Die Hitze, die Steckerlfische und die Wahlen

oder: Der verborgene Modus der Demokratie

Groll war mit dem Dozenten in der Wachau unterwegs. Auf einem Rastplatz am Nordufer der Donau hatten sie Rast gemacht. Groll zerteilte einen Steckerlfisch und reichte seinem Freund ein Stück Fisch auf einer halben Semmel.
»Woher der Fisch wohl kommt?« fragte der Dozent.
»Woher kommen Makrelen?« fragte Groll zurück.
»Aus dem Atlantik, dem Pazifik, was weiß ich. Ich bin kein Ichthyologe.«
Groll hatte die Makrele auf dem Butterpapier zerlegt.
»Was ist das?« fragte er.
»Ein Fischkundler.«
»Bravo, Sie haben gut aufgepaßt im Theresianum. Wollen Sie kosten?«
»Wenn Sie so freundlich sind … sehr gern, ja.«
 »Obacht auf die Gräten«, sagte er. »Man kriegt nie alle raus.«
Der Dozent prüfte ein Stück Fisch zwischen den Zähnen, schluckte den Bissen hinunter und lächelte. Groll ordnete das ausgelöste Fleisch in zwei Kolonnen an. »Nicht so hastig«, warnte er. »Der Verzehr von Steckerlfischen ist eine Frage der inneren Disziplin. Bei Rohrendorf befindet sich ein Massengrab, dort liegen nur Opfer von Steckerlfischen.«
»An den Gräten erstickt?« fragte der Dozent kauend.
»Nein, am Dieselöl. Die Fische waren aus der Donau.«
Der Dozent ließ sich nicht beirren und aß weiter. Längst hatte Groll auch die Semmel geteilt. Plötzlich hielt der Dozent inne, sah Groll scharf an und sprach: »Daß Meeresfische am Oberlauf der Donau gegrillt werden, ist eine himmelschreiende Vergeudung von Ressourcen und vom Standpunkt der Ökologie ist es der reine Irrsinn.«
Er teile diese Auffassung, erwiderte Groll. Wenn man keine Fische habe, sollte man besser Erdäpfel grillen, am Ufer der Donau munde jede Speise. Der Dozent zeigte sich erfreut, setzte aber dann hinzu: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie mich nicht andauernd wegen meiner Schulzeit im Theresianum hänseln würden. Ich verspüre kein Bedürfnis, mich dafür zu genieren.«
»Sollten Sie aber«, meinte Groll und führte ein großes Stück Fisch an den Mund. »Den Absolventen des Theresianums steht die ganze Welt offen, jenen der Provinzschulen nicht einmal die halbe. Es ist der Gegensatz von Wahlfreiheit und keine Wahl haben.«
Der Dozent lehnte sich zurück und seufzte. »Sie übertreiben. Wie immer. Ich werde mich aber darüber nicht mit Ihnen zerstreiten, nicht an diesem denkwürdigen Tag, an dem die Mauterner Donaubrücke infolge eines Hitzeschadens gesperrt wurde. Wenn Sie aber schon von Wahlen sprechen. Wie denken Sie über den kommenden Urnengang?«
Groll schob eine große, lange Gräte zur Seite. »Ich denke, es wird ein Urnengang, im Sinne des Wortes«, entgegnete er.
»Keine Spitzfindigkeiten«, rief der Dozent und winkte mit beiden Händen ab. »Heraus mit Ihrer Meinung, Sie Flußdemokrat!«
»Die Donau ist ein Strom und kein Fluß«, korrigierte Groll. Verehrter Dozent, Sie kennen doch den Sponti-Spruch: Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.«
Der Dozent nickte.
»Der Spruch ist nicht falsch, er greift nur nicht weit genug. In den politischen Wissenschaften gibt es den Begriff des ‚tiefen Staates‘, der meist auf die Türkei angewandt wird, es gibt aber auch die Begriffe ‚Versäultheit‘ (in den Niederlanden) oder ‚Neokorporatismus‘ (in Deutschland und England) …«
»Oder ‚Sozialpartnerschaft‘ in Österreich«, unterbrach der Dozent.
»Einverstanden«, sagte Groll. »Gemeint ist jeweils dasselbe Phänomen. In den Staaten Europas bildeten sich meist schon vor dem Ersten Weltkrieg tief gegliederte gesellschaftliche Machtsysteme, die so gefestigt waren, daß sie sich in einem formal-demokratischen Modus Wahlen stellen
konnten, ohne eine Gefährdung der Herrschaft befürchten zu müssen. Antonio Gramsci hat darauf als erster Bezug genommen, er erweiterte den Staatsbegriff und sprach von einem ‚Historischen Block an der Macht‘, dem ein tiefgestaffeltes Sicherheit- und Hegemoniesystem zur Verfügung steht – von der Kirche, den Kultur- und Brauchtumsvereinen über ständische Organisationen, dem Bildungssystem, den Medienkonzernen über die Parteien bis hin zum ‚klassischen‘ engen Repressionsstaat mit Geheimdiensten, Polizei und Militär. Zweck all dieser staatlichen Apparate ist es, auf dem jeweilig erforderlichen Niveau Zustimmung und Hegemonie zu organisieren und im Notfall zu erzwingen. Der ‚tiefe Staat‘ wurde geschaffen, um der Gefahr, die durch eine vom Proletariat losgetretene Revolution ausging, zu bannen und er war dabei höchst erfolgreich. Die einzigen Revolutionen, die sich in Europa für einige Zeit halten konnten, waren Produkte des Zweiten Weltkriegs und der Roten Armee.
So gefestigt der ‚tiefe Staat‘ gegen links ist, so offen ist er nach rechts. Auch rechtsextreme und faschistische Parteien profitieren von ihm, ihr Ziel ist ja nicht der Umsturz der Machtverhältnisse, sondern deren Sicherung mit den Mitteln von Diktatur und Terror.
Auch in Österreich gibt es einen ‚tiefen Staat‘, er gruppiert sich um einen konservativen (Raiffeisen, Kirche, Großindustrie, Wirtschaftskammer, rechte Medienkonzerne, ORF*) und einen Block der ehemaligen Arbeiterbewegung (die Stadt Wien und ihr Wirtschaftskonglomerat, Boulevardzeitungen, sowie der ÖGB, der spätestens nach seinem Bankrott (die BAWAG war der Streikfonds!) eine gelbe Unternehmergewerkschaft geworden ist, die regelmäßig von der OECD wegen der sinkenden Kaufkraft der Bevölkerung infolge zu niedriger Lohnerhöhungen kritisiert wird. Die Prozesse um Telekom, BAWAG und BUWOG sind ein wunderbares Anschauungsmaterial für diesen
‚tiefen Staat‘.«
Der Dozent nickte. Groll fuhr fort: »Die beiden bilden einen kapitalistischen Doppelblock an der Macht, eine Reminiszenz an den Doppeladler der Habsburgzeit. Daß in diesem Setting Wahlen von untergeordneter Bedeutung sind, liegt auf der Hand. Meist geht es nur um Verschiebungen innerhalb einzelner Kapitalfraktionen und deren politischen Parteihüllen. Wenn Sie die einzelnen Parteien in die beiden Blöcke einordnen, werden Sie sehen, daß der rechte Block eine stabile Mehrheit hat, wenn Sie die Wahlen seit 1918 betrachten, werden sie weiters sehen, daß die beiden Blöcke, prozentmäßig weitgehend unverändert – mit einem Überhang des rechten Teils –  stabil geblieben sind. Solange er regiere, werde rechts regiert, sagte Kreisky einst, und er wußte was er sagte. Es gibt in Österreich keine linke Mehrheit. Nicht zuletzt deswegen, weil ÖGB und SPÖ allen Beteuerungen zum Trotz sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser.«
»Ein abgeklärter Standpunkt«, meinte der Dozent und nahm das letzte Stück Fisch.
»Er gewinnt an Bedeutung, wenn man ein zweites Moment berücksichtigt«, erwiderte Groll. Er bitte um Aufklärung, sagte der Dozent. Groll setzte sich zurecht.
»Verehrter Freund! Ein wenig beachtetes Ergebnis der modernen Wahlforschung zeigt, daß es bei Wahlen immer auch um einen Verpflichtungs- und Unterwerfungsakt geht. Bei der Stimmabgabe verpflichtet sich die Wählerin, der Wähler, einer bestimmten Partei, eventuell einer bestimmten Person. Da kaum jemand vor sich selber als Dummkopf dastehen will, muß dem Wahlakt daher eine gewisse subjektive Bedeutung beigemessen werden. Bei der übergroßen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler erfährt die Stimmabgabe solcherart eine nachträgliche Rationalisierung, die mit einer Verpflichtung bis hin zu einer nachhaltigen Loyalität einhergeht. Indem ich meine wertvolle Stimme (immerhin hab ich nur eine und das nur alle fünf Jahre) jemandem als Leihgabe überantworte, werte ich diese Partei auf und weil ich im Akt des Wählens gar nicht anders kann als sie aufzuwerten, erwarte ich mir von der solcherart erhöhten Partei zumindest ein ideelles Gegengeschenk. Meine Stimme adelt die Partei und sie revanchiert sich mit einer phantasierten gesellschaftlichen Erhöhung meiner durchschnittlichen Person. Jeder will zu den Gewinnern zählen, die siegreiche Partei gießt die Strahlen der Gloriole über ihre Wähler. Zählt man zu den Verlierern, reagiert man mit Trotz, dann sind die ‚anderen‘ die Idioten, denn sie haben ‚falsch‘ gewählt. Entscheidend bleibt: Beide Positionen schweißen Wähler und Gewählte für eine gewisse Zeit zusammen.
Schaut man auf die realen Machtverhältnisse des ‚tiefen Staats‘, spielen Wahlen kaum eine Rolle. Betrachtet man aber das zweite Moment, die Interaktion von Wähler und Gewählten, von personaler Verpflichtung und ideeller Entlohnung, sind Wahlen bedeutsam – sie produzieren Zustimmung zum System, sie sind Bausteine zur Herausbildung und Bestätigung von Hegemonie. Dazu kommt noch wie überall im politischen Geschäft ein gewisser Folklore- und Unterhaltungsfaktor.«
Er danke für die Aufklärung und werde diese Erkenntnisse bei seinem Urnengang beherzigen, sagte der Dozent. Nun aber bitte er um Entschuldigung. Mit diesen Worten erhob er sich, ging zum Grillstand und bestellte einen weiteren Steckerlfisch.

*) Team Stronach, FPÖ, BZÖ, Neos und die wirtschaftsaffinen Teile der Grünen zählen ebenso dazu, die Piraten haben es nicht einmal soweit gebracht