beherrschen; und schließlich die Poesie ihrer religiösen Riten, die ihr ganzes Wesen durchdrang, machte die Jugend Griechenlands zu einer Rasse von Wesen, die sich stark von der des modernen Europas unterschied.«2 Folglich sei es nicht überraschend, dass »schöne Exemplare des männlichen Geschlechts Objekte jener Art von Gefühlen wurden, welche sich gegenwärtig lediglich auf Frauen richten.«3

Shelley enthüllte mit diesen Worten mehr von seiner Gegenwart, als ihm lieb war. Immerhin ist ihm nicht abzusprechen, dass er nach der intellektuellen Seelenpartnerin suchte, bei der Eros und Sexus, körperliche und geistige Liebe in eins fallen. Dies implizierte ein Bild von Frauen, das deren oftmalige intellektuelle Unterlegenheit, ihre Reduktion auf die Sphären von Gefühl und Häuslichkeit als Folge ihrer Unterdrückung und Marginalisierung erkannte, und nicht als unabänderliche und letztlich auch wünschenswerte Natur. Auch im viktorianischen Zeitalter suchten Schöngeister den intellektuellen Herzensbruder und zeigten gar kein Interesse daran, dass Frauen in Bildung und Kreativität zu ihnen aufschlossen und den Käfig von Tratsch, Haushalt, Mode, Repräsentation, Emotionalität und Banalität verließen. Shelley war da ein, zwei Generationen zuvor schon weiter.

Die Ächtung homosexuellen Begehrens, das genug Lasten zu tragen hatte, entlastete dieses von kritischer Prüfung durch die mit den Verfolgten Solidarischen. Denn wie die heterosexuelle Norm ist es keine einheitliche Disposition, sondern ein Feld, auf dem sich alle Scheußlichkeiten und Schönheiten des Lebens kreuzen mögen. Sigmund Freud konnte Homosexualität nicht anders verstehen als das Steckenbleiben in der narzisstischen Phase der Persönlichkeitsentwicklung, was sich aus der etwas simplen Formel ergab, dass der Homosexuelle im Gleichgeschlechtlichen sich selbst begehren würde, also zur reifen Objektbeziehung noch nicht fähig sei. Was als Verallgemeinerung bizarr und homophob wirken mag, enthüllt seinen wahren Kern in bestimmten Spielarten homoerotischer Bindungen an politische Macht.

In Männerbündelei, in patriarchalem Maskulinismus schwelt immer verdrängte Homosexualität, und in den Gesellschaften, die sie am meisten ächten, schwelt sie am heißesten. Wo Härte, Selbstentsagung und Konkurrenz männlich, Weichheit, Nachgiebigkeit und Liebe weiblich kodiert sind, verspricht die libidinöse Bindung an den Korporal, Leibburschen, Gangführer und politischen Mobster zugleich Teilhabe an »männlicher Stärke«, der lustvoll sich zu unterwerfen sogar von der Schmach »weiblicher Schwäche« reinzuwaschen vermag. Selbst wenn sich Homosexualität in diesen Cliquen nicht physisch auslebt, ist sie das Fluidum, das ihre in permanenter Adoleszenz und Omnipotenzfantasien gefangenen Mitglieder an ihre Führer bindet. Dieses homoerotische Herrschaftsarrangement ist die Mutter aller Schwulen- und Frauenfeindlichkeit, »in welcher«, wie Adorno erkannte, »verdrängte Homosexualität als einzig approbierte Gestalt des Heterosexuellen auftritt. Die Gegensätze des starken Mannes und des folgsamen Jünglings verfließen in einer Ordnung, die das männliche Prinzip der Herrschaft rein durchsetzt.«

Das macht das latent schwule Substrat vieler rechter Bewegungen aus. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der in der Neuen Rechten Europas äußerst einflussreiche Führer der Freiheitlichen Partei Österreichs Jörg Haider (1950–2008) zu vielen seiner jungen Günstlinge, die in Österreich treffend auf »Buberlpartie« getauft wurden, sexuelle Beziehungen nach dem Muster von Erastes und Eromenos pflegte. Und ebenso ein offenes Geheimnis ist es, dass er ein ausgesprochenes Faible für arabische und orientalische Männer und Burschen hatte. Das zeigte sich nicht nur in seiner intimen Freundschaft mit Saif Gaddafi, dem Sohn des lybischen Diktators, sondern vielen jungen Arabern, die in Wien oder Klagenfurt von Haider angemacht wurden. Er stand somit in einer ziemlich soliden Tradition eines rechten Homo-Orientalismus.

Keine rechte Bewegung kann schwulen- und ausländerfeindlich genug sein, als dass sich in ihr nicht geheime unterirdische Gänge zu Homoerotik und Exotismus fänden.

Manche mochten es als prophetisch empfinden, für mich war der Zusammenhang evident, als ich 2002 in einem Drehbuch zu einer Multikulti-Satire folgendes Szenario entwarf: Die Wiener Sektion einer rechtspopulistischen Partei putscht gegen ihren schwulen Führer. Dieser ist orientophil, jene serbo- und russophil. Genau das trat drei Jahre später ein.

Mit ihrer Revolte kündigten Teile der Buberlpartie, welche in Heinz-Christian Strache einen weiteren Leitwolf finden sollten, ihre homoerotische adoleszente Bindung an die einstige Vaterfigur. Der festgefrorenen Adoleszenz entkamen sie dadurch nicht. Der Identifikation mit dem slawischen Maskulinismus nationalistischer russischer oder serbischer Halbwelt diente der Festigung der eigenen Geschlechtsidentität, der eigenen nationalen und der eigenen politischen Identität. Die rechte Slawophilie und die rechte Orientophilie sind zwei Modelle einer antiwestlichen Realitätsflucht. Die eine gebärdet sich latent, die andere offen homoerotisch.

Die lange vorherrschende Assoziation von Homosexualität mit Dekadenz, Effeminierung und Identitätsdiffusion überschattete einen anderen Strang des schwulen Orientalismus. Viele westliche Zivilisationsflüchtlinge fühlten sich magnetisch vom Ideal testosterongetränkter Männergesellschaft angezogen, einer festgefügten spartiatischen Ordnung edler patriarchaler Machos, ob unter arabischen Beduinen oder albanischen Bergstämmen.

Moderne, Kapitalismus und Bio-Macht penetrierten das gerade erst aus dem Ei geschlüpfte freie Individuum und unterwarfen auch Liebe und Freundschaft dem Kalkül von Kosten und Nutzen. Dieser effeminierenden Unterwerfung ließ sich ideell durch die Romantisierung vormoderner schwuler Krieger entkommen. Nicht der Gefickte, sondern der Ficker sein! Eine souveräne Homoerotik zu leben, welche die Geschlechterhierarchien intakt ließ, dass Herrenrecht einer romantischen Männerliebe, die nominell nicht körperlich ist, der aber alle Tore zu dieser Möglichkeit offen standen. Die Verachtung von Aufklärung und Moderne sowie Antisemitismus und Misogynie flankierten diese Tendenz fast immer. Je mehr sie später mit dem Faschismus konvenieren würde, desto nietzscheanisch-aristokratischer ihr Personal auftrat. Der Kleinbürger und Antisemit T. E. Lawrence sympathisierte mit Hitler, der exzentrische Franz Baron von Nopcsa, der in der homoerotischen Kultur nordalbanischer Stämme schwelgte, war Antisemit, aber ganz seiner aristokratischen Herkunft gemäß konsequenter Antinationalist und pries an seinen edlen Bergkriegern unter anderem die Unempfänglichkeit für nationales Denken und andere moderne Flausen.

Dort wo homosexuelle Praktiken kaum verfolgt wurden und die passionierte Männerfreundschaft zum guten Ton patriarchaler Ordnung gehörte, schlugen rebellische Frauen verständlicherweise andere Töne an als solidarische. Eine der ersten feministischen Anfechtungen der omnipräsenten Päderastie und männlicher Homosexualität im Iran stammt aus dem späten 19. Jahrhundert von der Pionierin der persischen Frauenrechts-bewegung Bibi Khanom Astarabadi. In ihrer Streitschrift Ma‘ayib al-Rijal (Die Laster der Männer) beklagt sie das Schicksal in lieblosen Ehen weggesperrter Frauen, mit Ehegatten, die ihre Leidenschaft mit anderen Männern befriedigten.

Das Studium von Modellen altgriechischer oder orientalischer Männerliebe mag wichtig gewesen sein, um im Westen homophobe Repression zu bekämpfen, aber auch fixe Sexualidentitäten infrage zu stellen, sie taugen indes nicht als emanzipatorische Ressourcen. Janet Afary und Kevin B. Anderson resümieren in ihrem Buch Foucault and the Iranian Revolution:

»Was die zeitgenössische Schwulen-/Lesbenbewegung zu einem so historischen Durchbruch verhalf, ist die Tatsache, dass sie eine Reihe neuer feministischer ethischer Prinzipien in ihren Diskurs aufnahm, wie etwa das gegenseitige Einverständnis der Partner, die öffentliche Anerkennung der Beziehung und Allianzen entlang von Rassen-, Ethnien-, Klassen- und Geschlechterunterschieden. Auf diese Weise ist sie weit über die aristokratische männliche Ethik der Liebe im antiken Griechenland hinaus zu einer umfassenderen und moderneren Ethik der Fürsorge gelangt.«4

In Bezug auf diese »aristokratische männliche Ethik« schrieb Louis Crompton 20 Jahre zuvor in Byron and Greek Love, das über sein Sujet hinaus zu den lesenswertesten Büchern über Lord Byron zählt: »Homosexuelle wie Walt Whitman, John Addington Symonds und Edward Carpenter, welche die ,Kameradenliebe‘ feierten (d. h. sich zu erwachsenen Männern hingezogen fühlten), hatten oft starke feministische Sympathien und sahen im männlichen Suprematismus eine Form der Unterdrückung, die sich sowohl gegen Frauen als auch gegen schwule Männer richtet. Aber Schriftsteller, deren homosexuelle Gefühle eine päderastische Form annahmen, wie Stefan George und Thomas Mann, haben im Allgemeinen die alten Griechen favorisiert und die Aristokratie der Demokratie und Hierarchien dem Egalitarismus vorgezogen. Auf der sexuellen Seite entsprach Byrons Politik der zweiten Gruppe. Byron hatte einen ungebrochenen Hass auf politische Tyrannei, aber wie viele Liberale war er nicht ganz konsequent: Er setzte sich für unterdrückte Schüler, ausgebeutete Arbeiter und unterjochte Minderheiten wie irische Katholiken und die Griechen unter türkischer Herrschaft ein und verteidigte gelegentlich ritterlich Frauen als Einzelpersonen, nicht aber Frauen als Klasse.«5

Literatur

Janet Afary / Kevin B. Anderson: Foucault and the Iranian Revolution. Gender and the Seductions of Islamism. Chicago 2005.

Louis Crompton: Byron and Greek Love. Homophobia in 19th Century England. Berkeley / Los Angeles 1985.

Michael & Barbara Foster: A Dangerous Woman. The Life, Love and Scandals of Adah Isaacs Menken, 1835–1868, America‘s Original Superstar. Guilford, Connecticut 2011.

[1] Zit. n. Foster & Foster 2011: 281f.

[2] Zit. n. Crompton 1985: 291f.

[3] Ibid.: 292.

[4] Afery & Anderson 2005: 155.

[5] Crompton 1985: 239.