Der Sommer als Joe Strummer kam

Rainer Krispel präsentiert einen On 45 / Punky-MIX von seinem Debütroman

Das Bayerische Fernsehen war damals in Linz in vielen Haushalten ganz ohne technische Hilfsmittel zu empfangen, es war in dieser Stadt mehr Tor zur Welt, als es die beiden Fernsehprogramme des Österreichischen Rundfunks je sein hätten können. Diese bildeten ein Grau und eine Beschränktheit ab, eine Enge und Gleichförmigkeit, die vor der Haustür ohnehin in deprimierendem Überfluss vorhanden waren.
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»No Elvis, Beatles or the Rolling Stones«, schrien es die Clash mit »1977«, einem ihrer allerersten Songs in einer Minute und 39 Sekunden programmatisch hinaus. Klassisch großmäuliges Reinen-Tisch-Machen, während unter dem Tisch ganz andere Sachen weiterlaufen. Schließlich liebte Joe Strummer seinen Elvis und die Stones, Gitarrist Mick Jones war sowieso ein begnadeter Keith Richards-Clone on the uprise. Punk war überhaupt die große Kunst des Widersprüchlichen, der Gegen-Rock’n’Roll, der zum besseren Rock’n’Roll wurde, eine nihilistische und hedonistische Kulturrevolution, die fast widerstrebend eine Menge Sinn stiftete.
Gustav liebte den PIL-Song »Rise«, mit dieser sich wiederholenden und tief ins Hirn bohrenden Zeile »anger is an energy«. Die sich John Lydon, vormals Johnny Rotten, auf die durchdringende Stimme geschrieben hatte. Bei einem einsamen, lange unbesuchten sonntäglichen Bardienst in der Kapu, dem zentralen Hangout der Linzer Punk- und Hardcoregemeinde mit der meditativen Konsumation von Freistädter Bier und selbst zubereitetem Kapu-Toast mit extra viel Käse, eingetaucht in ein Meer von Ketchup, beschäftigt, hörte er den Song zwanzigmal am Stück, immer wieder. Eine kleine persönliche Konzentrationsübung in massivem Zweifel – »I could be wrong, I could be right, I could be black, I could be white« – angehäuftem Ärger, maßlosem Zorn und grenzenloser Wut, die sich dann, einmal geäußert zu etwas ganz anderem aufschwangen. »Anger is an energy« sang ihm Lydon wieder vor. Der Refrain brachte mit »may the road rise with you« fast hippieske Hoffnung auf den Weg, wohin auch immer. Klar hatte sein eigenes Punkersein mit Zorn und Wut zu tun, mit ganz großen Mengen davon. Echten Großpackungen davon, immer wieder auf und über sich selbst, durchwirkt mit blankem, entfesselten Hass auf alles und jeden. Ganz oft mit so grundlegendem Zweifel an just about everything, dass selbst der Versuch den Toast ins Ketchup zu tauchen völlig aussichtslos erschien und das Scheitern oder Gelingen dieser banalen Übung von existentieller Bedeutung. Und die ganzen verdammten Lügen überall. »Your written word is a lie.« In solchen Befindlichkeiten war es gut für Gustav, sich als Punk zu fühlen, zu verstehen. Um Punk zu sein brauchst du keine Qualifikation, keine Befugnis, es galt keine verfluchten Prüfungen abzulegen, kein Zeugnis vorzuweisen. Niemand, der dir vorschreiben kann, wie du als Punk zu sein oder dich zu verhalten hast, wie du als Punk auszusehen hast, was du als Punk wie zu tun hast. Am Anfang einer Tapecompilation, die Gustav oft spielte, war vor der Musik ein kurzes Statement zu hören. Eine sympathische, aufgeweckte Stimme, von der er nie herausfinden sollte, wem sie gehörte, meinte: »Du musst nichts tun, du musst nur sagen, ich bin Punk.« Gustav war Punk, seit Jahren, durch diesen einen Satz, geäußert im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte oder dem, was er dafür halten musste, war er ganz ohne Mitgliedsbeitrag und ohne dafür einen Ausweis zu benötigen der internationalistischen globalen Bewegung der Punx beigetreten.
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Schließlich ging es hier um das Melkweg, einen Ort, an dem schon seit Jahrzehnten Konzerte in einem subkulturellen Mekka und Brennpunkt wie Amsterdam stattfanden. Das war nicht das Volkshaus Dornach! Dort hatte sich die junge ÖVP eingemietet, um einen Gig mit einer Linzer Band und den Chuzpe aus Wien zu veranstalten. Dort waren sie zwar erst entschlossen und vielköpfig ohne zu bezahlen an der Kassa vorbeigestürmt, als daraufhin ein JungÖVPler vom Kassenpersonal mit einer Gaspistole in die Luft schoss,wurde die Sache aber recht unlustig. Ihren geballten Unmut bekam danach die Linzer Band zu spüren. Deren langweiliger Sound schürte ihn zusätzlich, den Gitarristen traf ein Papierflieger im Auge, worauf er mit seinen Kollegen erbost die Bühne räumte und der Umbau für die Chuzpe beginnen konnte. Provinz-Punk.
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Es war einfach grandios, eine absurd schnelle Abfolge von Songs, unsterbliche Hymnen eines alternativen Universums, die in reduziertester Form das ganze verdammte Menschheitsdrama enthielten. Ein bratzendes, dampfendes, schweißtreibendes Punkfest. Ein wohlgeordnetes Rock’n’Roll- Chaos aus Sound, Rhythmus, Licht, Bewegungen und Emotionen. Ein Wirbel von Kopf und Unterleib, dessen zwingende Logik jeden erfasste und durchschüttelte, dann verändert wieder entließ. Die Ramones waren eine Band, die mit jedem Jahr ihrer Existenz schneller wurde, gegründet 1974 waren sie jetzt im Jahr 1986 schon verdammt flott unterwegs. Sie veranstalteten diese begnadete Raserei mit einer großen kollektiven Konzentration, die in dieser August-Nacht ihre mahlstromartige Wirkung nicht verfehlte. Es mag bei »Somebody Put Something In My Drink« gewesen sein, als Gustav etwas auf der Schulter spürte, durch das ganze Tosen um ihn herum hindurch. Es war Johann, der ihn antippte und ihm ein Bier im Becher hinhielt. Sie konnten sich gerade noch zuprosten, dann wurden sie von der wild tanzenden Menge in verschiedene Richtungen mitgerissen.
Das Set der Ramones neigte sich dem Ende zu, ein Roadie in einem Pinhead-Kostüm kam auf die Bühne, um dem schon völlig entgrenzten Publikum auf einem Transparent den Schlachtruf der Band zum Mitlesen entgegenzuhalten. Als ob das notwenig gewesen wäre, sie alle kannten in by heart. Mehrere hundert Menschen, längst in kleine, zuckende und schwitzende Glückskekse transformiert, bis in die Haar- und Fingerspitzen aufgeladen mit einer noch weitgehend unerforschten Energie, griffen ihn wie besessen auf. Sie alle sangen die Zeile, mit der »Pinhead« zu Ende geht: »Gabba Gabba Hey!«
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Ein junger Punk wie Gustav musste das Exploited-Livealbum »On Stage« einfach haben. Alle zwei Tage schleppte er sich deswegen zum »Wahn & Sinn«, wo er die Platte bestellt hatte, nur um frustriert ohne die Platte wieder abzuziehen. Eines Tages wartete er vor dem verschlossenen Geschäft, als ein Polizist vorbeikam und sagte »Ausweis!«. Gustav sah sicher brandgefährlich aus, mit seiner Lederjacke und den aufgestellten Haaren, mit seinem Infa Riot-Leiberl, dessen knallbunter Totenschädel mit Iro den wachsamen Exekutivbeamten wahrscheinlich auf den Plan gerufen hatte. Verdächtig! Gustav zückte sein einziges Ausweispapier, einen gelben Schülerausweis der Linzer ESG, der ihn berechtigte, kostenlos mit den O-Bus Linien 41, 42 und 43 von und zu seiner Schule zu fahren. Der Uniformierte prüfte den Ausweis eingehend. »Was machen Sie hier?« Immerhin sagte er »Sie«. »Ich warte darauf, dass die Zeitbombe detoniert, die ich in diesem Geschäft angebracht habe und die demnächst in die Luft gehen wird. Die damit einen nachhaltigen Beitrag zu Unfrieden und Gewalt in dieser scheintoten Stadt leistet, wodurch Menschen wie Sie endlich wirklich etwas zu tun haben, wozu Sie persönlich aber nicht mehr kommen werden, weil ich Sie jetzt mit meiner geschickt hinter meinem Rücken versteckten Machete in kleine wohlproportionierte Polizistenstückchen zerlegen werde.« Leider sagte Gustav das nicht, sondern das naheliegende. »Ich warte darauf, dass dieses Geschäft aufsperrt.« »Aha«, sagte der Polizist, gab ihm den Schülerausweis zurück und zog langsam ab. In diesem »Aha!« lag der ganze Generalverdacht, mit dem Polizeiangehörige wohl die Vorgänge in dieser Welt belegen.

Rainer Krispel, Ex-Sänger/Texter der Linzer Punk/Hardcore-Bands Target Of Demand und Seven Sioux liest am 8. September in der Stadtwerkstatt aus seinem ersten Roman, DER SOMMER ALS JOE STRUMMER KAM, die Geschichte des Linzer Punx Gustav, als Buch im Juni 2012 erschienen bei der edition kürbis (www.kuerbis.at). Scott McCloud, in Wien lebender Sänger und Gitarrist von Paramount Styles und Ex-Mitglied von New Wet Kojak/Girls Against Boys/Soulside wird flankierend eigene Songs und Neuinterpretationen von klassischen Punk/Hc-Stücken spielen und singen.